Ein voller Tag

Resumee über einen arbeitsintensiven Brüsseler Tag, der um fünf Uhr früh begonnen und viele neue Eindrücke und Erkenntnisse gebracht hat.
Der heutige Tag hat viele Ähnlichkeiten mit anderen Brüsseler Tagen. Und doch kommen durch die österreichische Präsidentschaft einige Besonderheiten hinzu.

Frühstart

Wenige Minuten nach fünf Uhr morgens bin ich aufgestanden und habe mich für die Fahrt zum Flughafen fertig gemacht. Um 7.05 Uhr startete mein Flug sehr pünktlich – trotz extremer Kälte von -15 Grad – nach Brüssel. Um 8.50 Uhr landete die Maschine am Brüsseler Flughafen. Um ca. 9.15 Uhr fuhr ich mit einem Chauffeur ins Europäische Parlament, wo ich um 9.50 Uhr ankam.
Nach einer kurzen Besprechung mit meiner Mitarbeiterin über die wichtigsten Termine des Tages ging es zu einer fraktionellen Vorbesprechung über die weitere Vorgangsweise zur Dienstleistungsrichtlinie. Ich konnte nur kurz daran teilnehmen, denn pünktlich um 11.00 Uhr hatte ich einen Termin bei Javier Solana, dem Beauftragten der Europäischen Union für Außenpolitik, man könnte auch sagen dem EU-Hauptaußenminister, zumindest im politischen Bereich. An dieser Besprechung nahmen auch unser Fraktionsvorsitzender Martin Schulz und eine weitere Kollege unserer Fraktion teil. Wir drei bilden quasi den Kern der Führung in der Fraktion in vielen zentralen Fragen.

Faszinierender Solana

Javier Solana ist ein Mann mit hohen Qualitäten. Er arbeitet sehr detailgenau, ist viel gereist, bewahrt aber dennoch eine klare Linie und verfolgt eine konsequente Strategie. Hinzu kommt, dass er ein äußerst herzlicher Mensch ist. Zur Begrüßung hat er mich innig umarmt. Meine Freude, ihn wieder zu sehen, war genauso groß wie seine.
Wir kamen gar nicht richtig dazu, vieles zu sagen. Solana sprudelte regelrecht aus sich heraus. Unsere Themen waren der Iran, der Nahe Osten – insbesondere die dort gerade stattfindenden Wahlen – und der Balkan. Auch den Irak, Syrien und den Libanon streiften wir.

Risikofaktor Iran

Hinsichtlich des Iran war Solana in hohem Maß betroffen davon, dass das Land mit seinem neuen Präsident Mahmud Ahmadinedschad den Weg der Urananreicherung eingeschlagen hat und Schritte zu einer Anwendung der Nukleartechnologie gesetzt werden. Nicht nur die friedliche Nutzung der Nukleartechnologie steht dabei im Mittelpunkt – das bliebe dem Iran unbenommen -, sondern letztendlich auch eine militärische Nutzung.
Zwar behauptet der Iran immer wieder, dass ausschließlich die friedliche Nutzung im Vordergrund stünde. Wenn man aber betrachtet, welche abstrusen Ideen und Vorschläge Präsident Ahmadinedschad entwickelt hat – inklusive der Vernichtung Israels, einer Umdeutung des Holocaust oder der Einladung von Nazis und rechtsextremen Gruppen in sein Land – wird einem Angst und Bang.

Politisches Pulverfass

Nicht allein die Tatsache der forsch verfolgten Entwicklung von Nukleartechnologie im Iran, sondern das gesamte politische Umfeld in diesem Staat ist extrem problematisch. Es ist offensichtlich, dass der Iran versucht, seine Machtposition in der Region auszubauen. Die Schiiten im Iran sind keine Araber und stehen daher in einem Konkurrenzverhältnis insbesondere zu den sunnitischen Arabern. Sie wollen vor allem durch ihren neuen Präsidenten beweisen, dass sie die wirklichen Islamisten sind und nur sie die Interessen des Islam und damit auch der Araber vertreten.
Als ich das bisher erste und letzte Mal im Iran war, haben uns etliche unserer Gesprächspartner mit Stolz zu verstehen gegeben, dass sie keine Araber sind. Auch wenn sie sich in bestimmten Bereichen arabisiert sehen, vor allem bei der Religion, dem Islam, halten sie sich doch für etwas Besseres.
Und auch Präsident Baschar al-Assad in Syrien hat deutlich gemacht, wohin die Reise gehen soll. Assad ist ein Alevit, also den Schiiten ideologisch-religiös verwandt. Allerdings sind die Aleviten eine Minderheiten in Syrien, die Mehrheit stellen die Sunniten. Das Ringen um die Macht, der Versuch des jungen Assad, die Macht zu halten, hängt zweifellos damit zusammen, dass er – zumindest religiös – eine Minderheit repräsentiert, die die Mehrheit der Sunniten im Lande kontrollieren möchte. Beide wollen zudem entsprechenden Einfluss im Nachbarland Libanon erlangen.

Radikalisierung?

Was nun die Wahlen in Palästina betrifft, so gibt es unterschiedliche Erwartungen über deren Ausgang. Es muss von einer Stärkung der radikalen Gruppen um Hamas und Dschihad ausgegangen werden. Wie stark diese Bewegung tatsächlich wird, werden die kommenden Tage zeigen.
Parallel dazu gibt es große Unsicherheiten, was die weitere Entwicklung Israels betrifft. Nach dem Ausscheiden von Premierminister Sharon aus den politischen Strukturen aufgrund dessen schwerer Erkrankung und den bevorstehenden Wahlen ist die Lage sehr unklar.

US-Intervention ergebnislos

Der gesamten Region – unter Einbeziehung der Situation im Irak, in Syrien und im Libanon – geht es heute in keinem Fall besser als noch vor ein oder zwei Jahren. Die Versuche der Amerikaner, die Region zu demokratisieren und zu entwickeln – vor allem durch die Intervention im Irak – haben bisher keine positiven Früchte getragen.
Javier Solana hat aufgezeigt, ohne eine klare Empfehlung zu geben, dass in der jetzigen Situation mehr Demokratie, mehr Transparenz, mehr Offenheit ganz ohne Zweifel zur Stärkung der islamistischen Kräfte beitragen. Zum Teil ist dies eine Antwort auf Korruption, Misswirtschaft, diktatorisches Verhalten der führenden Politiker in Ägypten und anderen Ländern.

Naiver Zugang

Es ist nicht so einfach, von schlechten Verhältnissen zu guten zu kommen, Autokratie in Demokratie und Zivilgesellschaft, etc. zu transformieren. Demokratie in Form von Wahlen ist etwas anderes als die Etablierung einer Zivilgesellschaft, die Anerkennung der Menschen- und Minderheitenrechte und die Stärkung der Rolle der Frau in der Gesellschaft. Diese Prozesse sind komplizierter und komplexer, als es sich ein naives amerikanisches Politikergehirn ausdenkt.
Solana, der erst vor wenigen Tagen in den USA gewesen war, meinte bei unserem Treffen, dass Condoleezza Rice inzwischen eine ähnliche Sicht hat. Sie ist allerdings in jenen Strukturen gefangen, die sie selbst geschaffen hat und ist zudem mit der Situation des Krieges im Irak konfrontiert.

Balkan – quo vadis?

In unserem Gespräch mit Javier Solana spielte, wie schon erwähnt, auch der Balkan eine Rolle. Vor allem nach dem Tod von Ibrahim Rugova ist die Situation im Kosovo ungewiss. Wie es weitergeht, wer die Führungsposition übernimmt, ob es zu internen Streitigkeiten und Konflikten bei den Kosovo-Albanern kommt, ist heute völlig offen.
Wir diskutierten mit Solana, wie schnell eine Entscheidung darüber getroffen werden soll, in welche Richtung der Kosovo gehen kann. Ich habe den Eindruck, dass Solana eher nicht für eine langsame Lösung eintritt, aber jedenfalls für eine Lösung, die die Gesamtsituation berücksichtigt, etwa die schwierige Lage der Serben, wenn es zu einer Abspaltung von Montenegro kommt. Es ist für ein Land, das noch dazu sehr nationalistisch ist, gar nicht so leicht zu verkraften, dass sich auf der einen Seite Montenegro abspaltet und andererseits der Kosovo durch internationale Vereinbarung von Serbien getrennt wird.

Vorsicht geboten

Hier besteht noch großer Argumentationsbedarf. Seitens der Europäischen Union ist äußerte Vorsicht geboten, um die Situation nicht aus dem Ruder geraten zu lassen. Solana meinte, dass auch die USA derzeit etwas vorsichtiger in ihrer doch vielfach sehr einseitigen Unterstützung der albanischen Kräfte seien.
Rugova wird am kommenden Donnerstag zu Grabe getragen. Es wird sich zeigen, wie die Entwicklungen in der nächsten Zeit vor sich gehen. Es gilt, vorsichtig zu bleiben. Die Gespräche in Wien, die bereits beginnen hätten sollen, wurden jedenfalls vertagt, da durch den Tod Rugovas ein Interregnum eingetreten ist.

Instabile Ukraine

Auch über die Ukraine sprachen wir bei unserem Treffen mit Solana. Die Lage dort ist in den vergangenen Tagen sehr kritisch geworden. Es könnte sein, dass die Destabilisierungsversuche der Russen durch die Sperre der Gaszufuhr von Erfolg gekrönt sind. Janukowitsch, der ursprüngliche Gegenkandidat von Juschtschenko, ist derzeit – schenkt man den Meinungsumfragen Glauben – in einer relativ guten Position. Er könnte sogar mehr Stimmen bekommen als jene Kräfte, die zumindest zu Beginn die Orange Revolution unterstützt haben, also Timotschenko und die Anhänger des gegenwärtigen Präsidenten Juschtschenko zusammen.
Insgesamt ist die Lage sehr fragil. Es wäre für die USA und auch für die Europäische Union nicht sehr günstig, wenn es nach der von uns mit einem gewissen Wohlwollen verbundenen Orangen Revolution einen massiven und nachhaltigen Backlash geben würde und der eigentlich unterlegene Kandidat letztendlich mit einer absoluten Mehrheit regieren könnte. Die Versuche Juschtschenkos, die Situation zumindest soweit zu korrigieren, die neue Verfassung, die der Regierung mehr Möglichkeiten gegenüber dem Präsidenten gegeben hat, wieder zu revidieren, um die Position des Präsidenten zu stärken, hat herzlich wenig mit Demokratie zu tun. Es ist vielmehr eine sehr offensichtliche Aktion und könnte sich leicht ins Gegenteil verkehren.

Am Ball bleiben

In unserem Gespräch mit Solana erfuhren wir – unter dem Siegel der Verschwiegenheit – etliche Details. Insgesamt erlebten wir eine äußerst angenehme und interessante Präsentation seiner Sicht der aktuellen Entwicklungen. Wir stimmen mit ihm überein, dass wir erst am Beginn des Jahres stehen und bereits jetzt mit einer Fülle von Problemen konfrontiert sind, die uns in diesem Jahr in Atem halten werden – ganz abgesehen von jenen Problemen, die wir heute noch gar nicht erkennen und abschätzen können.
So herzlich der Beginn unseres Treffens ausgefallen ist, so herzlich war auch der Abschied. Wir waren uns einig, dass wir uns in nächster Zukunft öfters austauschen und die anstehenden Probleme diskutieren sollten. Für mich ist Javier Solana einer der profundesten Kenner der internationalen Szene. Aufgrund seiner Position als Repräsentant von 25 Ländern kann Solana nicht in jenem Ausmaß in der Öffentlichkeit präsent sein, wie es nötig wäre. Vielleicht fehlt es ihm auch ein bisschen an rhetorischem Geschick. Im persönlichen, direkten Gespräch ist er aber faszinierend.

Präsidentschaftsmarathon

Nach dieser beeindruckenden Begegnung ging es zurück ins Parlament. Es galt, einige Telefonate zu erledigen, in erster Linie mit Journalisten, die mich zur Einsetzung des CIA-Untersuchungsausschusses befragten. Danach fand ein Arbeitsessen mit der österreichischen Innen- und der Justizministerin statt.
Es herrschte eine angenehme Atmosphäre. Und beide Ministerinnen sind versiert und kennen sich in ihren Fachbereichen ebenso wie bei den europäischen Themen aus. An diesem Arbeitsessen nahmen die im Parlament vertretenen Fraktionen teil. Ich vertat in diesem Fall unseren Vorsitzenden Martin Schulz, wie mein Vis à vis Othmar Karas seinen Vorsitzenden der Europäischen Volkspartei.

Farblose Außenministerin

Im Anschluss ging es für mich in eine außenpolitische Arbeitsgruppe unserer Fraktion zur Vorbereitung der Sitzung des Außenpolitischen Ausschusses, der an diesem Tag um 15.00 Uhr mit einer – leider sehr farblosen – Präsentation der österreichischen Außenministerin begann.
Aus meiner Sicht ist Ursula Plassnik eine sehr sympathische und wahrscheinlich auch versierte Persönlichkeit, die allerdings keinen Eingang in die politische Arena gefunden hat. Sie berichte dem außenpolitischen zahlreiche eher organisatorische Vorhaben – Treffen, die sie plant, etc. Es war ein pragmatisch dahin plätschernder Vortrag, ohne große Fehler, aber auch ohne klare Aussagen.

Mehr politisches Profil!

Ein solches Auftreten kann und wird die österreichische Präsidentschaft in Schwierigkeiten bringen und bedrohen. Leider vertreten AußenministerInnen in vielen Fällen keine klaren und pointierten Positionen. Bei Plassnik ist dies aber in besonderem Ausmaß der Fall – und das ist nicht nur mir, sondern vor allem meinen KollegInnen der eigenen, aber auch der anderen Fraktionen schon bei früheren Begegnungen aufgefallen. Ich würde mir wünschen, dass die österreichische Außenministerin mehr Mut fassen würde, klare Positionen zu vertreten.
Ein bisschen klarer wurde es dann beim Auftritt von Verteidigungsminister Plattner. Auch er argumentierte eher brav, aber präsentierte doch mit klaren Akzenten jene Aufgaben, die er als Verteidigungsminister im kommenden halben Jahr auf europäischer Ebene zu erfüllen hat.

7. Forschungsrahmenprogramm

Noch während der Debatte zu Plattners Vortrag verließ ich den Außenpolitischen Ausschuss, um an einer Arbeitsgruppe der Fraktion zum 7. Forschungsrahmenprogramm teilzunehmen. Wir stimmten darüber ab, wie wir mit unseren Abänderungsanträgen vorgehen und welche Zielrichtungen wir verfolgen sollen.
Es handelt sich um einen wichtigen Bereich der Forschung und Entwicklung. Für uns steht fest: Wir wollen weniger Bürokratie, die ForscherInnen müssen leichter und rascher zu den jeweiligen finanziellen Mitteln kommen. Auch die Kontrolle zur Verwendung der Mittel muss entbürokratisiert werden. Inhaltlich stehen für uns gesellschaftspolitische und naturwissenschaftliche Schwerpunkte – bis hin zu Medizin – im Zentrum. Man darf dabei nie vergessen, dass die Forschungsmittel der Europäischen Union nur einen geringen Teil der in Europa aufgewendeten Forschungsmittel darstellen. Viele Länder, aber auch viele Unternehmen könnten weit mehr in die Forschung investieren, als dies derzeit der Fall ist. Einige wenige stehen an vorderster Front, aber das gilt leider nicht für alle.

Am Abend eines langen Tages

Nach einem kurzen Sprung zum Neujahrsempfang des Parlamentspräsidenten für die Diplomaten und Gesprächen mit einigen Botschaftern besuchte mich eine Vertreterin einer NGO, die sich mit der Türkei und der Kurdenproblematik beschäftigt. Wir versuchten einige Möglichkeiten für ein gemeinsames Vorgehen zu erarbeiten. Danach schließlich setzen wir uns mit meinen KollegInnen unserer Delegation und unseren MitarbeiterInnen zusammen, um uns gemeinsam auf das Neue Jahr einzustimmen.
Es war ein voller Tag – mit vielen Aufgaben und interessanten Begegnungen, geprägt durch die österreichische Präsidentschaft. Diese Präsidentschaft lässt sich unspektakulär an, zum Teil effizient, zum Teil nebulös. Das ist aber weder ein positives noch ein negatives Urteil, über das, was kommt. Es zeigt vielmehr auf, wie vielfältig die Aufgaben sind und wie unterschiedlich Einzelne ihre Aufgaben erledigen.

Höheres politisches Niveau anstreben

Für mich zeichnet sich ab, dass man im österreichischen politischen Niveau in vielen Bereichen noch weit von dem entfernt ist, was etwa Javier Solana an Niveau vorgibt. Seine Komplexität, seine Informationsdichte sind noch unerreicht. Das liegt nicht nur daran, dass die Österreicher oberflächlicher sind als Andere.
Einige Menschen können durch ihre Intellektualität, ihren Fleiß und ihre Position brillieren. Wenn es noch dazu Menschen sind, die persönliche Sympathie verbreiten, dann erlebt man Höhepunkte in der politischen Auseinandersetzung mit jenen Problemen, die auf uns zukommen bzw. in denen wir mitten drin stecken. Wir können uns nur bemühen, diese Probleme so zu meistern, dass keine neuen Kriege und Krisen auf uns zukommen.

Brüssel, 24.1.2006