Ein neues Parlamentsjahr hat begonnen

Die Grundrechtscharta für Europas Bürgerinnen und die für die EU-Erweiterung notwendige Institutionenreform bilden die Schwerpunkte des soeben begonnenen Arbeitsjahres. 
Es ist der Beginn einer schönen, ungewöhnlich trockenen Spätsommerwoche. Ich erlebe das schöne Wetter allerdings nur für die kurze Zeitspanne, die der Weg von meiner Brüsseler Wohnung ins Parlamentsgebäude dauert. Trotzdem macht der blaue Himmel den Einstieg in den Alltag nach der Sommerpause ein bisschen leichter.
Am Beginn unserer Arbeit steht die so genannte Fraktionswoche. In einer gemeinsamen Sitzung des Vorstandes und der Koordinatoren der Fraktion werden wir die politischen und organisatorischen Bedingungen unserer Arbeit diskutieren.

Vormarsch der Rechten

Politisch befinden wir uns in Europa derzeit in einer sehr kritischen Situation, da in vielen Ländern die Konservativen Zuwachs bekommen und insbesondere nationalistische, teilweise rassistische und terroristische Strömungen das politische Tagesgeschehen beherrschen oder zumindest beeinflussen. Die Debatten in Österreich, vor allem die immer währenden Attacken seitens der FPÖ, zuletzt etwa gegen den bisher gemeinsamen Regierungsbeauftragten zur Osterweiterung, Erhard Busek, sind ein trauriges Beispiel dafür. Genauso wie die Entwicklungen in Italien oder die unfassbaren Attentate der Rechtsextremen gegen AusländerInnen in Deutschland. Auch der Terrorismus der extremen baskischen Nationalisten kann in dieses politische Spektrum eingereiht werden, selbst wenn seine Ursprünge prinzipiell auf der linken Seite angesiedelt sind – diese Art des extremen nationalistischen Terrorismus hat mit links sicher nichts mehr zu tun.
Diese politische Situation beschäftigt uns im Europäischen Parlament und bildet den Hintergrund für die Ausarbeitung einer Grundrechtscharta für Europas BürgerInnen. Ausserdem gilt es, die notwendigen institutionellen Reformen einzuleiten, um die Union erweiterungsfähig zu machen – viele neue Regelungen, die Europa zusammen bringen sollen, müssen geschaffen werden.
Die aktuelle politische Entwicklung nach rechts hin zum Nationalismus und die Angst vieler Menschen vor der von uns angestrebten Überwindung der nationalen Grenzen innerhalb Europas sind für mich ein Signal dafür, dass wir es zu wenig verstehen zu vermitteln, worum es in diesem Europa eigentlich geht. Wahrscheinlich ist dieser Umstand ausschlaggebend für die gegenwärtige politische Situation. Wir müssen uns deshalb noch mehr als bisher bemühen, dem Rückwärtsdenken, dem Konzept der Nationalisten, die eine nicht näher definierte, aber emotional bzw. emotionalisierte Identität bewahren und verteidigen wollen, die Heimat Europa gegenüberstellen. Eine Heimat, in der wir die internationalen, globalen Bedingungen mitbestimmen können. Wir wollen Politik gestalten – allerdings keine Politik als Verteidigung der Nationalismen. Politik ist für uns ein Element der aktiven Gestaltung der internationalen Rahmenbedingungen.

Reform des Parlamentarismus

Bei den politischen Diskussionen geht es in diesen Tagen auch um die Reform des Parlamentarismus. Ich habe das Ergebnis eines von mir geleiteten Arbeitskreises der Fraktion zur Parlamentsreform vorgetragen. Es ist nicht leicht, dem Parlamentarismus auf europäischer Ebene mehr Spannung und dadurch auch mehr Öffentlichkeit zu verleihen. Das Europäische Parlament ist eine Institution, die sich nicht dem demagogischen Hickhack widmet, sondern um Lösungen ringt – und dabei durchaus unterschiedliche ideologische Konzepte berücksichtigt, wenn ich etwa an die Marktderegulierung oder die Regulierung des Marktes denke.
Die Ausformung eines neuen Parlaments, die von Skepsis und Distanz gegenüber Europa, Brüssel oder Strassburg begleitet ist, stellt uns also vor eine weitere politische Herausforderung. So manch „unnotwendiges“, nicht so zentrales Thema sollte künftig in den Ausschüssen erledigt werden, um dem Parlamentsplenum die Möglichkeit zu geben, sich auf die wirklichen Schwerpunkte und eine stärkere Diskussion mit der Kommission und dem Rat zu konzentrieren. Und so manche Routine sollte reduziert werden, um dem Parlament stärkere Aufmerksamkeit zu verleihen. Leicht wird es nicht sein, diese Schritte umzusetzen. Natürlich darf man das Parlament auch keinesfalls so gestalten, dass sich nur die ersten Reihen an einer Debatte beteiligen können. Auch und gerade die „Hinterbänkler“ müssen eine Chance bekommen, sich in diesem Parlament zu artikulieren. Das ist für ihr Selbstwertgefühl, ihre Selbsteinschätzung, aber natürlich auch für den Bericht zu Hause in den Wahlkreisen durchaus wichtig.

Familienzusammenführung

In der Sitzung des Vorstandes der gesamten Fraktion wurden schließlich auch verschiedene Vorlagen, die wir in der kommenden Woche in der Plenarsitzung in Strassburg behandeln werden, diskutiert. Ich möchte hier nur eine erwähnen: die Regelung, die die Familienzusammenführung für legale im Ausland, d.h. in der EU, befindliche Ausländer regeln soll. Das ist natürlich ein heiß umstrittenes Thema zwischen den verschiedenen Fraktionen, wobei wir Sozialdemokraten eher mit den Liberalen und Grünen als mit den Konservativen auf einer Linie liegen.
In dieser Frage geht es nicht nur um ideologische, sondern natürlich auch um praktische Fragen. Wie ist eine Familienzusammenführung ohne große Schwierigkeiten umsetzbar? Geht es in erster Linie nur um die Kinder oder auch um die Eltern? Und wie sieht die Situation in den einzelnen Ländern aus?
In Österreich wurde bis jetzt vielen Menschen eine vorübergehender Unterstützung zuteil, wenn ich beispielsweise an jene denke, die auf Grund der Bürgerkriegssituation in Bosnien und im Kosovo in unser Land gekommen sind. In diesem Fall ging es weniger um das Konzept der Familienzusammenführung, da es sich eben zum Großteil um vorübergehenden Aufenthalt oder Schutz handelte. Viele andere Länder können aber gar nicht in diesem Ausmaß Flüchtlinge aufnehmen, denen „nur“ auf Grund einer aktuellen politischen Situation der vorübergehende Aufenthalt und Schutz gewährt wird. Und so gibt es natürlich innerhalb der Fraktionen, auch bei uns Sozialdemokraten, eine Diskussion darüber, ob diese Gruppe wirklich im Familienzusammenführungsprogramm eingeschlossen werden, schließlich auf Dauer einen legalen Aufenthalt und auch eine Staatsbürgerschaft in den Ländern der Europäischen Union bekommen soll. Noch wird um einen Kompromiss gerungen, und man wird nächste Woche sehen, wie dieser Kompromiss gefunden werden kann und ob wir dieser Regelung auch unsere Zustimmung geben können.

Klonen – Ja oder Nein?

Eine Frage, die nicht auf der Tagesordnung der Strassburg-Plenarsitzung steht, die uns aber derzeit intensiv beschäftigt, ist die Entscheidung der britischen Regierung, Stammzellen-Forschung und das Klonen zu Forschungszwecken zuzulassen – im Sinne des reproduktiven Klonens, also nicht zur Herstellung neuer Menschen, sondern ausschließlich zu Forschungs- und Heilzwecken. Das ist eine Entscheidung, die vor zehn oder 15 Jahren noch ungeheuren Protest hervorgerufen hätte. Dennoch wird sie auch heute auf unserem Kontinent eifrig diskutiert, jedenfalls mehr als in Großbritannien selbst. Viel Emotionales spricht dagegen, gesundheitspolitische Überlegungen und Konzepte wiederum sprechen dafür.
Man hat sich mit der Frage des Klonens und der Biogenetik im Europäischen Parlament ja schon eingehend auseinander gesetzt. Bisher ging es allerdings um europäische Regelungen, etwa die Patentanmeldung bzw. den Patenterwerb und nicht um die Frage, wie und wie weit geforscht werden darf. Europa muss sich jenen Fragen stellen, mit denen sich die seine Menschen beschäftigen und darf sich auf keinen Fall uninteressiert zeigen – gerade in einer Phase, in der ein Grundrechtskatalog diskutiert und erarbeitet wird, der dann natürlich auch diesbezügliche Rechte bzw. Verbote einschließen muss.

Innerösterreichische Probleme

Mit einem ganz anderen Thema beschäftigte sich eine ZIB 3-Diskussion, an der ÖVP-Kollege Karas und ich selbst von Brüssel aus sowie der FPÖ-Abgeordnete Hager in Wien teilgenommen haben. Es ging dabei um den mit Spannung erwarteten Bericht der drei Weisen, aber vor allem auch um die Kritik der FPÖ an Erhard Busek und die damit in Zusammenhang stehende Auseinandersetzung zwischen ÖVP und FPÖ. Ich persönlich unterstütze Busek nicht immer voll und ganz in dem, was er tut und sagt – so mancher Strauß wurde zwischen uns ausgefochten. Die Kritik, die in letzter Zeit über Busek geäußert wurde, ist allerdings unter jedem Niveau.
Die FPÖ wird nicht aufhören, ihre nationalistischen und engstirnigen Konzepte gegen das Konzept der Erweiterung zu stellen. Und die ÖVP wird immer mehr Schwierigkeiten haben, gerade in dieser Frage eine gemeinsame Linie zu finden. Das permanente „auf den Tisch hauen“, die Drohungen und das Mokieren sind Verhaltensweisen, die immer weniger nützen und immer mehr schaden. So hat z.B. Wladyslaw Bartoszewski, der derzeitige polnische Außenminister und ehemalige Botschafter in Wien, ein enger Freund der österreichischen Volkspartei, vor kurzem sinngemäß gemeint: „Wenn die Österreicher damit drohen, den Beitritt Polens zu blockieren, dann könnten wir ja auch den Beitritt Österreichs zur NATO blockieren, denn wir sind dort bereits Mitglied“. Mich selbst würde das nicht besonders stören, aber die Anhänger bzw. die Politiker der FPÖ oder ÖVP, die ja bekanntermassen unbedingt und möglichst rasch in die NATO wollen, würde es sehr wohl betroffen machen.

Hinterwäldlerische Drohgebärden

Auch die Diskussion rund um Temelin ist nicht gerade erfreulich. Die Sturheit der tschechischen Regierung, Temelin auf jeden Fall in Betrieb zu nehmen und eine mangelnde Dialogbereitschaft ist genau so bedauerlich wie das Aufheizen der Stimmung in Österreich. Auch in diesem Fall gibt es wieder die Drohung von mehreren Seiten, den EU-Beitritt der tschechischen Republik zu verhindern. Was übrigens auch für den Fall angedroht wird, dass die Benes-Dekrete nicht aufgehoben werden. In beiden Fragen habe ich viel Verständnis dafür, dass Kritik an der tschechischen Regierung geübt wird und Forderungen gestellt werden. Aber man sollte seine Forderungen nicht mit Drohungen verbinden, sondern miteinander sprechen und verhandeln. Außerdem muss den Tschechen ohnedies bewusst sein, dass, sollten sie die Dialog- und Kompromissbereitschaft verweigern, es für ihre Mitgliedschaft Schwierigkeiten gibt.
Und so hat auch das Europäische Parlament, um noch einmal auf Temelin zurückzukommen, klar und eindeutig entschieden, dass im Fall einer Nichteinhaltung der Sicherheitsstandards von verschiedenen Kraftwerken, egal in welchem Land, diese Kraftwerke zu schließen sind. Das ist eine klare Festlegung, an der es nichts zu rütteln gibt. Und genau zu dieser Entscheidung des Europäischen Parlaments sollte sich auch Österreich uneingeschränkt bekennen. Man sollte nicht im Alleingang Drohungen aussprechen, sondern mit den anderen europäischen Partnern hinsichtlich aller Kraftwerke, die davon betroffen sein können, eine gemeinsame Position finden. Europäisch zu denken und zu handeln heißt, mit Partnern eine gemeinsame Linie zu finden – zuerst mit den Partnern innerhalb der EU und danach mit den Beitrittskandidaten.
Drohungen auszusprechen und auf den Tisch zu hauen ist jedenfalls nicht europäisch, sondern hinterwäldlerisch und hat im Übrigen noch nie zum Erfolg geführt hat. Vor allem dann nicht, wenn hinter diesen Drohungen kein großer gewichtiger Staat steht, sondern ein Land, das besser daran tut, Freunde und Verbündete zu finden, als alle und jeden zurückzustoßen. Am so genannten Biertisch mag das gut ankommen, aber Politiker sollten ein bisschen weiter denken und das Niveau der Biertischdiskussionen überschreiten. 
Brüssel, 26.8.2000