Erblasten

Der Konflikt von Nagorno Karabach ist einer der „frozen conflicts“ in der Region, für den bis jetzt keine Lösung gefunden werden konnte.
Nach dem Mittagessen begannen unsere Gespräche mit unseren KollegInnen aus dem armenischen Parlament.

Streitpunkt Nagorno Karabach

Die Diskussionen verliefen über weite Strecken äußerst emotional, und es wurde immer wieder auf den großen Konfliktpunkt Aserbeidschan hingewiesen. Konkret geht es dabei um Nagorno Karabach, ein seit Jahrhunderten, ja vielleicht Jahrtausenden von Armeniern besetztes Gebiet.
Im Zuge der Gründung der neuen Strukturen innerhalb der Sowjetunion zu Beginn des vorigen Jahrhunderts wurde Nagorno Karabach der aserbaidschanischen Sowjetrepublik zugeordnet. Die Armenier haben das nie wirklich akzeptiert, was nachvollziehbar ist. Als es nach der Unabhängigkeit von Armenien und Aserbeidschan zu Konflikten in dieser Region gekommen ist, hat Aserbeidschan die Autonomie des Gebietes innerhalb Aserbeidschans aufgehoben. Das Ergebnis war ein bewaffneter Konflikt. Die Armee Armeniens marschierte in Nagorno Karabach ein und hat auch die umliegenden Gebiete besetzt und die Aserbeidschaner bzw. Azeris aus der Region vertrieben.

Forschritte, aber keine Lösung

Der Konflikt von Nagorno Karabach ist einer der „frozen conflicts“ in dieser Region, für den bis jetzt keine Lösung gefunden werden konnte. Einer der damals auftretenden Rebellen ist der heute amtierende Präsident Armeniens, Robert Kotscharjan, der großes Interesse daran hat, dass Nagorno Karabach entweder unabhängig wird oder sich an Armenien anschließen kann.
Es fanden immer wieder diesbezügliche Treffen statt. Zuletzt trafen sich die beiden Präsidenten Kotscharjan aus Armenien und Aliyew aus Aserbaidschan in Rambouillet, einem Vorort von Paris. Aber auch dort wurde keine Lösung gefunden, auch wenn es einige Fortschritte gab.

Wie im Kosovo

Das ganze erinnert mich ein bisschen an die Situation im Kosovo. Die Art und Weise, wie dort von Milosevic die Autonomie aufgehoben wurde gleicht der Aufhebung der Autonomie Nagorno Karabachs in Aserbaidschan durch den Vater des jetzigen Präsidenten Gaida Aliyew.
Beides hat keine Lösung gebracht, im Gegenteil: Die Tendenz ist in beiden Fällen in Richtung Unabhängigkeit gegangen, begleitet von einem militärischen Konflikt. Im Fall Nagorno Karabachs erfolgte dieser allerdings nicht durch die Besetzung durch ausländische Truppen in Gestalt der Nato, sondern durch armenisches Militär.

Auf der Suche nach einem Ausweg

Die ParlamentarierInnen haben in unserer Diskussion Aserbaidschan die Schuld daran gegeben, dass es bisher keine Fortschritte gibt. Man hofft dennoch, im heurigen Jahr – in dem weder in Aserbaidschan noch in Armenien Wahlen stattfinden – zu einer Lösung zu kommen.
Es gibt außerdem die so genannte Minskgruppe, in der insbesondere die USA, Russland und Frankreich an einer Lösung arbeiten. Auch die Europäische Union ist bemüht, in dieser Nachbarschaftsregion eine Lösung herbeizuführen.

Missverhältnis zur Türkei

Eine zweite wichtige Frage in der Diskussion mit unseren Parlamentarier-KollegInnen war das Verhältnis zur Türkei. Die Türkei hat nach den Konflikten um Nagorno Karabach die Landgrenze zu Armenien geschlossen und es gibt keine diplomatischen Beziehungen mehr. Auch die ständige Betonung des Genozids, den die Türken bzw. Osmanen zu Beginn des vorigen Jahrhunderts an den Armeniern ausgeübt haben und bei dem eine Unzahl von ArmenierInnen getötet worden sind, schafft keine guten Voraussetzungen dafür, dass es zu einer Lösung der Konflikte mit der Türkei kommt.
Heftig kritisiert wird darüber hinaus, dass in der Türkei armenische Denkmäler nicht nur nicht gepflegt, sondern zum Teil zerstört wurden und werden. Dasselbe gilt für das aserbaidschanische Gebiet Nachitschewan, das derzeit eine Enklave bildet und auf dem Landweg nicht erreichbar ist. Auch hier wurden angeblich Friedhöfe zerstört. Die Armenier haben betont, dass sie sehr wohl die kulturellen Denkmäler, beispielsweise Moscheen, in den besetzten gebieten in Nagorno Karabach nicht nur pflegen und erhalten, sondern auch sanieren.

Multiethnische Struktur erhalten

Hinsichtlich des kulturellen Erbes der Armenier werden jedenfalls schwere Anschuldigungen gegen Aserbaidschan und die Türkei erhoben. In der Tat sollte auch die Europäische Union darauf drängen, dass die multiethnische Struktur in dieser Region bewahrt wird.
Gerade wenn es getrennte Staaten oder getrennte Teile innerhalb eines Staates gibt – ähnlich wie auf Zypern – wäre es im Sinne eines Zugehörigkeitsgefühles zu Europa im weiteren Sinn wichtig und sinnvoll, die kulturelle Identität der anderen zu erhalten und als einen befruchtenden und ergänzenden Beitrag zu anzuerkennen.

Komplizierte Außenpolitik

Am Abend fand, wie das auf derartigen Delegationen üblich ist, ein Arbeitsessen statt. Wir erlebten dabei auch traditionelle Musik und Tanzdarbietungen. Ich hatte die Möglichkeit, einerseits mit dem Leiter der europolitischen Abteilung im Außenministerium und andererseits mit dem Leiter der OSCE-Mission, dem bereits erwähnten Russen Vladimir Priakhin ausführliche Gespräche zu führen, die mich in die komplizierte, aber äußerst Interesse Außenpolitik dieses Landes eingeführt haben.

Eriwan, 18.4.2006