Einen Koffer in Berlin

Bei der Neugestaltung von Berlins Mitte gilt es, verschiedenste Fragen zu lösen, und die gesamte Komplexität der Problematik macht diese Aufgabe ungemein spannend.  
Vom Besuch bei VertreterInnen der schwedischen Präsidentschaft bin ich direkt nach Berlin geflogen. Ich bin aber nicht als Europaabgeordneter in die deutsche Hauptstadt gekommen, sondern um eine interessante, spannende und auch ehrenvolle Aufgabe vorzubereiten.

Die Nominierung

Die deutsche Bundesregierung hat mich gemeinsam mit dem Berliner Senat, also der Berliner Landesregierung, als Vorsitzenden einer Kommission nominiert, die ein wichtiges städtebauliches Problem in Berlin lösen bzw. die Rahmenbedingungen für eine Lösung erarbeiten soll. Es geht darum, die Frage des Wiederaufbaus des alten Berliner Schlosses im Zusammenhang mit der Frage der Weiterexistenz des so genannten Palastes der Republik aus DDR-Zeiten sowie die gesamte Neugestaltung dieses wichtigen Areals von Berlin-Mitte zu diskutieren und entscheidungsreif zu machen.

Vom Stadtschloss zum Palast der Republik

Es waren das Regime in der DDR und vorwiegend Walter Ulbrecht, die durch die Sprengung des zwar zerstörten, aber durchaus wiederaufbaufähigen Stadtschlosses einen klaren Schlussstrich zur imperialen, monarchistischen, vielleicht auch militaristischen Vergangenheit des alten Deutschlands ziehen wollten. Zum Teil anstelle dieses Stadtschlosses wurde in der Folge der Palast der Republik errichtet, in dem sowohl das so genannte Parlament der DDR, die Volkskammer, als auch gastronomische Einrichtungen, Ball- und Kongressäle, etc. Platz fanden, die nach der Ideologie der DDR insgesamt ein Zentrum für das Volk bzw. für die Republik darstellen sollten.
Der Palast der Republik wird derzeit von Asbest befreit, aber eine Entscheidung über seine weitere Existenz ist bisher nicht getroffen worden. Viele Berliner Stimmen, auch unter Führung eines reichen Berliners, Herrn Bodins, haben sich nicht nur für die Wiedererrichtung des Schlosses ausgesprochen. Es wurde sogar ein Teil des Schlosses in Form einer Plastikattrappe wieder errichtet, um auch den gestalterischen und vor allem städtebaulichen Eindruck wieder herzustellen. Diese Attrappe ist heute wieder abgebaut. Heute präsentiert sich der Platz in seiner ganzen Öde, wie er auch unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Mauer ausgesehen hat.

Spannende Herausforderung

Es gilt jetzt, verschiedene Fragen zu lösen, und die gesamte Komplexität der Problematik – einer städtebaulichen und historisch-politischen Frage, einer Frage der Identifikation und Identität, einer Frage der Nutzung und Finanzierbarkeit von neuen Nutzungen – machen diese Aufgabe ungemein spannend. Deshalb beneiden mich heute auch viele darum, dass ich bei dieser Herausforderung eine führende Position erhalten habe.
Es geht ja nicht um irgendeinen Platz, sondern um einen Platz in der Mitte Berlins, in der Nähe vom Museumsviertel und nicht weit entfernt von den verschiedenen Regierungsgebäuden. Kurz: Ein Platz im Herzen der neuen deutschen Hauptstadt, der auf jeden Fall für Diskussionsstoff sorgen wird.

Mit heutiger Architektur für Morgen bauen

Soll die Gestaltung des Platzes in den alten Raumstrukturen wiederhergestellt werden? Soll die neue Raumstruktur so wiederhergestellt werden, dass auch die ursprüngliche bauliche Struktur, also das Schloss, von dem fast nichts mehr vorhanden ist, wieder errichtet wird? Mein Prinzip ist es – und ich habe das immer deutlich zum Ausdruck gebracht – mit den heutigen Formen der Architektur für ein Morgen zu bauen.
Etwas, was einmal gewesen ist, wiederherzustellen, ist aus meiner Sicht prinzipiell abstrus oder zumindest grotesk. Natürlich hat es auch im Laufe der Geschichte immer wieder Ausnahmen gegeben. Es wurden Gebäude wiederhergestellt, die abgebrannt sind, die vom Krieg zerstört wurden, etc. In Berliner Fall handelt es sich aber um Gebäude, die zwar vom Krieg zerstört, aber erst nach dem Krieg durch eine kulturelle Untat mit einer fragwürdigen ideologischen Begründung durch Walter Ulbrecht dem Erdboden gleichgemacht wurden.

Reigen der Möglichkeiten

Heute, am Beginn eines neuen Jahrtausends, ein solches Gebäude wiederherzustellen, ist also – zumindest für mich – fragwürdig. Ich will und kann das aber auch nicht ganz ausschliessen, denn es stellt zumindest eine mögliche Variante in der Diskussion dar. Natürlich besteht auch die Möglichkeit, nur einen Teil dieses Schlosses wiederherzustellen und sich nicht auf eine gesamte Rekonstruktion einzulassen.
Was aber geschieht mit dem Palast der Republik? Ist es ein Frevel, dieses Zeichen aus der DDR, das nicht nur ein politisches Zeichen, sondern ein Symbol für ein Minimum an gesellschaftlichem Leben zumindest in Berlin war, zu zerstören? Sollte der Palast als eine Art Erinnerung an die vergangene Zeit bestehen bleiben? Oder kann er zerstört werden, weil es auch andere, bessere, überlebenswertere Formen und Zeichen der Erinnerung an dieses Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gibt? Und erinnert es wirklich an die angenehmen Seiten des Lebens hinter der Mauer, der relativen sozialen Sicherheit – wenngleich bei niederem Einkommensniveau -, an die starke Familienbindung – oftmals mangels anderer Alternativen -, etc.?

Fragen über Fragen

Und welche Nutzungen sind eigentlich gefragt? Ist es, wie an uns herangetragen wurde, möglich, die Museumslandschaft Berlins, die bereits sehr ausgeprägt ist, zu erweitern, beispielsweise durch eine Verlagerung musealer Einrichtungen von einem anderen an diesen Ort? Und wenn ja, wäre es sinnvoll, eine solche Einrichtung in einem alten Schloss unterzubringen, oder bedürfte es nicht vielmehr neuer und moderner Räume der Präsentation? Braucht Berlin an zentraler Stelle einen Ort für Kongresse, für Konferenzen, für grosse Gipfeltreffen, für Bälle und feierliche Veranstaltungen? Und auf welche Weise liesse sich das finanzieren? Wäre es allein durch die öffentliche oder allein durch die private Hand zu finanzieren? Oder sollte das Modell eines private public partnership, eines noch zu definierenden Zusammengehens zwischen öffentlicher und privater Hand, herangezogen werden?

Auf Qualität setzen

All das sind entscheidende und ganz zentrale Fragen. Und natürlich kommt auch noch die Frage dazu: Wenn neu gebaut wird, kann man dann an diesem Ort ein Verfahren in Gang setzen, das wirklich zu optimaler Qualität führt? In Berlin ist zwar beispielsweise am Potsdamer Platz ein relativ anspruchsvolles modernes Viertel entstanden. Aber an diesem Platz wäre wahrscheinlich doch eine noch höhere Qualität gefragt. Unweit vom Schlossplatz allerdings wird der Alexanderplatz durch eine Reihe von auf etwas niedrigeren Sockeln gebauten Hochhäusern neu gestaltet und strukturiert.
Berlin ist also eine Stadt, die in den vergangenen und auch den kommenden Jahren durch moderne Architektur sehr stark geprägt wurde und wird. Daher ist gerade in dieser Stadt die Sehnsucht nach einem alten Merkmal der Identifikation und einem historischen Beitrag zur Stadtgestalt und -architektur noch grösser als in anderen Städten, die sich diese Zeichen ohnedies erhalten konnten, wie das zum Beispiel in Wien der Fall ist.

Überzeugte Schlossbefürworter

Bei meinem Aufenthalt in Berlin besuchte ich zunächst Wolfgang Thierse, den Präsidenten des deutschen Bundestages, der auch Mitglied der von mir geleiteten Kommission ist. Thierse ist ein starker und entschiedener Befürworter des Wiederaufbaus des Schlosses, zumindest eines Teiles vom Schloss. Berlin braucht aus seiner Sicht ein stärkeres Gleichgewicht zwischen alten Strukturen und der neuen modernen Architektur. Das Gleichgewicht hat für ihn durch die Zerstörungen der Stadt und den jetzigen nachträglichen Wiederaufbau ein Ungleichgewicht erfahren.
Thierse selbst residiert im deutschen Bundestag im alten Reichstagsgebäude, dass durch Norman Foster aus meiner Sicht durchaus ansprechend und attraktiv umgebaut worden ist. Rund um das Gebäude findet sich allerdings kaum noch eines der alten, früheren Gebäude Berlins, sondern sehr viele Bauten von unterschiedlicher architektonischer Qualität. Mit dem Blick aus seinem Amtszimmer ist Thierses unmissverständliche Forderung nach dem Wiederaufbau des Schlosses durchaus verständlich und nachvollziehbar.

Vorschreibungen von aussen unerwünscht

Thierse meinte auch, dass alle Bemerkungen von jenen, die von ausserhalb kommen und Berlin vorschreiben wollen, das Schloss nicht wiederaufzubauen, obwohl sie selbst in ihren eigenen Städten teilweise alte Gebäude wieder errichtet haben oder jedenfalls eine grössere und stärkere Präsenz alter Gebäude ihr Eigen nennen können, von den Berlinerinnen und Berlinern nicht akzeptiert werden können.
Thierses Aussage war sehr unmissverständlich: Sie ging ganz eindeutig in Richtung Wiederaufbau des Schlosses. Und sie hat sich in etlichen Punkten von jenen Gesprächen unterschieden, die ich bereits in der Früh mit Vertretern des zuständigen Verkehrsministeriums, das für diese Frage zuständig ist, geführt habe. Diese stehen einem Wiederaufbau weitaus vorsichtiger und kritischer gegenüber, wenngleich auch sie natürlich – jedenfalls die Vertreter des Ministeriums auf Ebene der Staatssekretäre – klar zum Ausdruck gebracht haben, dass die anstehende Entscheidung politisch völlig offen sei und es keine Vorentscheidung geben dürfe, sondern die einberufene Kommission ohne vorhergehende Definition der politischen Ziele ans Werk gehen müsse.

Ohne Blatt vor dem Mund

Auch ein Treffen mit dem amtierenden Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen, stand auf meinem Berliner Besuchsprogramm. Dieser hielt bei unserem Gespräch mit seiner Meinung noch weniger hinterm Berg, als dies Thierse tat: Für Diepgen kommt eigentlich nur der – zumindest teilweise – Wiederaufbau des Schlosses in Frage, diese Haltung war mir bereits bekannt. Gleichzeitig allerdings meinte er, die Kommission müsse unbedingt auch jene der PDS nahe stehende Bürgerinitiative anhören, die auf der Erhaltung des Palastes der Republik besteht.

Fromme Wünsche

Interessant an dem Treffen mit Diepgen war, dass er so wie andere mir bekannte Bürgermeister reagiert hat: Sie wissen immer genau, was sie wollen, haben klare politische Zielsetzungen, sind nicht sehr begeistere von jenem „Firlefanz“, der mit Diskussionen und Kommissionen verbunden ist. Und so hätte sich auch Diepgen anstatt der Einberufung einer Kommission viel mehr eine klare Entscheidung seitens der Regierung in Richtung Wiederaufbau des Schlosses gewünscht. Allerdings hätte er sich natürlich auch gewünscht, dass die Regierung die entsprechenden Nutzer findet, die Kosten trägt und gewissermassen der Stadt Berlin ein Präsent macht, verbunden mit einer geringeren Kostenbeteiligung von Berlin selbst.
Wie dem auch sei: Dem Argument Diepgens, dass hier etwas entstehen soll, das nicht nur kurzfristig, sondern auch über die Jahrhunderte hinweg Bestand hält, kann ich voll zustimmen. Dabei geht es für mich aber nicht nur um die Frage des Wiederaufbaus des Schlosses, sondern um eine gesamte städtebauliche architektonische Lösung, die auch stark von neuer und moderner Architektur getragen wird.

Ernsthaftes Abwägen der Pros und Contras

Der in Berlin für Bauen, Wohnen und Verkehr zuständige Senator (amtsführende Stadtrat), Strieder – ein Sozialdemokrat -, den ich nach Dieppgen getroffen habe, war in dieser Frage durchaus vorsichtiger. Er ist, so wie ich, im Grundsatz eher ein Anhänger moderner Architektur. Strieder möchte in die Zukunft schauen und weniger in die Vergangenheit. Aber auch er ist sich natürlich bewusst, dass jene Stimmen, die sich für einen Wiederaufbau des Schlosses bzw. zumindest für einen Teil des Schlosses aussprechen, nicht einfach übergangen werden können. Man muss diese Stimmen ernst nehmen – wie immer die vorgeschlagenen Lösungen dann im Detail aussehen mögen.

Abstriche machen

Die Gespräche, die ich bei diesem Aufenthalt in Berlin geführt habe, haben mich – vielleicht noch mehr als jene Gespräche, die bereits im Vorfeld stattfanden, etwa mit dem Präsidenten der deutschen Architektenkammer, Peter Conradi, der ebenso wie Thierse und Strieder Mitglied der von mir geleiteten Expertenkommission ist – in meiner Auffassung bestärkt, dass mein ursprüngliches Ziel, einen Neubau zu errichten, weder leicht durchsetzbar noch leicht begründbar sein wird. Vielmehr haben die Schlossbefürworter nicht nur sehr viele und vor allem prominente Anhänger, sondern auch manche zugkräftige Argumente auf ihrer Seite.
Ob das, was von manchen vorgeschlagen wird – eine Kombination aus Schloss und Palast der Republik, möglicherweise erweitert um einen Neubau – eine tragfähige Lösung darstellt, bezweifle ich aber nach wie vor. Wenn es eine derartige Kombination gäbe, müsste sie zumindest als solche so aufregend und spannend sein, dass sie die Debatte über Neubau oder Schlosserhalt an den Rand drängt und sich selbst als neues „Gesamtkunstwerk“ in diesem Areal, dieser bedeutenden Mitte Berlins, präsentieren.

Europäische Dimension

Für mich als Europäischen Abgeordneten ist natürlich auch ausschlaggebend, dass hier ein Platz entsteht, der in der Mitte einer europäischen Hauptstadt liegt – und zwar nicht in irgendeiner europäischen Hauptstadt, sondern jener, die für viele zukünftige Entwicklungen auf unserem Kontinent eine zumindest symbolische Bedeutung haben wird.
Dieser Aspekt bringt eine spannende und interessante Perspektive in die Diskussion ein. Der regierende Bürgermeister von Berlin hat in diesem Zusammenhang allerdings gemeint, man solle das Europäische in dieser Frage beiseite lassen, da es in erster Linie um Berlin gehe. Natürlich, Bürgermeister müssen sich zuallererst um ihre Stadt und ihre BürgerInnen kümmern. Und bei aller Notwendigkeit, Städte in ihrer übergeordneten Funktion zu sehen, muss Kommunalpolitik immer mit dem Bedürfnis der BürgerInnen verknüpft werden, sich in der eigenen Stadt wohl zu fühlen, die Stadt nicht nur als Instrument der nationalen und europäischen Politik zu sehen, sondern auch als Ort, an dem sich die Menschen – als ihre eigene unmittelbare Heimat – wohl fühlen. Diese Auffassung habe ich schon in meiner Zeit als Wiener Kommunalpolitiker vertreten, und so verstehe ich Kommunalpolitik auch heute noch.

Notwendige Distanz

Ich bin den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder gefragt worden, warum und wie ich zu diesem „Job“ gekommen bin. Ich weiss es selbst nicht. Niemand hat diese Entscheidung begründet oder sie mir erklärt.
Ich kann mir aber vorstellen, dass man auf der Suche nach einer Person war, die erstens städtebauliche Erfahrung hat, und die zweitens über politische Sensibilität verfügt und mit politischen Meinungen, Interessen und Wünschen umgehen kann und dabei nicht in die innenpolitischen bzw. innerberlinerischen Auseinandersetzungen verstrickt ist, sondern eine gewisse Distanz dazu hat, aber trotzdem – mehr oder weniger – die Sprache spricht, die in Berlin bzw. in Deutschland gesprochen wird. Diese Kombination der verschiedenen Anforderungen hat sicher ein wenig dazu geführt, dass die Wahl für diese Position auf mich gefallen ist.

In Medias res

Wie gesagt: Es ist für mich eine spannende Herausforderung. Der Präsident des Bundestages, etliche Minister und Staatssekretäre, bekannte Architekten sowie namhafte Unternehmensberater und Developer gehören der von mir geführten Expertenkommission an. Und schon allein die Persönlichkeiten, mit denen ich es hier zu tun habe, sind interessante Menschen, die eine Vielfalt von Erfahrungen und Fach- und Sachwissen in die Debatte einbringen.
Ich hoffe, ich kann einigen – sicher nicht allen – Vorstellungen und Wünschen gerecht werden. Sie sind zum Teil sehr widersprüchlich und schliessen sich gegenseitig aus. Aus meiner Sicht ergibt sich aber durchaus die Möglichkeit, die verschiedenen politischen Werthaltungen, die unterschiedlichen städtebaulichen Vorstellungen, diverse Nutzungswünsche und Finanzierungsvarianten miteinander in einem kohärenten Projekt in Verbindung zu bringen. Und das ist spannend – es ist sogar sehr spannend! 
Berlin, 20.12.2000