Eine neue Erweiterungsstrategie

Wir müssen die Fragen der Erweiterung und der Nachbarschaftspolitik in Zukunft miteinander verknüpfen – ohne heute jedwede Zusagen über einen Beitritt zu machen, die auch bei unserer eigenen Bevölkerung lediglich auf Kopfschütteln stoßen würden.
Kürzlich haben uns im Europäischen Parlament zwei Gäste besucht, mit denen wir in einem engeren Kreis sehr intensive Diskussionen geführt haben. Zum einen war das der Präsident Georgiens, Micheil Saakaschwili, der im Europäischen Parlament in Straßburg eine Ansprache gehalten hat und zum anderen Alexandra Timoschenko aus der Ukraine, eine Heroin der Orangenen Revolution, die uns in Brüssel besucht hat.
Beide sind äußerst interessiert daran, dass sie selbst, aber auch ihre Länder in engstem Kontakt zur Europäischen Union stehen. Beide wissen, dass von einer Mitgliedschaft zum jetzigen Zeitpunkt nicht die Rede sein kann. Und beide sind gegenüber Russland und dessen Versuchen, seinen Einfluss in diesen Ländern zu bewahren und zu verstärken, sehr kritisch eingestellt.

Kritisch gegenüber Russland

Im Falle Georgiens gibt es bekanntlich Konflikte mit zwei abtrünnigen Provinzen, die von Russland unterstützt werden – Abchasien und Südosetien. Bei der Ukraine geht es mehr um die von Alexandra Timoschenko heftig kritisierte Entwicklung, dass der alte und neue Premierminister Janokowitsch der alten Nomenklatura, die zum Teil sehr enge Beziehungen zu Russland pflegt, erneut ein Machtgefüge verleiht.
Präsident Saakaschwili ist nicht unbedingt ein einfacher Gesprächspartner. Ich habe nicht nur seine Rede im Europäischen Parlament mitverfolgt, sondern im Außenpolitischen Ausschuss auch entsprechende Fragen an ihn gerichtet. Zudem hatte ein gemeinsames Arbeitsfrühstück mit ihm, Martin Schulz, Kann Marinus Wiersma und mir stattgefunden, das sehr positiv verlaufen ist. Saakaschwili zeigte sich auch in diesem Gespräch kritisch gegenüber Russland, war dabei aber nicht von Hass und Feindschaft beseelt, sonder hat versucht, dafür zu werben, dass wir weiterhin im Dialog mit Russland bleiben. In diesem Dialog sollten wir aber mit einer Stimme sprechen und zugleich Russland immer wieder auffordern, die Konflikte mit den Nachbarn auf friedlichem Weg zu lösen.

Ukraine braucht Reformperspektiven

Auch Alexandra Timoschenko präsentierte sich als durchaus beeindruckende Persönlichkeit. Ihre Härte und Entschlossenheit kommt nicht in ihrem attraktiven Gesicht zum Ausdruck, sondern auch in ihrer Sprache und ihren Formulierungen. Sie möchte unter anderem engere Kontakte und Beziehungen zur Sozialdemokratie aufbauen. Wir haben unsererseits Kontakte zur Sozialistischen Partei von Parlamentspräsident Oleksandr Moroz, der uns ebenfalls schon in Straßburg besucht hat.
Wir sind uns allerdings nicht ganz im Klaren darüber, ob diese traditionelle Beziehung durch die Unterstützung von Moroz, der früher ein Träger der Orangenen Revolution gewesen ist, heute noch sehr fruchtbringend ist. Seine Linie und die Linie der Sozialistischen Partei sind uns nicht mehr ganz klar. Ich verstehe, dass man keine Politik betreiben sollte, die die Ukraine spaltet, sondern eine Politik, die die Menschen, die Regionen und die wirtschaftlichen Prozesse zusammenbringt. Dennoch muss es ein klares Profil der Reformen geben – der inneren Reformen, der Schritte zum Beitritt zur WTO und des Bekenntnisses zu den Grundsätzen der Europäischen Union.

Großeuropäische Lösung

Die Ukraine sollte sich in diesem Sinn eine eindeutige Reformenperspektive zulegen. Und diese hängt zweifellos auch sehr stark mit einer europäischen Reformenperspektive zusammen. Aus meiner Sicht müssen wir uns jedenfalls auch noch in der kommenden Zeit intensiv mit diesen Fragestellungen beschäftigen.
Wir sollten allerdings keine „kleine“ europäische, sondern eine großeuropäische Lösung anstreben. Ohne Verfassungsprozess und ohne Stärkung der europäischen Institutionen ist die Europäische Union nicht erweiterungsfähig bzw. würde die Erweiterung sie vor immense Probleme stellen – hinsichtlich der Schlagkräftigkeit und der gemeinsamen Formulierung von politischen Inhalten.

Gemeinsame Basis

Um diese Frage ging es auch bei einer Debatte, die wir in Zusammenhang mit der Erweiterungsstrategie und einem Papier, das die Europäische Kommission im November vorgelegt hat, geführt haben. Dabei kam es zu teilweise heftigen Kontroversen, auch innerhalb der fraktionellen Arbeitsgruppe des Außenpolitischen Ausschusses sowie im Außenpolitischen Ausschuss selbst. Die Kluft zwischen jenen, die de facto für einen Stopp der Erweiterung eingetreten sind, und jenen, die dem Erweiterungsprozess eher positiv gegenüber stehen und die auch zukünftige Wege der Erweiterung suchen, schien fast unüberbrückbar. Ich habe schließlich versucht, in unserer Fraktion einige Punkte klarzustellen und eine gemeinsame Basis zu schaffen.
1.) Die vergangenen Erweiterungen sind sehr positiv zu beurteilen und haben einen Beitrag zur Stärkung Europas geleistet – bei allen Problemen, die es im Einzelnen gibt.
2.) Es ist die Phase eingetreten, in der wir Europa konsolidieren und auch den Verfassungsprozess vorantreiben müssen. Ohne einen derartigen Verfassungsprozess können keine weiteren Erweiterungsschritte erfolgen.
3.) Wir können zum heutigen Zeitpunkt die Grenzen der Europäischen Union nicht festlegen. Wir benötigen daher Instrumente, die quasi ergebnisoffen sind. Sie sollen institutionellen Beziehungen aufbauen und nicht zwingend zur Erweiterung führen, diese aber auch nicht ausschließen.

Erweiterung und Nachbarschaftspolitik miteinander verknüpfen

In diesem Kontext habe ich auch meine Idee einer EU-Schwarzmeergemeinschaft vorgeschlagen. Ich habe dieses Vorhaben auch gemeinsam mit Jan Marinus als Antrag im Außenpolitischen Ausschuss eingebracht und es ist mit wenig Widerstand angenommen worden. Die von mir formulierte Grundtendenz wurde außerdem im Bericht des Außenpolitischen Ausschusses widergespiegelt. Ob dieser Bericht vom Plenum des Europäischen Parlaments in der Folge auch angenommen wird, bleibt abzuwarten.
Ich glaube jedenfalls, dass hier eine Richtung gefunden worden ist, die uns in den kommenden Jahren helfen kann, die Fragen der Erweiterung und der Nachbarschaftspolitik miteinander zu verknüpfen – ohne heute jedwede Zusagen zu machen, die auch bei unserer eigenen Bevölkerung lediglich auf Kopfschütteln stoßen würden. Selbst der Hinweis auf die Langfristigkeit dieser Vorhaben ist schwer zu kommunizieren. Nicht zuletzt im Kontext der Türkei entsteht ja immer wieder der Eindruck, es ginge darum, die heutige Türkei in ihrer jetzigen Form zum Mitglied der Europäischen Union zu machen. Aber das ist weder bei der Türkei noch bei der Ukraine der Fall.

Papstbesuch in der Türkei

Apropos Türkei: Der Besuch des Papstes in der Türkei scheint recht gut verlaufen zu sein. Viele hatten ja befürchtet, dass es erneut zu missverständlichen bzw. negativen Aussagen über die Unvereinbarkeit von westlichen Demokratievorstellungen und dem Islam kommen würde. Das scheint aber nicht eingetreten zu sein. Und so hoffe ich, dass dieser Türkeibesuch die unglücklichen Äußerungen des Papstes in den Hintergrund drängen kann und es in Zukunft zu einem Dialog kommt, der die bestehenden Unterschiede nicht verschweigt und der vor allem auch die Frage der Gewaltbereitschaft, die in der Vergangenheit sowohl die Praxis der christlichen wie der islamischen Religion gekennzeichnet hat, offen diskutiert.
Manche Elemente, die in einigen heutigen Interpretationen des Islam zum Ausdruck kommen, sollten dabei ebenfalls kritisiert und hinterfragt werden. Denn die Art und Weise, wie der Islam von manchen, wenn auch wenigen, in einer engstirnigen, ahistorischen und manchmal sogar aggressiven Form interpretiert wird, muss kritisiert werden. Aber es handelt sich dabei nicht um den Islam als solches, sondern um bestimmte Interpretationen. Zum Glück sehen viele den Islam heute auch ganz anders und es gibt einige, die ihn auch historisch interpretieren.

Brüssel, 28.11.2006