Eine Friedensordnung für Europa

Eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik sollte sich primär auf die Vorbeugung von Krisen und Konflikten und die Erhaltung des Friedens sowie der inneren Stabilität konzentrieren. 
Vergangenen Dienstag haben wir im zuständigen Ausschuss des Europäischen Parlaments über einen Bericht abgestimmt, der sich mit der Entwicklung der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik beschäftigt.

Aufs und Abs

Betrachtet man die Geschichte der Europäischen Union, dann kam diese Entwicklung eigentlich erst im letzten Jahrzehnt in Gang. Und es hat dabei viele Auf und Abs gegeben. Ich erinnere zum Beispiel an den Versuch Adenauers und De Gaulles, eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft zu gründen. Oder an den Fall des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer, nach dem sich jene sicherheitspolitischen Veränderungen in Europa abgezeichneten, die der Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik den Anstoß gegeben haben.
Man hätte ja meinen können – und viele haben es gehofft, ich zähle mich selbst dazu -, dass nach den Jahren 89 und 90 auf Grund des Niedergangs des Kommunismus und nach Auflösung des Warschauer Paktes Verteidigungspolitik und Verteidigungsausgaben nicht mehr jene bedeutende Rolle spielen würden wie in den Jahren davor. Und es hat in diesem Sinn auch durchaus eine Friedensdividende gegeben, indem die Verteidigungsausgaben tendenziell zurückgegangen sind. Allerdings hat es parallel dazu Bemühungen gegeben, nicht der NATO neue Aufgaben zu geben und sie gewissermaßen als Weltpolizisten zu etablieren, sondern innerhalb der Europäischen Union Verteidigung zu einem Thema zu machen bzw. mittels der Europäischen Union auch einen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspfeiler aufzubauen.

Die Petersburger Erklärung

Im Juli 1992 kam es dann zur so genannten Petersburger Erklärung. In dieser Erklärung haben die Vertreter der Europäischen Union, also die damaligen Mitgliedsstaaten, drei Aufgaben der Europäischen Union definiert: Humanitäre Aufgaben, Friedenserhaltung und Friedensschaffung. Und es wurde vereinbart, dass es möglich sein sollte, militärische Einsätze unter der Ägide der Westeuropäischen Union vorzunehmen.
Parallel dazu gingen aber die Diskussionen innerhalb der NATO weiter, inwieweit Europa und die USA Gleichgewichte innerhalb der NATO erhalten sollten. 1994 wurde die Combined Joined Task Force auf dem NATO-Gipfel in Brüssel gegründet, die die Truppen der Europäischen Union (der Westeuropäischen Union) bzw. der USA innerhalb der NATO auf eine gemeinsame gleichberechtigtere Plattform gestellt hat.

Rechtliche Grundlage

Der Vertrag von Amsterdam aus dem Jahre 1997 hat schliesslich die rechtliche Grundlage für eine wirklich gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik geschaffen. Wobei es vor allem auch darum ging, durch akkordierte Strategien und Aktionen dieser gemeinsamen Sicherheitspolitik auch ein Gesicht zu geben. Geregelt wurde, dass gemeinsame Aktionen nur mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden können, wenngleich ein Staat aus wichtigen Interessen ein Veto einlegen könnte. Auf der anderen Seite wurde den Staaten generell die Möglichkeit gegeben, durch ein Opting out gemeinsame Aktionen zwar nicht zu behindern, aber sich selbst aus der Teilnahme auszuschliessen.

Step by step

Auch während der österreichischen Präsidentschaft gab es einige weitere Schritte in Richtung einer gemeinsamen Sicherheitspolitik. Beim informellen Pörtschacher Gipfel im Oktober 1998 gab Tony Blair bekannt, dass es seitens Grossbritanniens keinen Widerstand mehr gegen eine militärische Zusammenarbeit auf Europäischer Ebene auch außerhalb der NATO geben werde. Und einen Monat später fand das erste Treffen der Verteidigungsminister innerhalb der Europäischen Union unter Vorsitz des damaligen österreichischen Verteidigungsministers statt. Wieder ein Monat später gab es, diesmal allerdings in Saint Malo, ein Treffen der französischen und britischen Regierungs- bzw. Staatsspitze, wo es in einer gemeinsamen Erklärung hieß, dass beide Länder bereit sind, in Europa verstärkt auch auf militärischen Gebiet, also dem Gebiet der Verteidigungspolitik zusammen zu arbeiten.
In den beiden Gipfeln von Köln und Helsinki kam es dann zur näheren Ausführung darüber, wie weit die Petersburger Aufgaben innerhalb der Europäischen Union organisiert sein sollen, und gerade in Helsinki gab es dann die Entscheidung für ein so genanntes Leitziel, auch headline Goal genannt, durch das bis zum Jahr 2003 50 000 bis 60 000 Soldaten einsatzbereit sein sollten – wobei diese schnelle Eingreiftruppe innerhalb von 60 Tagen mobilisierbar sein sollte.

Bewusstseinsfaktor Kosovo

Es ist spannend zu sehen, wie rasch diese grundlegende und gleichzeitig sehr konkrete Definition der Petersburger Zielsetzungen und Maßnahmen umgesetzt und eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa organisiert werden konnte und dass diese Entscheidung unter Vorsitz eines neutralen Landes (Österreichs) bereits vorbereitet werden konnte und dann unter Vorsitz eines paktungebundenen Landes, nämlich Finnland, auch tatsächlich getroffen wurde. Dass das gerade im Jahr 1999 passiert ist ,ist aus meiner Sicht auch wieder kein Zufall. Der Kosovo-Krieg hat vielen Europäern vor Augen geführt, dass es in ihrem Nahbereich durchaus große Krisen gibt und geben kann, dass aber die Europäische Union nicht bzw. noch nicht fähig ist, auf diese Krisen auch entsprechend zu reagieren und im Stande ist, diese Krisen einzudämmen und Gefahren, die von dort ausgehen könnten, zu verhindern.
Diese Etappen, die in weniger als einem Jahrzehnt die Grundlage für eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf europäischen Boden innerhalb der Europäischen Union geschaffen haben, waren nicht nur die Grundlagen für weitere Beschlüsse auf dem Gipfel in Feira und für den Anfang Dezember stattfindenden Gipfel in Nizza, sondern auch dafür, dass das Europäische Parlament sich Gedanken gemacht hat, wie diese europäische Verteidigungspolitik organisiert sein soll.

Instrument im Dienste der Außenpolitik

Im Bericht Lalumiere stellen wir klar fest, dass die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik kein Ziel an sich darstellt, sondern ein Instrument im Dienste der Außenpolitik sein muss. Allerdings stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie die Ziele einer europäischen Außenpolitik definiert sind und wann ein militärisches Instrument zur Verfolgung dieser Ziele der Außenpolitik eingesetzt werden soll. Diese Frage ist nach wie vor zum Großteil unbeantwortet, und in diesem Zusammenhang kommt immer wieder meine scheinbar nicht unbegründete Befürchtung durch, dass wir uns in relativ kurzer Zeit wichtige Instrumente erarbeitet haben, dass wir aber nicht wissen, wann wir diese Instrumente anwenden sollen und was wir mit ihnen wirklich erreichen wollen.
Wir vom Europäischen Parlament, sicherlich in besonderem Ausmaß die Sozialdemokraten, aber auch die Grünen und einige andere Mitglieder aus den anderen Fraktionen, gehen davon aus, dass primär die nicht-militärischen Mittel der Krisenbewältigung ausgebaut werden soll. Daher ist für uns die Vorbeugung von Krisen und Konflikten und die Erhaltung des Friedens und der inneren Stabilität während und nach diesen Krisen und Konflikten von ganz besonders zentraler Bedeutung.

Europäische Polizei

Auch das wird nicht ohne Sicherheitskräfte möglich sein. In diesem Fall steht aber primär der Polizeieinsatz im Vordergrund, und wir wünschen uns eine starke europäische Polizeitruppe von etwa 5 000 Personen, die ebenfalls bis zum Jahr 2003 aufgebaut werden soll, so wie das jüngst in Feira festgesetzt wurde. Weiters meinen wir, dass jedenfalls 1 000 Polizisten innerhalb einer Frist von 30 Tagen bereitgestellt werden sollten, wenn es erforderlich ist. Darüber hinaus könnte es ein europäisches Friedenskorps geben, das parallel bzw. nach den Polizeiaktionen zum Einsatz kommen und im Rahmen der Humanitären Hilfe der Vermittlung beim Wiederaufbau helfen könnte.

Aber es ist jedem klar, dass rein polizeiliche Aktionen in vielen Fällen nicht helfen werden, Konflikte zu hüten oder zu lösen. Daher unterstützt das Europäische Parlament die Ziele von Köln und Helsinki, 50 000 bis 60 000 Personen aufzustellen, die innerhalb von 60 Tagen organisiert werden können. Hier geht es sicherlich darum, dass diese Soldaten kein eigens permanent organisiertes und stehendes Heer bedeuten, sondern innerhalb der einzelnen Länder geschaffen werden sollten.

Professionalisierung des Heeres

Darüber hinaus gilt es natürlich in Europa die Beschaffungs- und Forschungspolitik auf dem Gebiet der Rüstung zu koordinieren und letztendlich auch zu harmonisieren. Und es gilt, die Professionalisierung des Heeres voranzutreiben. Viele meinen mit Professionalisierung vor allem die Tatsache, dass ein Berufsheer aufgebaut werden sollte. Das ist allerdings keine europäische Entscheidung, sondern es obliegt den Ländern, ob aus ihrer Sicht diese Professionalisierung nur über ein Berufsheer geht oder auch über die allgemeine Wehrpflicht erreicht werden kann.
Ich selbst bin in diesem Punkt kein Experte und habe auch keine ideologisch fixierten Anschauungen. Rein aus dem Bauch heraus würde ich meinen, dass ein Berufsheer unter Entfall der allgemeinen Wehrpflicht eine durchaus adäquate Lösung für Morgen wäre. Andererseits höre ich gerade immer wieder bei meinen Besuchen bei den Truppen im Auslandseinsatz, also in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo, dass die österreichischen Offiziere die Bedeutung der allgemeinen Wehrpflicht mit dem Hinweis auf die vielen unterschiedlichen Berufe und Ausbildungssituationen unterstreichen, in denen sich die Wehrpflichtigen befinden.
Diese kommen gerade den Auslandseinsätzen zu gute, bei denen es nicht unbedingt auf die höchste Professionalität im militärischen Sinn, sondern oftmals auf die Unterstützung der Zivilbevölkerung beim Wiederaufbau des Landes ankommt.

Institutionelle Fragen

Natürlich sind weitere Fragen, wie die militärische Komponente der Europäischen Union zu organisieren ist, viele institutionelle Probleme zu lösen. Einerseits geht es um das Verhältnis zur NATO – hier ist ein reger Austausch von Informationen notwendig, um überhaupt der europäischen Komponente eine Selbständigkeit zu geben, auch was die Frage der Logistik, der Information, etc. betrifft. Denn in vielen Fällen können wir das auf europäischer Ebene selbst entwickeln, aber in vielen anderen Fällen muss man dabei auf die Unterlagen, Kenntnisse und Erfahrungen der NATO zurückgreifen können.

Parlamentarische Kontrolle

Was nun das Verhältnis zur Westeuropäischen Union betrifft, so ist gerade in diesen Tagen beschlossen worden, die Westeuropäische Union ihrem Ende zuzuführen und nur einige Elemente, bei denen es Sinn macht, in die Europäische Union zu überführen. In diesem Zusammenhang stellt sich zwangsläufig die Frage der parlamentarischen Kontrolle. Die Westeuropäische Union hat ja einen Rat und eine parlamentarische Versammlung, bestehend aus Abgeordneten aus den nationalen Parlamenten.
Unser Vorschlag seitens des Europäischen Parlamentes ist es, eine neue kontrollierende, begleitende parlamentarische Körperschaft aus Mitgliedern des Europäischen Parlaments, die sich vor allem um die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu kümmern haben, zu installieren – denn die Mitglieder der nationalen Parlamente sollen ja vor allem die nationale Verteidigungspolitik inklusive der Ausgaben, kontrollieren und beobachten.

Gemeinsame europäische Institution

Es wäre eine sehr gefährliche Situation, wenn wir die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht einer permanenten begleitenden Kontrolle unterlegen würden, wenn also die parlamentarische Dimension ausgespart werden würde. Das Argument, für nationale Politik seien ohnehin die nationalen Parlamente zuständig und die gemeinsame Außenpolitik würde ohnehin vom Europäischen Parlament beraten, ist in diesem Fall nicht zulässig. Denn gerade die dazwischen liegenden Bereiche, wie eben die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik, müssten einer sinnhaften Kontrolle unterworfen werden.
Und diese sollte nicht widersprüchlich zwischen Europäischer Union und einzelnen Mitgliedsstaaten erfolgen, sondern aus einer gemeinsamen Institution heraus, die mit wenig Bürokratie und Verwaltungsaufwand auskommen könnte. Die aber auch den Faden von Meinungsaustausch vor allem auf parlamentarischer Ebene herstellen sollte, um die Abgeordneten im Europäischen Parlament und auch in den nationalen Parlamenten jeweils mit ausreichenden Informationen über ihre Kontrolltätigkeit zu versorgen.
Diese Reflexion über bestehende und zukünftige Einrichtungen an Instrumenten führt mich zu meiner einleitenden Frage zurück, was wir mit diesen Instrumenten eigentlich bezwecken. Einerseits geht es sicherlich um die kollektive Verteidigung unseres gemeinsamen Europas. Genau das ist aber solange nicht geregelt, solange nicht auch innerhalb der Europäischen Union der Artikel 5 des WEU-Vertrages, die Beistandspflicht, übernommen wird. Es geht dabei um die Pflicht jedes einzelnen Mitgliedstaates, bei einem Angriff auf ein anderes Mitgliedsland zu helfen.

Beistandspflicht

Die Beistandspflicht steht natürlich in einem gewissen Widerspruch zur Neutralität. Ich für meinen Teil würde wie viele andere politisch argumentieren, dass im Falle der Europäischen Union ja ein gemeinsames neues Gebilde, eine gemeinsame neue Familie entsteht und eigentlich niemand berechtigt ist oder von niemanden verlangt werden kann, dass er zusieht, wie sein Bruder oder seine Schwester attackiert wird, mit dem Argument, er wolle sich grundsätzlich neutral verhalten. Es ist etwas anderes, ob derjenige, der attackiert, wie Österreich ebenfalls Mitglied der Europäischen Union ist oder ob es sich um irgendeinen Konflikt zwischen zwei Drittstaaten handelt.
Es ist sehr unwahrscheinlich, dass eine solche Attacke auf ein Mitglied der Europäischen Union entsteht, aber es könnte theoretisch natürlich passieren, dass – dieses Fallbeispiel wird immer wieder genannt – Griechenland von der Türkei in einer bestimmten Form angegriffen wird. Die Beistandspflicht innerhalb der Europäischen Union, wenn es eine solche einmal geben würde, hätte natürlich zur Konsequenz, dass alle Griechenland helfen müssten, sich gegen diese Attacke zu wehren.
Mit diesem Beispiel möchte ich niemanden etwas unterstellen, auch der Türkei nicht. Aber es ist eben eine reale Situation, dass sich auf Grund der Konflikte zwischen Griechenland und der Türkei ein solches Szenario noch am ehesten entwickeln könnte, wenngleich ich es für sehr unwahrscheinlich halte. Die Neutralität zwischen einer hinsichtlich Konflikten zwischen Beitrittsstaaten und einem von Konflikten betroffenen Bruder- oder Schwesterstaat innerhalb der Europäischen Union aufzuteilen, ist sicherlich möglich. Es würde aber aus meiner Sicht eine Änderung des Neutralitätsgesetzes bedeuten.

Rolle der Vereinten Nationen

Ebenfalls noch nicht beantwortet ist, wann im Fall eines Einsatzes der Europäischen Union ein Zustimmen der Vereinten Nationen erforderlich ist und wann nicht. Grundsätzlich, vom ganzen Selbstverständnis der Vereinten Nationen heraus und von dem, was ich von der UNO erwarte, muss man natürlich davon ausgehen, dass solche Einsätze militärischer Natur immer einer Genehmigung der Vereinten Nationen bedürfen. Nun sind in diesen Fragen die Vereinten Nationen ja nicht die Generalversammlung – es geht hier um den Sicherheitsrat, wo es ja ein Vetorecht einiger Großmächte gibt. Ich halte das in der Frage von schweren humanitären Verletzungen und Gefährdungen für problematisch.
Insbesondere in solchen Fällen sollte es möglich sein, dass die Vereinten Nationen einen Ausweg von einer solchen Blockade finden könnten. Es könnte zum Beispiel der Generalsekretär der Vereinten Nationen auf Grund einer Feststellungserkenntnis des Internationalen Gerichtshofes der Generalversammlung vorschlagen, dieses Veto zu überstimmen.

Ausnahmefälle

Wenn also der Internationale Gerichtshof feststellen würde, dass etwa schwere Verletzungen der Menschenrechte erfolgen, wenn der Generalsekretär meint, durch den Einsatz der Vereinten Nationen hier Abhilfe schaffen zu können, selbst wenn die Durchführung der regionalen Organisationen zum Beispiel der Europäischen Union unterliegen würde, und wenn die Mehrheit der Generalversammlung zustimmen würde, dann sollte es möglich sein, solche Einsätze zu vollziehen. Diese Regelung gibt es aber derzeit nicht.
Das heißt, es müsste, so wie im Kosovo, letztendlich eine Entscheidung für einen solchen Einsatz geben – mit einer gewissen Zustimmung und dem Verständnis des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, aber ohne offizielle Genehmigung. Das ist problematisch, es scheint mir aber nicht ganz vermeidbar zu sein, dass es wieder zu einem solchen Schritt kommen kann.

Risikofaktoren für Europa

Damit komme ich zu meiner letzten und grundsätzlichen Bemerkung. In welchen Fällen sollte es von der Substanz her überhaupt möglich bzw. notwendig sein, dass die Europäische Union militärische Aktionen setzt? Wenn man von den Risikofaktoren, unabhängig von der regionalen Stabilisierung oder Destabilisierung ausgeht, dann werden einerseits Faktoren wie das Abschneiden Europas von der Versorgung von wesentlichen Grundstoffen, zum Beispiel Öl, und andererseits die Migrationsfrage erwähnt. Die Migrationsfrage möchte ich dabei von vornherein ausscheiden, weil es doch nicht sein kann, dass wir gerade diese Frage – auch im Extremfall – mit militärischen Mitteln lösen wollen.
Bei der Frage der Versorgung kann es sicherlich sein, dass eine Verteidigung Europas im Extremfall auch durch militärische Operationen, die eine gewisse Versorgung und Sicherheit wieder herstellen, möglich sein müsste. Allerdings wird man mit 50 000 bis 60 000 Mann und der vorgesehenen Ausrüstung etc. in diesen Fällen sicherlich nicht wirklich eingreifen können. Es handelt sich dabei eher um Aufgaben, die, wenn überhaupt, auf die NATO oder andere größere Organisationen zu übertragen wären. Ich hoffe, dass es nie zu solchen Einsätzen kommt bzw. kommen muss. Aber weder möchte ich blauäugig durch die Welt gehen noch mögliche Gefährdungen von vornherein ausschliessen.

Partnerschaft mit Russland

Ein reales Gefahrenpotential sind Krisen regionaler Natur – Krisen, die sich in den zukünftigen Grenzbereichen der Europäischen Union abspielen könnten: sei es mit Weißrussland, sei es mit der Ukraine. Gerade auch hier ist es deshalb entscheidend, krisenvorbeugend vorzugehen. Und gerade in diesem Bereich ist es besonders wichtig, die Brücke der Verständigung zu Russland zu schlagen. Zwar ist Russland kein leichter Partner. Die innere Destabilisierung, die Unsicherheit, die in Russland selbst verspürt wird und die nukleare Überschussbewaffnung sind Faktoren, die ein geordnetes, vernünftiges, kooperatives Verhältnis mit der Europäischen Union schwierig machen. Dennoch genau das muss unser Ziel sein.
Dass die aktuelle Situation mit dem Krieg in Tschetschenien noch zusätzliche wertorientierte Skepsis gegenüber einer Kooperation mit Russland schafft, ist mir durchaus bewußt. Es gilt aber gleichzeitig, diese Kritik am russischen Verhalten in Tschetschenien und auch in anderen Bereichen zu äußern und dennoch die Vision zu haben, mit Russland als einem wichtigen Partner eine Friedensordnung in Europa zu schaffen.

Pulverfass Balkan

Eine andere Region in unserem Nahbereich, die nach wie vor nicht stabil ist, ist sicherlich der Balkan – das haben auch die jüngsten Entwicklungen gezeigt. Zwar ist die Situation heute viel besser als vor vier, fünf Jahren oder noch vor einem Jahr, aber sie ist noch nicht stabilisiert und es können immer wieder neue Funken überspringen und das Pulverfass bzw. die verschiedenen Pulverfässer zum Explodieren bringen. Um in dieser Region negative Folgewirkungen eines sich ausbreitenden Flächenbrandes zu vermeiden, mag es sicherlich sinnvoll sein, ein militärisches Instrument in der Hand zu haben, um der Friedenserhaltung und Friedensstiftung beizutragen.
Es geht dabei aber nicht darum, direkte europäische Interessen am Balkan durchzusetzen – so wie früher die Österreicher, die Deutschen, die Franzosen, die Engländer und die Russen, ganz zu schweigen von den Türken, ihre Interessen durchsetzen wollten. In diesem Fall geht es vielmehr darum, den Völkern und Ländern selbst die Möglichkeit zu geben, diese Region in friedlicher Kooperation miteinander zu entwickeln. Auch dazu ist sicherlich eine Kooperation mit Russland sinnvoll und vorteilhaft. Aber auch in diesem Fall nicht zur Aufteilung von Interessen, sondern um Russland und alle diejenigen, die heute noch ein Auge auf Russland werfen, auf Grund einer gewissen orthodoxen oder slawophilen Orientierung zu bewegen, der Region eine Chance auf eine eigenständige friedliche Entwicklung zu geben.

Krisenregion Mittelmeer

Auch was das Mittelmeer betrifft, stehen wir in einer sehr gespannten Situation. Es ist nicht nur die besonders dieser Tage heiße und explosive Situation im Nahen Osten, sondern der gesamte Mittelmeerraum südlich der europäischen Gestaden, der potentiell krisengefährdet ist. Mir geht es in diesem Kontext sicherlich nicht darum, eine unmittelbar europäische militärische Intervention ins Auge zu fassen, sondern eher darum, Sicherheitspartnerschaften zwischen der Europäischen Union und den Ländern dieses Raumes anzupeilen.
Für diese Sicherheitspartnerschaften kann es auch notwendig sein, von uns aus militärische Kapazitäten zu haben, die im Fall des Falles mit militärischen Kapazitäten aus diesem Raum kombiniert werden können.

Schlussfolgerungen

Was ist meine Schlussfolgerung aus allen diesen Beispielen? Es kommt mir nicht so sehr darauf an, auf aktuelle und unmittelbare Krisen und Konflikte eingestellt und vorbereitet zu sein. Mir geht es eher darum, die bestehenden militärischen Strukturen so umzubauen, dass daraus gemeinsame europäische Strukturen entstehen und dass diese gemeinsamen europäischen Strukturen sich nicht automatisch der NATO und damit den amerikanischen hegemonialen Interessen unterordnen, sondern europäischen Zielsetzungen dienen. Weder nicht-europäische hegemoniale noch neoliberalistische Vorstellungen, sondern – noch einmal sei es gesagt – eine klare Orientierung auf Friedenssicherung und Friedensschaffung steht im Mittelpunkt meines Interesses.
Es ist kein Zufall, dass diese letzten Bemerkungen vielleicht etwas diffus und zu wenig präzise wirken. Aber bei all der Literatur, die ich gelesen habe, bei all dem, was ich bei den Diskussionen, die ich selber auch geführt und an denen ich teilgenommen habe, gehört habe, stand im Zentrum der Überlegungen immer wieder die Frage, wie wir innerhalb der Europäischen Union militärische Instrumente aufbauen können. Und viel zu wenig wurde der Frage nachgegangen, wie wir nicht-militärische Zielsetzungen definieren und nicht-militärische Instrumente aufbauen können. Auch die Frage, was wir überhaupt im Falle des Falles mit militärischen Instrumenten wollen oder wann es überhaupt denkbar wäre, sie einzusetzen, wurde nur am Rande behandelt.

Das Angebot darf nicht die Nachfrage bestimmen

Daraus ergibt sich immer mehr die Gefahr, dass sich das Angebot – nämlich die Existenz militärischer Strukturen – eine Nachfrage sucht. Allerdings sei unterstrichen, dass – auch wenn es für manche viel erscheinen mag – 50 000 bis 60 000 Männer, vielleicht auch Frauen, in militärischer Hinsicht eine sehr kleine Truppenstärke ist. Und ich erwarte hinsichtlich der militärischen Ausrüstung auch keine überaus große, nach Einsatz hungernde Kapazität.
Ich hoffe jedenfalls, dass wir mit aller Kraft daran arbeiten, dass die militärischen Kapazitäten künftig eher zur Abschreckung, zur Vorbeugung, zur Sicherung und ganz selten zur Friedensschaffung dienen, aber jedenfalls niemals zur Destabilisierung herangezogen werden. 
Wien, 17.11.2000