Europa eine Seele geben

Das Positive an Europa ist, dass wir dieses Projekt zustande gebracht haben – und zwar jenseits der differenzierten Kulturen.
An diesem Wochenende fand in Berlin die zweite Konferenz zum Thema „Europa eine Seele geben“ statt.

Eröffnungsrede von Barroso

Ich habe in meinen Tagebuchaufzeichnungen schon mehrmals berichtet, dass ich von Volker Hassemer eingeladen worden bin, mich an der Initiative „Europa eine Seele geben“ zu beteiligen. Der Titel als solches stammt von Jacques Delors und sollte dazu anregen, Europa nicht lediglich als ein ökonomisches oder politisches Projekt zu verstehen, sondern auch als ein Projekt, das Emotionen auslöst und das vor allem die kulturelle Dimension mit umfasst.
Die zweite Berliner Konferenz begann gestern Nachmittag. Sie wurde auch diesmal von Kommissionspräsident Enrique Barroso eröffnet. Barroso hatte bereits die erste Konferenz durch seine Rede stark geprägt. Er hatte sich damals unmissverständlich für das nicht ökonomische oder das nicht politische Europa als eine der Dimensionen ausgesprochen. Und auch dieses Mal machte er klar, dass Europa ein kulturelles Fundament und ein Fundament von Werten braucht und dass es geradezu als eine kulturelle Erfindung angesehen werden kann.

Humankapital und Wissen

Barroso machte deutlich, dass es zum einen die kulturelle Diversität, also die kulturelle Vielfalt gibt, zum anderen aber auch gemeinsame Werte, insbesondere den Parlamentarismus und die Demokratie. Er wies außerdem darauf hin, dass das Humankapital und das Wissen im Europa von heute und von morgen auch die Wirtschaft wesentlich mitprägen. Europa, so Barroso, habe die Toleranz erfunden. Davon bin ich persönlich nicht immer überzeugt – aber dazu später.
Barroso gab zu bedenken, dass wir auch international dafür Sorge tragen müssen, dass der Respekt für die grundsätzlichen Werte, vor allem für die Freiheit – hinsichtlich der Meinungsäußerung, aber auch der Religion und der Künste -, eingehalten wird. In diesem Sinn gäbe es sehr wohl viele Gemeinsamkeiten in diesem Europa. Barroso zitierte den britischen Philosophen Helmut Bourgh: „Kein Bürger Europas kann in irgendeinem Teil im Exil sein.“ Demnach müsste sich ein Europäer in jedem Winkel Europas zu Hause fühlen.

Imperialistisches Empire

Barroso legte besonderen Wert darauf, die Mehrsprachigkeit herauszustreichen. Für ihn ist es grotesk, dass im nicht demokratischen Portugal, das nicht der EU angehört hatte, entweder Griechisch oder Latein Pflichtfächer waren, aber oft auch Englisch, Französisch und Deutsch gelehrt wurden. Heute hingegen wird auf die Mehrsprachigkeit viel zu wenig Wert gelegt.
Barroso schloss seine Eröffnungsrede mit der Bemerkung: Europa ist ein nicht imperialistisches Empire. Manche mögen das als Widerspruch sehen. Andere wieder mögen in diesem Empire tatsächlich einen gewissen Imperialismus erkennen. Fest steht: Die Formulierung ist nicht uninteressant.

Untergang und Wiedergeburt

Barroso zitierte schließlich noch die berühmte Rede von Edmund Husserl, die dieser knapp vor Beginn des Zweiten Weltkrieges in Wien gehalten hatte: „Entweder Europa geht unter und verschwindet in der Geistlosigkeit und Barbarei. Oder es gibt eine Wiedergeburt Europas.“ Beides ist eingetreten – zuerst der Untergang und jetzt eine Wieder- bzw. Neugeburt Europas. Bleiben wir also optimistisch, dass diese Neugeburt gelingt.
In ähnlichem Sinn wie Barroso haben anschließend Benita Ferrero-Waldner und andere VertreterInnen die kulturellen Aspekte der Europäischen Union vorgetragen und sie zur Basis der europäischen Außenpolitik erklärt.

Viele verschiedene Kulturen

Dieser Einvernahme der Kultur und der kulturellen Aspekte in der europäischen Politik setzte Bazon Brock, ein berühmter Kunst- und Kulturtheoretiker und -kritiker entgegen, dass Kulturen eigentlich eher begrenzen und eingrenzen. Es gäbe in Europa nicht „die“ europäische Kultur, sondern viele verschiedene Kulturen. Die große Leistung bestehe darin, dass jenseits dieser unterschiedlichen Kulturen etwas Gemeinsames hergestellt, eine gemeinsame Zivilisation entwickelt worden ist.
In diesem Sinn ginge es nicht darum, die Kultur vor sich herzutragen und andere Regionen, Länder und Bevölkerungen mit einer europäischen Kultur, die gar nicht existiert, zu „beglücken“. Vielmehr gälte es, die Ansprüche der Zivilisation zu vertreten und universelle Werte wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Toleranz und Respekt vor den anderen Kulturen zu transportieren.

Universelle Werte

Es mag sich bei diesem Ansatz um eine Haarspalterei handeln. Trotzdem glaube ich, dass etwas Wahres dran ist. Es könnte allzu schnell zu einem kulturellen Imperialismus kommen, zu einer Überheblichkeit, die vermittelt, dass wir die besseren Werte vertreten. Es wird in diesem Fall sicher nicht ohne weiteres akzeptiert werden, dass wir von den europäischen Werten sprechen.
In diesem Sinn müssten wir für universelle Werte eintreten und uns zu diesen bekennen. Das positive an Europa ist, dass wir dieses Projekt zustande gebracht haben – und zwar jenseits der differenzierten Kulturen. Wir haben zivilisatorische Errungenschaften, wenn auch mit großen Problemen, etwa der Barbarei des Nationalsozialismus, durchgesetzt. Und wir wollen, dass diese Zivilisation, dass die universellen Werte auch weltweit Gültigkeit haben.

Aufeinanderprallen der Kulturen

Im Anschluss entspannte sich eine interessante Debatte. Dabei wurde vielfach der These zugestimmt, dass nicht Europa ein Vorrecht auf Kultur hat, sondern dass es auch andere Kulturen gibt und dass im Laufe der Geschichte auch im Islam und in anderen Kulturen Werte wie Toleranz, Gerechtigkeit und soziale Einstellungen entwickelt worden sind. Trotzdem kann man Europa als ein Zukunftsprojekt verstehen, weil es diese entwickelten Werte auch in die Gegenwart und in die Zukunft tragen möchte. In vielen anderen Kulturen ist es hingegen oft zu einer Abschottung, zu einer Einschränkung, zu einer Verengung gekommen.
So meinte auch der ehemalige Botschafter Israels in der Bundesrepublik Deutschland, ein Mann, der stets vorausblickend denkt, dass das Aufeinanderprallen von einer jüdisch-christlichen Allianz USA-EU auf der einen Seite und des Islam als eine außereuropäische Religion, die sich eher zurückzieht, auf der anderen Seite kein gutes Vorzeichen für eine zukünftige Entwicklung darstellt.

Reduktion des Kosmopolitischen

Eine Vertreterin einer islamisch-jüdischen Akademie hat besonders bedauert, dass die kosmopolitischen Traditionen des Islam und des Judentums immer mehr in den Hintergrund gedrängt werden und verschwinden. Es erfolgt einerseits eine immer größere nationale Konzentration des Jüdischen auf den Staat Israel und andererseits eine islamische Orientierung an Haltungen, Einstellungen und politischen Aktionen im Gegensatz zur westlichen Welt. Diese Verengungen sind absolut negativ zu beurteilen und es gilt, ihnen Widerstand zu leisten.
Mir selbst sind in jüngster Zeit mehrere Artikel in den Medien aufgefallen, in denen berichtet wurde, dass es sowohl in Jerusalem als auch in Istanbul zu einer Reduktion des Kosmopolitischen, des Multireligiösen und des Multikulturellen gekommen ist. In Istanbul ist eine starke Zuwanderung, insbesondere aus Anatolien erfolgt, die eine Einengung auf das Islamisch-Türkische mit sich gebracht hat. Auch das Zurückdrängen der griechischen, der armenischen und anderer europäischer Elemente haben zweifellos eine Rolle gespielt. In Jerusalem ist es die extrem starke Siedlungstätigkeit der jüdischen Siedler, mit der das Arabische aus der Stadt verdängt bzw. zu einem Restelement unter totaler Kontrolle des Jüdischen gemacht werden soll.

Neues Ghetto

Diese Entwicklung ist aus meiner Sicht äußerst negativ. Sie zeigt, dass die Toleranz und die Akzeptanz im Zusammenleben gegenüber der nationalen Selbstbehauptung immer mehr in den Hintergrund gedrängt werden. Das furchtbarste Zeichen dafür ist die Errichtung der Mauer quer durch Palästina – auch und sehr oft durch Einbeziehung des Eigentums der Palästinenser und der Trennung der Menschen auf beiden Seiten der Mauer. Im Mittelpunkt steht aber die Konzentration des Jüdischen.
Wenn jetzt der neue Partner in der Regierung, Avigdor Liebermann, immer wieder davon gesprochen hat, den Arabern in Israel die Ausreise zu empfehlen und sie sozusagen dazu bewegen will, aus dem jüdischen Staat zu verschwinden, so ist das ein weiteres Signal dafür, dass man kein kosmopolitisches Zusammenleben anstrebt, sondern sich allein auf das Jüdische im engeren Sinn des Wortes konzentriert. Dass sich die Situation derart zugespitzt hat, ist nicht allein Schuld der Juden von heute. Es geht hier vor allem um die Schuld der Verdrängung der Juden aus Europa, die im Holocaust ihre schrecklichste Form gefunden hat. Dass eine Verdrängung aber auch heute passiert, ist eine nahezu groteske Bestätigung dieser furchtbaren europäischen antijüdischen Politik, die das Jüdische in Ghettos gedrängt hat, soweit sie es nicht vernichten wollte. Heute gibt es Menschen, die das Jüdische erneut in ein staatliches Ghetto in Israel hineindrängen wollen.

Berlin, 18.11.2006