Ein wenig Hoffnung atmen

Die Tatsache, dass sich die Lage und Friedensaussichten in Israel und Palästina nicht verbessern, sondern verschlechtern, macht einen fast krank.
Soeben habe ich die Nachrichten der ORF-Meldungen über den jüngsten Terroranschlag auf einen Bus in West-Jerusalem gehört. Für die israelische Seite war dies eine Bestätigung für die Notwendigkeit eines „Sicherheitszaunes“ bzw. einer „Sicherheitsmauer“, wie sie derzeit in Israel bzw. mehr in Palästina errichtet werden. Für die palästinensische Seite war das Attentat hingegen Anlass, die USA zu verstärkten Friedensbemühungen aufzurufen. Dass das Attentat am Tag vor der ersten Anhörung über die Rechtfertigung der Mauer bzw. des konkreten Verlaufs der Grenzbefestigungen vor dem Internationalen Gerichtshof stattfand, ist eine besondere Provokation – auch gegenüber den friedensorientierten Kräften unter der palästinensischen Führung.

EU-Kritik am Verlauf der Mauer

Erst letzte Woche beschäftigten wir uns mit der Frage dieser Grenzanlagen bei einer Plenardebatte im Europäischen Parlament. Viele von uns kritisierten die Weigerung der EU-Staaten im von der UNO-Vollversammlung angestrengten Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof, die Kritik der EU an der Mauer zu deponieren und klar gegen die Grenzbefestigung, die im wesentlichen innerhalb des palästinensischen Gebietes errichtet werden, Stellung zu nehmen. Also, nicht gegen die Tatsache der Grenzziehung, sondern gegen den Verlauf.
Am Donnerstag machte sich eine Gruppe von Parlamentariern auf den Weg, um die Situation an Ort und Stelle zu begutachten und sich eine eigene Meinung zu bilden. Noch am Nachmittag traf ich mich auf Vermittlung der israelischen Botschaft in Wien mit einem Vertreter des israelischen Außenministeriums in Jerusalem. Er lud mich ins Cafe Moment ein, wo vor etwa einem Jahr ein furchtbares Attentat viele Menschen getötet hat. Natürlich sollte dieser Ort die Bedeutung des Terrorismus vor allem durch Selbstmordattentäter für die israelischen Abwehrmaßnahmen unterstützen. Bei den meisten Gesprächen im Nahen Osten konzentrieren sich die Gesprächspartner mehr auf die andere Seite: auf deren Fehler, deren mangelndes Verständnis für die Notwendigkeit, Kompromisse einzugehen, die Menschenrechtsverletzungen, etc. So war es auch hier: Die Liste der Verfehlungen der Palästinenser war lang, die grundsätzlichen Probleme der Besatzung und vor allem der kontinuierlichen Landnahme durch Siedlungstätigkeit und die Errichtung der Grenzbefestigungen hat mein Gesprächspartner von sich aus nicht erwähnt.

Argumente für die Sicherheitsgrenzanlage

Auch kam der übliche Vorwurf an die „Europäer“, die spezielle Lage in Israel nicht zu verstehen, und in der Tat: Die Bedrohung durch den Terrorismus ist für viele von uns kaum nachzuvollziehen. Aber die wirklichen Meinungsunterschiede bestehen über die optimale und nachhaltige Bekämpfung des Terrorismus.
Diese Debatte setzte sich fort, als wir am nächsten Tag unseren ersten gemeinsamen Termin im israelischen Außenministerium hatten. Die vor uns ausgebreiteten Argumente für die Sicherheitsgrenzanlage lauteten in etwa folgendermaßen:
1) Die Anlagen bringen große Schwierigkeiten für viele Palästinenser, sind teuer (angeblich 1 Million Dollar) und schädigen Israels Image in der internationalen Gemeinschaft. 2) In den vergangenen Jahren hat Israel 927 Tote und tausende Verletzte durch den Terror, vor allem durch Selbstmordattentate, zu verzeichnen gehabt. 3) Das Eindringen der Attentäter kann nur durch immer wieder verhängte Zutrittssperren – „closures“ – an den Check Points erreicht werden oder durch die jetzt durchgeführten Grenzbefestigungen. 4) Bereits jetzt zeichnet sich ein Rückgang des Terrorismus ab. 5) Die Anlagen sind zeitlich begrenzt und können, so wie die Grenzanlagen zum Libanon bzw. zu Ägypten, jederzeit abgebaut werden. 6) Allen, denen Land – zeitweise – weggenommen wird, wird auf Antrag eine Entschädigung, insbeosndere der entgangenen wirtschaftlichen Einkünfte, geleistet. 7) Die Lage des Zauns richtet sich nach dem Schutzbedürfnis der Israelis – insbesondere der Siedler in den palästinensischen Gebieten. 8) Langfristig werden nur 3% der Grenzanlangen durch Mauern „gestaltet“ sein, normalerweise sind es elektrische Zäune mit breiten Sicherheitszonen auf beiden Seiten des Zauns. 9) Alle zwei Meilen wird es Tore geben, viele Olivenbäume wurden umgesetzt, etc., um die Leiden und Probleme der Palästinenser zu mindern.

Korrekturen

Nach dem Besuch im Außenministerium fuhren wir zur UN-Vertretung für humanitäre Hilfe. Der Eindruck, den wir in der Früh gewonnen haben, wurde dort bereits etwas korrigiert. An Hand der israelischen Pläne über die Situation der 60 m breiten Sicherheitsanlagen war folgendes zu ersehen:
1) In 10 Enklaven sind etwa 160.000 Palästinenser gänzlich von den Sicherheitsanlagen eingeschlossen. 2) Die Anlagen verlaufen so tief im palästinensischen Gebiet, dass ca. 13% der Westbank Israel „zugeschlagen“ werden. Trotzdem befinden sich noch 140.000 israelische Siedler hinter dem Zaun, die besonders geschützt werden müssen bzw. durch eigene Straßen, Tunnel, etc. mit Israel verbunden werden – was zusätzlich viele palästinensische Dörfer isoliert bzw. die Bauern von ihren Feldern aussperrt. 3) Derzeit gibt es 41 Tore in den Befestigungsanlagen, aber nur 23 sind für die Palästinenser mit Ausweisen offen, darüber hinaus gibt es einige Tore, die aber nur wenige Minuten pro Tag für die Bauern bzw. die SchülerInnen geöffnet sind. 4) Bei der Zuteilung von Passierscheinen und Aufenthaltsgenehmigungen herrscht eine große Willkür, viele Menschen werden von ihrer gewohnten Infrastruktur und Versorgung (Spitäler, Schulen, etc.) abgeschnitten und müssen sich auf ganz andere Zentren orientieren und damit viel längere Wege in Kauf nahmen. 5) Viele Palästinenser verlangen keine Entschädigung für die Enteignung, weil sie die Maßnahmen für rechtswidrig halten und die israelische Autoritäten, die auf palästinensischem Gebiet tätig werden, nicht anerkennen.

Hauptproblem: Besetzte Gebiete

Bei unserer Fahrt nach Abou Dis und Bethlehem konnten wir die Ausbreitung der Mauer bzw. der Grenzanlagen nachvollziehen. Unabhängig von der Grenzanlage gibt es immer wieder check points mit all den bürokratischen und Willkürmaßnahmen, die derartige Kontrollen mit sich bringen. So konnte zwar – nach Intervention – der Bus von Jerusalem nach Bethlehem passieren, nicht aber das Auto mit den uns begleitenden Fernsehjournalisten. Sie mussten in unseren Bus umsteigen, das Auto an der Grenze lassen und am Abend abholen, etc.
Aus meiner Sicht besteht das Grundproblem in der permanenten Siedlungstätigkeit der Israelis in den besetzten Gebieten. Allein im Bereich von Bethlehem gibt es 32 Siedlungsgebiete. Logischerweise sind diese Siedlungen, die sich tief in palästinensischem Gebiet befinden – ein Anlass für verstärkte Sicherheitsmaßnahmen. So muss entweder die Mauer tief ins palästinensische Gebiet hineingezogen werden oder durch Tunnels bzw. durch abgesicherte Straßen, die das Land zerschneiden, mit israelischem Gebiet verbunden werden. Dabei wurden diese oftmals so angelegt, dass eine Ausdehnung der palästinensischen Gebiete verunmöglich wird, aber Platz für die Erweiterung der israelischen Siedlungen verbleibt. Durch Enteignung des palästinensischen Weidelands wird den Siedlern permanent neues Land verschafft.

EU-Mittel für Palästina

Am zweiten Tag unseres Besuches begab sich die Delegation in den Norden nach Kalkilia, eine der völlig durch die Grenzbefestigung umschlossenen Städte Palästinas. Ich aber fuhr nach Ramallah, um den palästinensischen Finanzminister Salam Fayyad zu besuchen. Zuletzt hatte ich Fayyad in Begleitung des palästinensischen Ministerpräsidenten Ahmad Qurei, auch Abu Ala genannt, in Brüssel gesehen, als sich beide, gemeinsam mit dem Chefverhandler Saab Erkat, dem Außenpolitischen Ausschuss des Europaparlaments zur Diskussion stellten. Jetzt hatte ich aber die Gelegenheit, mit dem international anerkannten und geachteten Finanzminister ein ausführliches Gespräch zu führen.
Zunächst ging es um die Verwendung der EU-Mittel, die wir Palästina zur Verfügung stellen. Ein eigener ad-hoc Ausschuss des Europäischen Parlaments, dem auch ich angehöre, untersucht, inwieweit Mittel der Europäischen Union zur Finanzierung des Terrorismus missbraucht wurden. Im wesentlichen beziehen sich diese Vermutungen auf einen Zeitraum, als die EU den Palästinensischen Behörden nicht-projektbezogene Mittel bereitgestellt hat, da Israel die für die Palästinenser eingehobenen Mittel nicht an diese überwiesen hat. Inzwischen hat Israel die Überweisung dieser Mittel wieder aufgenommen, hat aber auf Grund eines Bescheids eines israelischen Gerichts die Abzahlung der in diesem Zeitraum entstandenen Schulden eingestellt. So ist zuletzt die palästinensische Autonomiebehörde in große Schwierigkeiten geraten.
Finanzminister Fayyad ist aber durchaus mit dem Druck nach Offenheit und Transparenz der Finanzgebarung seitens der EU einverstanden, hilft ihm dieser Druck doch bei der Durchsetzung von Reformen gegenüber seinen eigenen Kollegen. Vor allem die absolute Nachvollziehbarkeit aller Geldströme an die Sicherheitskräfte ist notwendig, um zu erkennen, dass das Geld wirklich der Sicherheit und nicht der Unsicherheit dient.
Entscheidend für die EU, aber auch für den Finanzminister, ist die Bekämpfung der Korruption. Sie steht ganz oben auf der Prioritätenliste von Salam Fayyad. Sie ermöglicht auch den Druck der Verwaltung und von hohen Steuern zu mildern und gleichzeitig die Einnahmen des Staates zu erhöhen, da die illegalen Finanzströme ausgetrocknet werden.

Chance Neuwahlen

Angesprochen auf Wahlen zum palästinensischen Legislativrat (Parlament) die von der USA und Europa verlangt werden, hat sich Fayyad ganz deutlich dafür ausgesprochen. Nur Neuwahlen bieten die Chance, eine neue Gruppe von modern orientierten Politikern in verantwortliche Positionen zu bekommen. Sie würden überdies stärkere Gesprächspartner für Israel hervorbringen. Er habe keine Angst, dass die radikalen Islamisten aus diesen Wahlen gestärkt hervorgehen würden, jedenfalls dann nicht, wenn Israel selbst alles unternehmen würde, um die Wahlen fair und frei durchführen zu lassen. Es braucht unbedingt neue Leute, um die beiden wesentlichen Ziele für Palästina umzusetzen: Frieden und innere Reformen.

Check-point Spießroutenlauf

Das Gespräch hatte länger gedauert, als ich angenommen hatte und ich musste mich beeilen, um zu Flughafen zu kommen. Der check point, durch den wir gekommen waren, war mit einer langen Schlange wartender Autos versehen. So versuchten wir es an einem check point, der nur für Personen mit Diplomatenpässen vorgesehen war. Der diensthabende Soldat hätte mich durchgelassen, aber nicht meinen Fahrer mit seinem Identitätsausweis aus Jerusalem. Sein Vorgesetzter allerdings zeigte Gnade und ließ uns passieren.
So näherten wir uns dem eigentlich vorgesehenen check point von der Seite her, um uns nicht in die Schlange von hinten einreihen zu müssen. Allerdings befand sich auch auf dieser „Seitenstraße“ eine lange Autoschlange. Mein Fahrer machte wieder kehrt und fuhr durch viele Nebenstraßen einer angrenzenden Stadt und kam so ohne Kontrolle an einem check point auf die von uns angepeilte Straße, die Jerusalem mit Tel Aviv verbindet.

Bewundernswerte Friedensinitiativen

Jeder Aufenthalt in Israel und Palästina ist faszinierend und deprimierend zugleich. Vor allem die Tatsache, dass sich die Lage und Friedensaussichten nicht verbessern, sondern verschlechtern, macht einen fast krank. Und dies trotz der Tatsache, dass immer mehr führende Israelis und auch Palästinenser von der Notwendigkeit eines Friedensschlusses überzeugt sind. Vielleicht leiden die großen Friedensbewegungen in Israel selbst an Unterstützung, nicht zuletzt auf Grund der Selbstmordattentate.
Dennoch gibt es nach wie vor bewundernswerte Friedensinitiativen, deren VertreterInnen wir auch vorgestern abends trafen. Einer der prominenten und neuen Befürworter einer Politikumkehr ist der ehemalige Präsident des israelischen Parlaments, der Knesset, Avraham Burg, der meinte: „Unter unseren Augen läuft Israel Gefahr, ultraorthodox, nationalistisch und arabisch zu werden“. Damit würde die Existenzgrundlage Israels zerstört werden und Schuld daran sei nicht zuletzt die Regierung Israels selbst. Die betreibt „eine Politik der Rache, welche nur die niedrigsten Instinkte der öffentlichen Meinung befriedigt“. Avraham Burg sieht das Blutvergießen in den israelischen Restaurants durch Selbstmordattentäter im Zusammenhang mit dem Hunger und der Erniedrigung der palästinensischen Kinder. „Ein Krieg gegen den Terrorismus kann nicht gelingen, wenn man nicht die Fenster aufmacht, um der anderen Gesellschaft die Möglichkeit zu geben, ein wenig Hoffnung einzuatmen“.
Besser kann man es nicht ausdrücken.
Wien, 22.2.2004