Ein langer, unruhiger Fluss

Wie viel Wasser wird noch durch den Bosporus fließen, wie viele Schiffe werden ihn befahren, bevor mit der Türkei Verhandlungen über einen Beitritt aufgenommen werden können?
In den vergangenen Tagen fand in Istanbul das 50. Treffen des Gemischten Parlamentarischen Ausschusses EU-Türkei statt. Grund genug, an diesem Treffen teilzunehmen.
Im Ausschuss selbst bin ich nur Ersatzmitglied, aber als Sprecher meiner Fraktion für die Türkei-Problematik und aus eigener Überzeugung, beschäftige ich mich mit der Türkei immer wieder intensiv. Sowohl bei den Gesprächen mit unseren Kollegen – derzeit sind auf türkischer Seite keine Frauen im Ausschuss – als auch beim Treffen mit Außenminister Abdullah Gül war ein deutlicher Wandel des politischen Klimas und der Sprache in der Türkei zu bemerken.

Reformpaket Nr. 6

Die neue Mehrheit im Parlament und die sich darauf stützende Regierung unter Ministerpräsident Erdogan hatten schon etliche Reformpläne gesetzt, und ein neues Reformpaket (Nr. 6) soll noch vor dem Sommer beschlossen werden – von der Beseitigung der Strafbarkeit für Gesinnungsdelikte (Medienbeiträge, etc.) bis zur Gestattung der Verwendung der kurdischen Sprache in privaten Medien.
Grundsätzlich hapert es aber nach wie vor an der Umsetzung der beschlossenen Gesetze. Demnach sollte bereits im staatlichen Radio und Fernsehen die kurdische Sprache verwendet werden. Aber es geschieht einfach nicht. Vor wenigen Tagen hat sogar das staatliche Fernsehen Klage gegen die relevanten Gesetzesbestimmungen erhoben, weil sie ihren Statuten widersprachen. Diese Resistenz gegen die Umsetzung hängt auch damit zusammen, dass das Militär in vielen gesellschaftlichen Institutionen nach wie vor stark vertreten ist. Auch das soll durch das 6. Reformpaket geändert werden. Das zentrale Problem, die Umgestaltung des sehr mächtigen Nationalen Sicherheitsrates, soll allerdings erst bei einem der nächsten Pakete angegangen werden.
Bisher hat das Militär auf die verschiedenen Reformschritte sehr zwiespältig reagiert. Einige können sich bereits einen vorsichtigen und schrittweisen Rückzug aus dem normalen staatlichen und politischen Geschehen vorstellen, andere dagegen noch nicht. Und einige scheinen die neue Politik gar zu torpedieren, etwa durch massive Verletzung des griechischen Luftraumes.

Sind Verhandlungen realistisch?

Wie viel Wasser wird noch durch den Bosporus fließen, wie viele Schiffe werden ihn befahren, bevor mit der Türkei Verhandlungen über einen Beitritt aufgenommen werden können? Allerdings muss man auch zugeben, dass auch wir selbst nach den jüngsten Beitritten unser europäisches Haus vorerst stärken müssen, um den Beitritt eines so großen Landes verkraften zu können. Vor allem für die kleinen Länder könnte sich nämlich das Gleichgewicht der Macht in der EU durch den Beitritt eines weiteren großen Staates schmerzhaft verschieben. Aber das ändert nichts an unserer Aufgabe, der Türkei schon in unserem eigenen Interesse zu helfen, sich zu modernisieren und zu demokratisieren.

Ehrlich miteinander sein!

Dazu möchte ich ausnahmsweise einen Politiker zitieren, mit dem ich oft nicht übereinstimmen kann, nämlich Helmut Kohl: „Ich war immer ein Sympathisant und Freund der Türkei, und das wird sich nicht ändern. Die Türkei ist ein wichtiges Land und vor allem ein Land mit großer Zukunft. Ein Land mit einem sehr niedrigen Durchnittsalter, mit einer fleißigen, kenntnisreichen, dynamischen Bevölkerung, die in wenigen Jahren 80 Millionen und bald darauf 100 Millionen erreichen wird. Man muss alles tun, um der Türkei zu helfen, dass sie so nah wie möglich an die Untergrenze des Beitritts zur Europäischen Union kommt. Aber ich habe auch immer gesagt – manche amerikanischen Freunde wollen das nicht hören -, dass die Grundprinzipien des Kopenhagener Abkommens – ich nenne nur die Menschen- und Bürgerrechte sowie die Religionsfreiheit -, auch bei jedem neuen Mitglied gelten müssen. Es ist aber allein Sache der Türkei, wie sie die Prinzipien erfüllen wird. Deswegen bin ich dafür, den Türken keine kurzfristigen Versprechungen zu machen, sondern ehrlich miteinander umzugehen. Ich plädiere leidenschaftlich dafür, alles zu tun, die Türkei so nah wie möglich an die EU heranzuführen, aber mit der klaren Maßgabe, dass ein Beitritt zur EU nur möglich ist, wenn alle grundsätzlichen Voraussetzungen erfüllt sind.“
Istanbul, 16.6.2003