Ein widersprüchliches Land

Nach wie vor ist das Ringen um einen Weg in die Moderne unter Beibehaltung bestimmter Traditionen in der Türkei spürbar. Vor allem: Was soll modernisiert und was soll beibehalten werden?
Der zweite Tag unseres Ankarabesuchs war weiteren Gesprächen mit ParlamentarierInnen und Spitzenbeamten gewidmet.

Hochrangige Gesprächspartner

Vor allem aber trafen wir Außenminister Babacan, Ministerpräsident Erdogan und zum Abschluss Staatspräsident Gül. Es war zweifellos eine Anerkennung der Bedeutung des Europäischen Parlaments, dass wir so hochrangig empfangen wurden. Hervorzuheben ist allerdings auch, dass all diese Gespräche länger gedauert haben, als ursprünglich vorgesehen.
Außenminister Ali Babacan ist ein smarter und sehr gewandter Minister. Als früherer Wirtschaftsminister weiß er auch um die Wichtigkeit der Reformen im Lande und um die Bedeutung eines Annäherungsprozesses an die EU. Darüber hinaus hat er eine aktive Außenpolitik in der Region entwickelt, um so auch die Bedeutung der Türkei für Europa zu unterstreichen. Am Tag vor unserem Treffen traf er den armenischen Außenminister, und am Tag danach flog er nach Tadschikistan und Kyrgyzstan in Zentralasien.

Aktive Außenpolitik

Die verbesserten Kontakte mit Armenien sind besonders zu begrüßen, ist doch das bisher eher eingefrorene Verhältnis dieser beiden Nachbarn für die Stabilität der Region äußerst nachträglich. Auch die tragische Vergangenheit der Vertreibung und Tötung vieler Armenier aus der Türkei am Ende des Osmanischen Reiches – viele sprechen von einem Genozid – sollte besseren Beziehungen zweier Nachbarn in der heutigen Zeit nicht im Wege stehen. Parallel dazu – da gebe ich den türkischen Politikern recht – sollte auch der Konflikt zwischen Armenien und Aserbeidschan, das der Türkei sehr nahe steht, gelöst werden. Interessant war in diesem Zusammenhang, dass Babacan meinte, dass die Türkei sowohl ein europäisches als auch ein asiatisches Land sei – aber vielleicht ist genau das, was die Türkei für Europa so interessant macht.
Es zeigt sich jedenfalls, dass die aktive Außenpolitik der Türkei nach der Sükaukasuskrise – in Abstimmung mit der französischen Ratspräsidentschaft – einen positiven Prozess des Suchens nach Konfliktlösung und Frieden in Gang gebracht hat. Auch Russland scheint zumindest interessiert zu sein, einiges an Rufschädigung wieder gut zu machen. Jetzt gilt es, dass die EU die entsprechenden Initiativen unterstützt und selbst eine aktive Rolle in dieser Region übernimmt – im Interesse unserer eigenen Sicherheit.

Die Kurdenfrage

Nach einem kurzen Stopp beim Atatürk-Mausoleum ging es zu Ministerpräsident Erdogan. Dieser war sehr gut gelaunt und bereit zu einer sehr offenen Diskussion. Ich sprach ihn auch auf einen Ausspruch hin an, der bei einigen kurdischen Vertretern für großen Unmut gesorgt hat. Erdogan ging in der Folge ausführlich auf die Kurdenproblematik ein. Er stellte klar, dass er nie einfach gesagt habe, wem die Türkei nicht passe, der solle das Land verlassen. Er habe nur festgestellt, dass alle Türken, welch ethnischer bzw. nationaler Herkunft sie auch sein mögen, sich in der Türkei als einem Land mit einer Flagge und einer Nation zu Hause fühlen sollen. Und wer nicht in dieser Nation und unter der türkischen Flagge leben wolle, der könne sich eine andere Heimat suchen. Nun, auch diese Interpretation ist ambivalent, aber immerhin wird die unterschiedliche Herkunft der Türken anerkannt.
Im Weiteren unterstrich Erdogan – genauso wie nach ihm Präsident Gül – die vielen Maßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftlichen, sozialen und vor allem auch gesundheitlichen Verbesserungen für die Bevölkerung in den kurdischen Regionen. Auch sollten nach dem 1. Jänner 2009 Sendungen des staatlichen Radios in kurdischer Sprache für 24 Stunden gesendet werden. (Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich, wie ich dies nach einem Besuch im kurdischen Gebiet verlangt habe, auf großes Unverständnis in der Türkei gestoßen bin.)

Aufeinander zugehen

Erdogan ging aber auch zur Offensive über und meinte, dass es die Türken in Deutschland viel schwerer hätten, Türkisch zu sprechen bzw. die Sprache in der Schule zu lernen, als die Kurden in der Türkei. Mit unserem Kollegen Elmar Brock aus Deutschland entspann sich eine heftige Diskussion. Ich versuchte schließlich klarzustellen, dass es in der EU einen Unterschied mache, ob es sich um eine autochthone, also angestammte Minderheit handle oder um eine, die durch Zuwanderung begründet wurde. Im ersten Fall liegt die Hauptverantwortung für die Integration bei der Mehrheit, im zweiten Fall bei der Minderheit.
Allerdings meinte ich, dass in der heutigen Zeit mit einer eher dauerhaften Zuwanderung unter Beibehaltung der Kontakte mit dem ursprünglichen Heimatland auch mehr Minderheitenrechte, vor allem auf kulturellem Gebiet, gegeben werden sollten. In gewissem Ausmaß wird es hier eine Angleichung der Minderheitenrechte geben. In allen Fällen müssen Mehrheit und Minderheit aufeinander zugehen. Ministerpräsident Erdogan konnte dem einiges abgewinnen und meinte, er verlange weder von den Türken in Deutschland noch von den Kurden in der Türkei eine Assimilation, sondern in beiden Fällen eine Integration.

Im Parlament

Insgesamt war es ein äußerst lebendiges, engagiertes Gespräch, das wir mit dem türkischen Premierminister geführt haben. Erst nachträglich sollte eine – hoffentlich kurzfristige – Trübung entstehen, als die Zeitung Milliyet einen völlig aus der Luft gegriffenen Bericht brachte, ich hätte bei Premierminister Erdogan die Pressefreiheit eingemahnt. Nun, Milliyet gehört zu einer Zeitungsgruppe, die einen Streit mit Erdogan hatte. Aber eine derart reine Erfindung ist mir noch nie untergekommen.
Nach dem Treffen mit Erdogan ging es zurück ins Parlament, wo wir den Vorsitzenden des Verfassungsausschusses besuchten, mit dem wir leider nur ein kurzes, aber konstruktives Gespräch hatten. Ich habe meine Überzeugung dargelegt, dass die Türkei manche Probleme nur lösen können wird, wenn es – so wie in allen großen Ländern der EU – eine wirksame Dezentralisierung gibt, die auch hilft, den Kurden in ihrer Region mehr Einfluss und Gestaltungsmöglichkeit zu geben. Anschließend besuchten wir den Verteidigungsausschuss. Dort bekamen wir ein seltsames Bild von ausschließlich Männern (!), die eigentlich nichts wussten, daher auch keine Antwort geben konnten – wir hatten sie nämlich nicht schriftlich eingereicht – und ein jämmerliches Bild abgaben. Und diese Leute sollen dem Militär auf die Finger schauen. Das ist eine Farce!

Die Zypernfrage

Den Abschluss unseres Aufenthaltes bildete der Besuch bei Staatspräsident Abdullah Gül. Auch hier hatten wir ein sehr offenes, freundliches, sogar freundschaftliches Gespräch. Die Türkei kann froh sein, einen solch versierten und europaorientierten Präsidenten zu haben. Er versucht schon seit einiger Zeit, alle Parteien in den Beratungs- und Entscheidungsprozess in Sachen EU einzubeziehen. Nicht immer mit Erfolg. Aber seine ruhige und überlegte Art macht das möglich, was angesichts der politischen Polarisierung in der Türkei möglich ist. Und was die Zypernfrage betrifft, so meinte er, dass das Militär jede vernünftige Kompromisslösung unterstützen würde, die auf den Prinzipien der UNO-Überlegungen, also konkret des Annan-Planes, beruhen würde.
Ich hoffe, er hat recht, ganz glauben kann ich das aber nicht. Allerdings verstehe ich die Enttäuschung der Türken über das Verhalten der EU. Denn die türkische Gemeinschaft der Insel Zypern hat den von der UNO ausgearbeiteten und von der EU empfohlenen Plan angenommen, der griechische Teil hat ihn abgelehnt. Aber nun ist dieser Teil in der EU und blockiert die Unterstützung der türkischen Bevölkerung der Insel. Diese sind nach Auffassung der EU Teil der EU, haben aber überhaupt keine Mitsprache, so z. B. bei den EU-Wahlen. Für mich ist das ein klarer Verstoß gegen die Prinzipien der Demokratie und des Rechtsstaates. Ich kann nur so wie meine türkischen Gesprächspartner hoffen, dass die angelaufenen Gespräche zwischen den Vertretern der beiden Volksgruppen auf Zypern nächstes Jahr zu einem Erfolg führen.

Stillstand oder Veränderung?

Insgesamt haben wir in Ankara einen sehr erfolg- und aufschlussreichen Besuch absolviert. Ich glaube auch, dass in den nächsten Jahren weitere Reformschritte unternommen werden. Allerdings werden diese Reformen angesichts der ungewissen Aussichten hinsichtlich des von der Türkei gewünschten Beitritts nur immer aus kleinen Schritten bestehen. Es fehlt an einer Vision, wie die in Wirklichkeit sehr heterogene türkische Gesellschaft in 20 Jahren aussehen soll und welche Schritte bis dahin gesetzt werden sollen. Die Vertreter der reinen Lehre von Atatürk wollen eher den Stillstand, die anderen, insbesondere in der AK-Partei, wollen Veränderungen, aber ihnen fehlt der Mut, sie auch entscheidend anzugehen.
Ebenfalls denkbar ist und es spricht vieles dafür, dass es zu einem „Stillhalteabkommen“ zwischen Militär und Ministerpräsident Erdogan kam: Das Militär duldet auf der einen Seite einen Staatspräsidenten aus der AKP, die AKP wird nicht durch Gerichtsbeschluss verboten und auf der andren Seite verpflichtete sich die Regierung, mit den Reformen nur sehr vorsichtig voran zugehen und insbesondere in der Kurdenfrage keine dramatischen Schritte zu setzen. Wenngleich ich ein gewisses taktisches Verständnis für eine solche Vorgangsweise habe, der Türkei täte eine derartige stillschweigende Vereinbarung nicht gut.

Große Ambivalenz

Eine solche Vermutung wurde auch in Gesprächen geäußert, die ich heute in Istanbul bei der Zeitung ZAMAN geführt habe. Ich hatte bereits im Juni diese Zeitung besucht, die einen sehr rührigen Korrespondenten in Brüssel hat. Sie vertritt eine leicht islamisch-religiöse Richtung mit einer Ablehnung des starken Einflusses der Militärs und der strengen kemalistischen Lehre. Demgemäß ist sie an einer stärkeren Vielfältigkeit des Landes inklusive der Kurden interessiert und auch an einer Aussöhnung mit Armenien. Vor allem will sie unbedingt am pro-europäischen Kurs festhalten. Aus den Fragen, die mir in einem längeren Interview gestellt wurden und den informellem Gesprächen davor bemerkte ich die Enttäuschung über das Nachlassen des Reformeifers der Regierung Erdogan. Und auch einige Kommentare der letzten Wochen lassen darauf schließen.
Die Türkei ist und bleibt ein widersprüchliches Land. Nach wie vor ist das Ringen um einen Weg in die Moderne unter Beibehaltung bestimmter Traditionen spürbar. Vor allem: Was soll modernisiert und was soll beibehalten werden? Das ist zweifellos ein Thema in allen Staaten und Gesellschaften, aber in der Türkei ist diese Auseinandersetzung, angesichts der auch in der Verfassung festgeschriebenen Grundsätze des Kemalismus, also der Lehren des Staatsgründers Atatürk, besonders heftig. Denn der Islam ist nur unter Konzessionen mit der strengen Auslegung des sekulären Kemalismus vereinbar. Und der rigide Nationalismus der Atatürk-Epigonen, vor allem im Militär, ist mit einer Stärkung der Rechte der Kurden und mit einem Einbekenntnis der Gräueltaten gegenüber den Armeniern schwer vereinbar.

Unabdingbare Partnerschaft

Wir Europäer haben jedenfalls ein großes Interesse an einer Modernisierung des Landes, die mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gelassenheit bringt. Genau einen solchen Partner brauchen wir in unserer süd-östlichen Nachbarschaft: für unsere Sicherheit und Stabilität. Wir brauchen also die Türkei nicht als Land, das Unsicherheit und Instabilität in die EU bringt, sondern das hilft, in unserer Nachbarschaft ein mehr an Ruhe und Stabilität zu schaffen. Noch ist nicht entschieden, ob dies von innerhalb oder als Partner von außen geschehen wird. Je weniger die Türkei Reformen durchführt, desto mehr ist nur eine Lösung möglich, die sie eigentlich ablehnt, nämlich eine „privilegierte Partnerschaft“ mit der EU – also als Land außerhalb von der EU.
Aber unwichtig für die EU wird die Türkei nie, und das gilt auch umgekehrt. Und allein das sollte uns anspornen, möglichst viel gemeinsam zu unternehmen. Ob und wann die Türkei Mitglied der EU wird, kann heute niemand wirklich abschätzen. Aber die Verhandlungen mit offenem Ausgang fortzusetzen, macht jedenfalls Sinn. Diesbezügliche Blockaden sollten möglichst bald aufgehoben werden. Besonders gilt dies für das Energiekapitel. Es ist wenig überzeugend, seitens der EU von der Türke eine grosse Bereitschaft bezüglich unseres Wunsches nach einer stärkeren Diversifizierung der Energieversorgung zu verlangen und anderseits nicht bereit zu sein, über eine Angleichung in der Energiepolitik zu reden.

Istanbul, 26.11.2008