Ein neues Jahr hat begonnen

Das neue Jahr wird für Österreich selbst, aber auch für unsere Rolle in der EU eine Reihe von wichtigen Entscheidungen bringen. 
Wenn man den Medien glauben darf, hat ein neues Jahrtausend, zumindest ein neues Jahrhundert begonnen. Bleiben wir korrekt und pragmatisch: Ein neues Jahr hat begonnen, das für Österreich selbst, aber auch für unsere Rolle in der EU eine Reihe von wichtigen Entscheidungen bringen wird, die wir hoffentlich mit guter Vorbereitung und gründlicher Überlegung treffen bzw. beeinflussen werden.

Ich möchte mich im Zusammenhang mit meinen Briefen auf die Europapolitik beschränken. Nachdem der Rat in Helsinki aufgrund der Vorschläge der EU-Kommission beschlossen hat, mit allen Beitrittskandidaten – außer der Türkei – Verhandlungen zu führen, ist der Beitrittsprozeß in ein neues Stadium getreten. Es muß jetzt nicht unbedingt rascher gehen – bei Verhandlungen mit mehreren Ländern bei gleichbleibender Kapazität der Kommission mag es sogar langsamer gehen – aber manche Grundsatzentscheidungen sind bald zu treffen und dies sollte Österreich zur Entwicklung einer konkreten Beitrittsstrategie animieren. Die zwei dringendsten Problemkreise, für die es konkrete, ich wiederhole konkrete Vorstellungen und Vorschläge zu entwickeln gilt, sind die Freizügigkeit im Arbeitnehmer- und Dienstleistungssekor sowie der Verkehrssektor.

Entspannung auf dem Arbeitsmarkt

Die Probleme, die spezifisch Österreich (und Deutschland) mit der Freizügigkeit insbesondere in Bezug auf seine Nachbarländer haben könnte, konnten wir unseren Partnerländern in und außerhalb der EU noch nicht ausreichend vermitteln. Neben den Vermittlungsaufgaben geht es nun aber auch darum, realistische Vorschläge für Übergangslösungen vorzulegen. Dabei dürfte uns die demographische Entwicklung ohnedies entgegenkommen. Denn gegen Ende des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts, spätestens 2015, wird die auf dem Arbeitsmarkt auftretende Bevölkerungsgruppe sinken und so das Verhältnis von Angebot und Nachfrage nach Arbeitsplätzen entspannen. Vielleicht sind dann sogar zusätzliche Arbeitskräfte gefragt. Ich will das Problem der Freizügigkeit keineswegs verharmlosen – es sollte aber auch nicht dramatisiert werden. Notwendig sind Vorschläge zu einer behutsamen und stufenweisen Öffnung der Arbeitsmärkte!

Auch auf dem Verkehrssektor müssen wir unsere Hausaufgaben erledigen. Auch diesbezüglich müssen wir stärker und offensiver vermitteln, daß es uns nicht nur um eine Sonderbehandlung für Österreich als Transitland geht, sondern auch um einen Beitrag zu einer ökologisch orientierten Gesamtlösung in Europa. Nicht nur in unserem Land sind die LKW-Kolonnen auf den Autobahnen – und darüber hinaus – unerträglich geworden. Es geht also nicht um Privilegien für Österreich, sondern um spezifische Lösungen im Rahmen bzw. unter Vorwegnahme einer ökologischen Gesamtlösung in Europa.

Zusammenarbeit mit den „Kleinen“

Ich hoffe grundsätzlich, daß die neue Regierung Österreich noch stärker in der EU positionieren wird als dies bisher geschehen ist. Dabei ist die Zusammenarbeit mit kleinen Ländern, insbesondere mit den mit uns gleichzeitig beigetretenen, wichtig. Die Erweiterung, die voraussichtlich zur Mitte des ersten Jahrzehnts in einem ersten Schritt erfolgen wird, wird das Gleichgewicht innerhalb der EU verändern. Neue politische Schwerpunkte, neue Personen und neue Ansprüche werden zu berücksichtigen sein.

Deshalb müssen wir gerade in den kommenden Jahren unsere politischen Schwerpunkte (z.B. Umwelt, Friedenspolitik, etc.) und unsere ExpertInnen (z.B. die MitarbeiterInnen in der EU-Kommission) sowie unsere Ansprüche (z.B. die Positionierung von EU-Institutionen wie TINA auf dem Verkehrssektor in Österreich) fester vertreten und verankern. Wenn neue und zum Teil größere Länder wie Polen in die EU kommen, dürfen wir mit unseren Anliegen zwischen den alteingesessenen und den neuen Mitgliedern nicht auf der Strecke bleiben.

Da wir jedenfalls in einer ähnlichen Lage wie Schweden und Finnland sind, ist die Kooperation und Abstimmung mit diesen beiden Staaten besonders wichtig.

Das sollte auch für die Außen- und Sicherheitspolitik gelten. Alle drei neu Eingetretenen haben sich, ob sie sich als neutral oder paktungebunden bezeichnen, bewegt. Was in Helsinki beschlossen wurde, war vor wenigen Jahren noch undenkbar. Niemand kann uns also sicherheitspolitische Obstruktionspolitik, Abstinenz oder Isolationismus vorhalten. Aber nichts zwingt uns zu einer voreiligen NATO-Mitgliedschaft, die die Solidarität mit unseren nördlichen Partnern brechen würde.

Stabilitätspakt für Süd-Ost Europa

Ein letzter Schwerpunkt der österreichischen EU-Politik, den ich in diesem Zusammenhang behandeln möchte, betrifft Süd-Ost Europa. Hier sollten wir besondere Initiativen setzen, um dem Stabilitätspakt Effizienz zu verleihen. Neben vielen Dingen scheinen mir nicht zuletzt aufgrund meiner mehrmaligen Reisen in diese Region drei Initiativen besonders angebracht: ein verstärkter Kampf gegen die Korruption, die Unterstützung der neuen Regierung und die Einbeziehung Jugoslawiens in den Wiederaufbau.

Korruption und mafiöse Verhaltensweisen sind in unserer Welt weit verbreitet, aber in Teilen Süd-Ost Europas nehmen sie verheerende Ausmaße an. Ohne wirksame politische, wirtschaftliche und soziale Bekämpfung der Korruption ist keine nachhaltige Entwicklung möglich. Die Gelder öffentlicher und privater Spender verpuffen und kommen in die falschen Kanäle. Das ist nicht zu rechtfertigen. Ein wirksamer, entschlossener und nicht nur gesetzlich beschlossener Kampf gegen die Korruption ist die Voraussetzung für die Hilfe zum Wiederaufbau.

Kroatien hat eine neue Regierung. Sie wird es nicht leicht haben und nicht alles wird dem Westen gefallen. Ich kenne den neuen Regierungschef Racan gut und schätze ihn sehr. Aber nach vielen Jahren Tudjmann und extremem Nationalismus ist eine neue Politik schwierig zu gestalten. Racan und sein Team brauchen daher viel Ermunterung und Unterstützung, um ihre Aufgaben zu meistern.

Das schwierigste Problem stellt sicherlich Jugoslawien dar. Viel wurde versucht, um das Regime zu Fall zu bringen – bisher ist nichts davon gelungen. Es gilt ernsthaft zu überlegen, die Sanktionen, die die Bevölkerung nur enger an das Regime geschmiedet hat, zu lockern oder aufzuheben, die führenden Vertreter des Regimes aber noch stärker zu isolieren (Ausreiseverbot etc.). Ich glaube, Österreich sollte stärker auf Konzepte drängen, die einen Keil zwischen Bevölkerung und Regime drängen können.

Durchsetzung sozialer Regeln

Natürlich wollte ich mit diesen Bemerkungen keine vollständige Aufzählung unserer EU-Schwerpunkte vollbringen. Vor allem bleibt weiterhin die große Aufgabe bestehen, die EU und ihre Politik noch mehr der Vollbeschäftigung und der sozialen Rahmensetzung für die globalen Entwicklungen zu verpflichten. Allerdings – während neue Konservative und Liberale blindlings dem „freien“ Kapitalismus nachlaufen, hat Chirac vorgeschlagen, die Sozialpartnerschaft stärker mit der französischen Verfassung zu verankern.
Manche sollten sich bei uns daran ein Beispiel nehmen. Ich spreche nicht für eine Versteinerung von tradierten Systemen, aber gerade Europa muß soziale Regeln entwerfen und durchsetzen, um den wilden und unverantwortlichen Spekulationen des heutigen Kapitalismus Schranken zu setzen. Konzerne wie Vodofone und Mannesmann geben Milliarden Euro aus – nicht, um neue produktive Investitionen zu tätigen, sondern um eine Unternehmensübernahme durchzusetzen bzw. abzuwehren.

Soweit zum produktiven Kapitalismus, wie wir ihn heute erleben. Österreich allein kann dabei nur zusehen. Europa könnte – wenn es will – mitgestalten – hoffentlich im positiven, produktiven Sinn!

Wien, 2.1.2000