Eine schwierige Gratwanderung

Selbst wenn der Terrorismus im Baskenland aufhören würde, wäre damit das Problem regionaler Unabhängigkeit und Auflösungstendenzen innerhalb jener Staaten, die aus mehreren Regionen zusammengesetzt sind, nicht gelöst. 
Ich bin für meine Verhältnisse schon unheimlich früh auf den Flughafen gefahren, weil ich mein Ticket umtauschen muss, um in die Türkei zu fliegen. Die Situation der hungerstreikenden Gefangenen hat sich dermassen verschlechtert, dass immer mehr Menschen sterben. Daniel Cohn Bendit, ich selbst und eventuell noch einige andere Europaabgeordnete wollen nun spontan die Gefangenen besuchen, um zu retten, was zu retten ist und versuchen, beide Seiten zu einem Einlenken zu bewegen.
Wenn ich hier über den Flughafen blicke, dann sehe ich eine grüne, hügelige, in Österreich würde man sagen, Voralpenlandschaft. Es ist sicherlich nicht das, was man sich unter Spanien vorstellt. Das Baskenland ist generell nicht typisch für Spanien.

Beunruhigende Meinungsumfragen

Gemeinsam mit einem Kollegen aus Katalonien, aus Barcelona, habe ich ein Taxi zum Flughafen genommen. Auf der Fahrt zeigte er mir die neuesten Meinungsumfragen, die heute veröffentlicht wurden und die für die beiden großen, nicht nationalistischen Parteien nicht besonders positiv ausfielen. Die derzeit in der baskischen Regierung vertretenen nationalistischen Parteien und ihr Chef, der derzeitige Regierungschef, würden demnach wieder das Rennen machen.
Mein Kollege aus Barcelona meinte, er sei nicht überzeugt davon, dass dieser stark antinationalistische Wahlkampf so gut sei. Denn er führe vielfach zu einer Protesthaltung in der Unterstützung der Nationalisten.

Nationalismus ist nicht gleich Faschismus

Wir kennen in Österreich diese Argumente nur allzu gut. Aber sie sind weder beweisbar noch völlig von der Hand zu weisen. Was mich ausserdem stört, ist die völlige Gleichsetzung von Nationalismus und Faschismus. Aus meiner Sicht ist es nicht angebracht, die Nationalisten hier – und damit meine ich nicht den Terrorismus selbst, sondern die den Terrorismus tolerierenden Regierungsparteien aus den nationalistischen Lagern – mit Stalin und Hitler zu vergleichen. Trotzdem habe ich absolut kein Verständnis und keine Toleranz für die Nationalisten. Auch dann nicht, wenn sie den Terror „nur“ dulden und mit beschwichtigenden Worten gegenübertreten.

Drang nach regionaler Unabhängigkeit

Eine weitere Frage, die sich stellt, ist jene nach den anderen Regionen in Spanien. Ich habe dazu gestern Abend noch mit einem anderen Kollegen aus Katalonien gesprochen, der nicht sehr optimistisch ist. Nach seiner Einschätzung könnte sich diese Frage vor allem dann stellen, wenn kleine Länder wie Litauen, Lettland und Slowenien der EU beitreten. Vor allem unter den jüngeren Bevölkerungsschichten macht er auch jetzt schon eine Mehrheit für eine Unabhängigkeit, selbstverständlich immer im Gefüge Europas, aus.
So grotesk es klingt, Europa scheint tatsächlichen diesen doppelten Effekt zu erzielen: einerseits zur Verständigung, zum Frieden, zur Toleranz beizutragen, anderseits aber den lokalen und regionalen Nationalisten die Möglichkeit zu geben, sich von ihren jeweiligen Nationen oder Gesamtstaaten mit dem Hinweis abzulösen, in Europa sei man ohne die staatliche Zwischenebene gut aufgehoben.

Nationalistische Strömungen eindämmen

Wie es auch sei, selbst wenn der Terrorismus hier im Baskenland aufhören würde – was wirklich allen, die hier leben, zu wünschen ist – das Problem regionaler Unabhängigkeit und Auflösungstendenzen innerhalb jener Staaten, die aus mehreren Regionen zusammengesetzt sind, wäre dadurch nicht gelöst.
Kürzlich hat übrigens auch der französische Unterrichtsminister Chacques Lang vorgeschlagen, den regionalen Sprachen stärkere Unterstützung im Schulwesen zu geben. Das zeigt, dass selbst sehr zentralistisch, nationalistisch geführte Staaten sich überlegen, Lockerungen durchzuführen und den regionalen und sprachlichen Eigenheiten mehr Spielraum zu geben.
All das ist verständlich, all das kann man akzeptieren. Man sollte dabei aber trotzdem nicht vergessen, dass es letztendlich viel wichtigere wirtschaftliche und soziale Probleme gibt, als dem Nationalismus Entfaltungsmöglichkeiten zu geben. Aus meiner Sicht bedarf es einer harten, aber flexiblen Haltung gegenüber nationalistischen Strömungen. Hart, wo der Terrorismus droht, und flexibel, wo es um Lösungen geht, die mehr Toleranz, mehr Verständnis und mehr Akzeptanz zum Ausdruck bringen.  
Bilbao, 29.4.2001