Europa braucht neue Verbindungen

Istanbul ist ein Brückenkopf zwischen dem Europa der Erweiterung im Jahr 2007 und einer Region, die vielleicht auch einmal zum Europa der Europäischen Union gehört, die aber jedenfalls eine zentrale Nachbarregion ist, denkt man an den Südkaukasus und andere Länder.
Aus Aserbaidschan, konkret aus der Hauptstadt Baku kommend bin ich Freitag früh in Istanbul eingetroffen.

Abbau von Vorurteilen

Eine Gruppe aus meinem politischen Heimatbezirk war in die Stadt gereist, um Istanbul zu besichtigen und durch einen Meidlinger Bezirksrat türkischer Herkunft, der lange Zeit hier gelebt hat, auch die türkische Lebens- und Denkweise vermittelt zu bekommen.
Da die diesbezüglichen Informationen nicht gerade reichhaltig sind und unzählige Vorurteile bestehen, hat mir diese Idee sehr gut gefallen. Und ich hatte den Eindruck, dass es gelungen ist, das eine oder andere Vorurteil abzubauen – wenngleich man in vier Tagen natürlich kein völlig neues und anderes Bild der Türkei zeichnen kann.

Verkehrsbeziehungen Türkei – Europa

Für mich selbst gab es aber auch noch einen anderen Grund, nach Istanbul zu kommen. Die Stadt Wien bzw. ein Institut, das ich in meiner Zeit als Stadtrat mitgegründet habe und das sich mit Verkehrspolitik beschäftigt und von der EU unterstützt wurde und wird (TINA), hat gemeinsam mit der Stadt Istanbul ein Verkehrssymposium veranstaltet.
Im Mittelpunkt standen dabei die Verkehrsbeziehungen zwischen der Türkei und Europa. Besagtes Wiener Institut hat mit einem diesbezüglichen Forschungsprojekt ein Wettbewerbsverfahren gewonnen. Insofern war das Symposium in Istanbul eine gute Gelegenheit, mit Vertretern der Türkei über Fragen der Verkehrsbeziehungen zu diskutieren.

Drei Schwerpunkte

Ich war eingeladen worden, ein Statement bei der Konferenz abzugeben. Schon bei meinen unmittelbar vorherigen Aufenthalten in Georgien, aber vor allem in Aserbaidschan hatte ich einige Hinweise dafür bekommen, welche zentrale Rolle die Türkei in dieser Region spielen kann. Ich habe mich in meinem Beitrag auf drei Schwerpunkte konzentriert: die EU als solches, die Nachbarschaftspolitik mit der Region und insbesondere mit dem Südkaukasus sowie die neuen wirtschaftlichen Veränderungen, nicht zuletzt in Verbindung mit der Energiepolitik.
Hinsichtlich der europäischen Verkehrspolitik bin ich, der ja früher auch im Verkehrsausschuss des Europäischen Parlaments mitgearbeitet hat, nach wie vor der Meinung, dass diese zu wenig konsistent und zu unklar formuliert ist. Wir haben uns zudem sehr stark auf die Liberalisierung und die Herstellung eines gemeinsamen europäischen Verkehrsmarktes konzentriert – was zweifellos wichtig ist. Und wir haben daran gearbeitet, gemeinsame technische und wirtschaftliche Standards, bis hin zum Arbeitsrecht, herzustellen, und tun dies noch immer.

Verkehrspolitische Versäumnisse

Wir haben allerdings zu wenig darüber nachgedacht, wie wir die Verkehrs- und Infrastrukturprojekte, vor allem die so genannten Transeuropäischen Netze, umsetzen können. Sie stehen seit langer Zeit auf dem Tapet. An einigen wurde und wird gearbeitet. Die Verkehrsinfrastruktur bleibt aber trotzdem weit hinter dem Bedarf zurück und die Engpässe der Verkehrsinfrastruktur bewirken vielfach Wachstumsverluste – das hat auch die so genannte Van Miert-Kommission festgestellt. Die Folge ist, dass das Arbeitskräftepotenzial nicht in der Form beschäftigt werden kann, wie das sonst möglich wäre.
Neben der Van Miert-Gruppe, die sich in erster Linie mit Projekten innerhalb der Europäischen Union beschäftigt, gab es auch die so genannte Palacio-Gruppe. Diese war von der ehemaligen Verkehrskommissarin Loyola de Palacio geleitet worden und setzte sich vor allem mit über Europa hinausreichenden Projekten auseinander, nicht zuletzt auch gerade in der Südkaukasus-Region. Hier wurden zusätzliche Verkehrsverbindungen, insbesondere am Meeresweg, am Binnenschifffahrtsweg und auf Binnenstraßen, aber auch auf Schiene und Straße ausgearbeitet, die vor allem auch die Türkei mit einbeziehen.

Mehr Mittel für Verkehrsinfrastruktur

Ein Blick auf die diesbezügliche Finanzierung zeigt, dass der Transportsektor aufgrund geringer Margen, vor allem im Bereich der Schiene, sehr wenig dazu beitragen kann, die Infrastruktur zu erweitern, zu verbessern und zu modernisieren. Die nationalen Budgets sind ebenfalls unter Druck. Und auf der europäischen Ebene haben wir soeben eine Budgetvorschau für die Jahre 2007-2013 beschlossen, die ihrerseits weit hinter den Notwendigkeiten zurückbleibt. Es gibt die Europäische Investitionsbank und die Europäische Bank für Wiederaufbau, es gibt die Weltbank, und es gibt die Möglichkeit, durch Public Private Partnership öffentliche und private Finanzmittel zu lukrieren.
Der Verkehrssektor ist aber nicht profitabel genug, um große Investitionen bewirken zu können. Vor allem ist er in den wichtigen Bereichen des öffentlichen Verkehrs, beispielsweise bei der Schiene, nicht profitabel genug. Das macht die Sache schwierig. Und dennoch: Angesichts der Notwendigkeiten muss die nationale wie die europäische Politik danach trachten, dass es mehr Mittel gibt, um die Verkehrsinfrastruktur in Zukunft stärker an die wirtschaftlichen Erfordernisse anzupassen.

Schlüsselposition für Schwarzmeerregion

In diese Überlegungen muss die Nachbarschaftspolitik entsprechend einbezogen werden. Wir stehen bekanntlich vor einem nächsten Schritt der Erweiterung um Bulgarien und Rumänien. Damit nähern wir uns zunehmend der Schwarzmeerregion an.
Diese Region wird politisch, aber auch wirtschaftlich immer interessanter – vor allem deshalb, weil sie mit der Energieentwicklung in Verbindung steht, sowohl hinsichtlich der Ressourcen als auch des Transportes. Der Türkei kommt in der Schwarzmeerregion als EU-Kandidatenland und unmittelbarer Nachbar zu verschiedenen Energieregionen eine zentrale Rolle zu.

Transportverbindungen für Energie

Die Energie und die Energieversorgung aus dieser Region, insbesondere aus dem Südkaukasus, wird in Zukunft eine größere Rolle spielen. Das bedeutet aber, dass aus dieser Region nicht nur Energie fließt und hoffentlich auch in ausreichendem Masse nach Europa kommt, sondern dass Energieeinnahmen vor allem bei jenen Ländern entstehen, die Energieressourcen besitzen und verwerten und auch in geringem Ausmaß in jenen Ländern, durch die Energie transportiert wird.
Es ist davon auszugehen, dass Geld in einem vernünftigen und transparenten Ausmaß in die lokale Wirtschaft fließt, insbesondere in die Klein- und Mittelbetriebe, und in verschiedene Produktionen, bis hin zu Dienstleistungen. Auch dazu bedarf es entsprechender Transportverbindungen.

Pipelines sind zu wenig

Man kann also nicht argumentieren, dass Energie nichts mit dem übrigen Transportwesen zu tun hat und Pipelines, durch die Öl und Gas fließen, vorhanden sind. Zum ersten fließen Öl und Gas nicht nur durch Pipelines, sondern werden auch mit Schiffen transportiert – in Zukunft vor allem auch zu Häfen für verflüssigtes Erdgas. Und zum anderen müssen alle Länder, die über Energie verfügen und durch die Energie transportiert wird, dafür sorgen, dass es auch in Zeiten, in denen der Energiereichtum nicht mehr so groß ist bzw. Quellen versiegen, eine gute wirtschaftliche Entwicklung gibt. Daher ist es wichtig, eine entsprechende Infrastruktur zu gewährleisten, um das Wachstumspotenzial auszunützen.

Neue Chancen

Das eröffnet der Türkei eine große Chance, ebenso wie den beiden Städten Wien und Istanbul. Wien wird immer mehr zum Zentrum eines neu entwickelten Europas. Und Istanbul ist sozusagen ein Brückenkopf zwischen dem Europa der Erweiterung im Jahr 2007 und einer Region, die vielleicht auch einmal zum Europa der Europäischen Union gehört, die aber jedenfalls eine zentrale Nachbarregion ist, denkt man an den Südkaukasus und andere Länder.
Diese Entwicklung ist vor allem im Verkehrsbereich – gerade auch aus österreichischer Sicht – ein äußerst wichtiges Unterfangen. Die Europäische Union und Wien können so in Zukunft mit der Schwarzmeerregion und insbesondere mit der Türkei verkehrsmäßig wesentlich besser verknüpft werden.

Istanbul, 27.5.2006