Einstimmung auf die deutsche Präsidentschaft

Auf einer gemeinsamen Konferenz der sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament und der SPD präsentierten sich die deutschen MinisterInnen und der Vorsitzende der deutschen Sozialdemokratie als diejenigen, die in naher Zukunft die Geschicke der Europäischen Union beeinflussen sollen.
Gestern und heute fand in Berlin eine gemeinsame Konferenz der sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament und der SPD unter dem Titel „Shaping Europe. Global force of peace and social economic power“ statt.

SPD-Spitze

Die Grundidee dieser Konferenz, die im Vorfeld der deutschen Ratspräsidentschaft stattgefunden hat, war die feste Überzeugung der Sozialdemokratie – jedenfalls auf europäischer Ebene – dass nur eine Kombination von sozialpolitischer Festigung mit einer starken Außen- und Sicherheitspolitik auf gemeinsamer Basis jenen Anforderungen, die die BürgerInnen zu Recht an Europa stellen, gerecht werden kann. Bei dieser Konferenz hatten außerdem die deutschen MinisterInnen und der Vorsitzende der deutschen Sozialdemokratie, Kurt Beck, die Möglichkeit, sich intensiv als diejenigen zu präsentieren, die in naher Zukunft die Geschicke der Europäischen Union beeinflussen sollten.
Zu Beginn skizzierten der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der während der Ratspräsidentschaft eine führende Rolle einnehmen wird, und der SPD-Vorsitzende Kurt Beck ihr Bild eines Europas der Zukunft. Es sollte ein Europa sein, das eine Verfassung hat. Diese sollte vom bestehenden Verfassungsentwurf ausgehen, der ja von allen Regierungen unterzeichnet worden ist. Es sollte aber ein neuer Anlauf genommen werden, um zu einer Verfassung zu kommen, die eben nicht nur von den Regierungschefs unterzeichnet wird, sondern die auch eine Chance der Ratifizierung durch die Parlamente und dort, wo es verfassungsmäßig vorgesehen ist, durch ein Referendum erhält.

Größere Gemeinsamkeiten

Beck und Steinmeier machten außerdem klar, dass der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eine zentrale Rolle zukommen wird müssen. Nur dann können wir unseren globalen Verpflichtungen gerecht werden, und nur so können wir Sicherheit in unserer eigenen Umgebung schaffen. Der Nahe Osten stellt zweifelsohne einen Sonderfall dar. Aber auch die Frage der Entwicklungen am Balkan, vor allem in Hinblick auf die wahrscheinliche Unabhängigkeit des Kosovo, und die Beziehungen zu Russland sind Faktoren, bei denen Europa einer größeren Gemeinsamkeit bedarf.
Es war meine Aufgabe, namens der Fraktion auf die Reden der beiden Spitzenpolitiker der Bundesrepublik Deutschland einzugehen. Das ist mir umso leichter gefallen, als es hinsichtlich der Ausführungen keine grundsätzlichen Differenzen gegeben hat. Es war also vielmehr ein Unterstreichen und Betonen der präsentierten Ansätze. Im Anhang dieser Ausgabe findet sich eine schriftliche Kurzfassung meiner Reaktionen. Für mich war es wichtig darauf hinzuweisen, dass Europa dann fähig ist, eine stärkere Position zu vertreten, wenn es selbstbewusster und standfester auftritt und wenn es aus dieser Standfestigkeit heraus eine Dialogfähigkeit entwickelt. Militärische Kapazitäten sollten dabei in begrenztem Ausmaß im Hintergrund und sicher nicht im Vordergrund der Politik stehen. Genau das unterscheidet uns ja auch von den USA.

Hoffnung auf eine andere US-Politik

Als ich meine Rede bei der Berliner Konferenz gehalten habe, ist noch nicht klar gewesen, wie sich die Wahlen in den USA auswirken werden. Inzwischen hat sich bestätigt, dass Präsident Bush jedenfalls eine deutliche Schlappe erlitten hat – im Repräsentantenhaus, aber auch im Senat. Es ist zu hoffen, dass diese Ergebnisse sich auch positiv auf die amerikanische Politik auswirken werden.
Man darf sich nicht erwarten, dass sich diese von heute auf morgen ändern wird. Aber von der Tendenz und der Orientierung her gehe ich doch davon aus, dass Bush einerseits im Land eine größere Gemeinsamkeit suchen wird und dass andererseits jene Kräfte, die für eine Multilateralität, also für ein gemeinsames Vorgehen mit der Internationalen Gemeinschaft stehen, gestärkt werden. Dann sollte auch nicht mehr das passieren, was im Irakkrieg passiert ist, bei dem Amerika – wenn auch mit einigen Verbündeten – einen Alleingang unternommen hat, der bekanntlich zu einer katastrophalen Situation geführt hat.

Pragmatische Politik für Russland und Türkei

Ich habe in meinen Ausführungen angemerkt, dass die deutsche Bundeskanzlerin Merkel Schröder mehr als dankbar sein müsste, dass es Deutschland nicht in diesen schrecklichen Krieg geführt, sondern es aus den furchtbaren kriegerischen Auseinandersetzungen im Irak herausgehalten hat. Das hat zweifellos dazu beigetragen, dass das Regieren in Deutschland heute leichter ist, ist doch damit die innere Zerrissenheit, wie sie in Amerika angesichts dieses furchtbaren Krieges besteht, dem Land erspart geblieben.
Dass gegenüber Russland eine pragmatische Politik betrieben werden muss, habe ich schon bei anderen Gelegenheiten erwähnt. Im Gespräch, das wir mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier beim Mittagessen geführt haben, trat auch dieser ganz eindeutig für eine pragmatische und vernünftige Russlandpolitik ein, ebenso wie er sich angesichts der schwierigen Situation mit der Türkei für eine pragmatische Lösung der Zypernfrage aussprach. Steinmeier signalisierte, dass er keinerlei Interesse am Abbruch der Verhandlungen mit der Türkei hat. Die Europäische Union müsse zwar auf die Kriterien und Voraussetzungen, die nicht nur für den Beitritt, sondern im Vorfeld auch für den weiteren Verlauf der Verhandlungen notwendig sind, beharren. Aber es müsse eben versucht werden, entsprechend vernünftige Auswege zu finden – und zwar gar nicht so sehr im Interesse der Türkei, sondern vor allem im Interesse der Europäischen Union.

Sachpolitischer Querschnitt

Im Laufe des gestrigen Nachmittags fanden weitere Präsentationen statt. Unter anderem sprach der bulgarische Ministerpräsident Sergey Stanishev zur Erweiterung und machte sich ebenfalls für die Verfassung stark. Stanishev vertritt ein Land, das die Verfassung schon vor seinem Beitritt zur Europäischen Union ratifiziert hat und das auch weiterhin zu dieser Verfassung steht.
Der deutsche Umweltminister Sigmar Gabriel präsentierte eine sehr klare umwelt- und energiepolitische Strategie. Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee sprach zur Verkehrspolitik, gab aber auch einige wichtige städtepolitische Impulse. Und Heidemarie Wieczorek-Zeul erörterte die Frage der Entwicklungspolitik.

Prodis Appell zu mehr Mut

Heute schließlich legte uns der italienische Ministerpräsident Roman Prodi seine Position dar. Wie immer, wenn ich Romano Prodi treffe, gab es auch diesmal eine sehr herzliche Begrüßung. Prodi wirkt einerseits oft sehr scheu und zurückhaltend, kann aber andererseits sehr emotional und offen sein. Seine Rede habe ich als äußerst angenehm empfunden. Sie war gekennzeichnet von der Aufforderung, mutig genug zu sein, um Europa einen neuen Schwung zu geben, die Ängste in Zusammenhang mit der Globalisierung zu besiegen und – trotz des herrschenden Populismus – Veränderungen herbeizuführen.
Prodi meinte, dass sich die BürgerInnen neue Regeln für die globalen Zusammenhänge, eine neue so genannte „global governance“ wünschen. Die PolitikerInnen müssten in diesem Sinn die Verantwortung übernehmen, eine entsprechende globale Struktur zu schaffen. Gerade durch einen Relaunch der Verfassungsdebatte und durch eine Wirtschaftsregierung auch auf europäischer Ebene, die die Wirtschaftspolitik der einzelnen Länder koordiniert, wäre dies möglich.

Drei Kernbereiche

Prodi zählte drei aktuelle Entwicklungen auf, die mit der Verfassung und der wirtschaftlichen Entwicklung in Zusammenhang stehen und anhand derer Europa demonstrieren könnte, wie wichtig es ist, eine gemeinsame Politik zu betreiben. Erstens betrifft das die Energiepolitik. Gerade die jüngsten Stromausfälle haben einmal mehr gezeigt, dass man, wenn man im wahrsten Sinn des Wortes beginnt, die Dinge miteinander zu vernetzen, nicht auf halbem Weg stehen bleiben kann. Störungen in einem Bereich wirken sich umgehend auf andere Bereiche aus. Die Energiepolitik ist und bleibt eine der wichtigsten Fragen, die Europa in nächster Zeit in Angriff nehmen muss.
Zweitens geht es um die Außen- und Sicherheitspolitik als solches. Vor allem in Zusammenhang mit der Entwicklung im Nahen Osten zeigt sich, wie wichtig es ist, eine gemeinsame Politik zu haben. Ich fürchte allerdings, dass wir gerade in dieser Frage angesichts der schwerwiegenden Probleme und der nach wie einseitigen Unterstützung für Israel durch die USA, an der sich auch durch die Wahl nicht viel ändern wird, keine großen Fortschritte erzielen werden. Der dritte wichtige Bereich ist die Immigrations- und Integrationspolitik. Immigration findet heute nicht so sehr in einzelne Länder als nach Europa statt. Aus diesem Grund muss auch die Immigrationspolitik entsprechend koordiniert werden und es gilt, gemeinsame Antworten zu finden. Man darf dieses Politikfeld auf keinen Fall den Rechten überlassen.

Überzeugungskraft zählt

Das mögen vielleicht alles keine besonders neuen Ideen sein. Die Frage ist aber immer, mit welcher Überzeugungskraft diese Ideen vertreten werden. Und ich meine, dass Romano Prodi das mit einer sehr deutlichen Überzeugungskraft getan hat, und zwar weitaus überzeugender, als es der gegenwärtige Kommissionspräsident Barroso tun würde. Eigentlich sollte Barroso die Kraft und Unterstützung, die ihm der italienische Premierminister angedeihen lassen könnte, besser nützen, um einen klaren Weg nach vorne zu beschreiten.

Berlin, 7.11.2006