Europa ist eine Wertegemeinschaft

Wir müssen klarmachen, dass ein EU-Beitritt mit der Verpflichtung verbunden ist, Nationalismus, Engstirnigkeit und die Bereitschaft, Werte zu verletzen, zu bekämpfen.
Am Freitag bin ich von Straßburg über Wien nach Mazedonien geflogen. Am wunderschön gelegenen Ohridsee fand eine Konferenz der Friedrich Ebert-Stiftung zum Thema „Werte und Politik. Das nach Süd-Osten erweiterte Europa: Eine Wertgemeinschaft?“ statt.

Am Ohridsee

Der Konferenzort lag etwas außerhalb von Struga am Ohridsee, in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem Kloster – ein wunderschönes Ambiente bei herrlichem Wetter in einer sehr friedlichen Landschaft im Grenzbereich zwischen Mazedonien und Albanien. In Zeiten des inner-mazedonischen Konflikts zwischen der Albanisch sprechenden Minderheit und der Mehrheitsbevölkerung ist diese Landschaft allerdings nicht ganz so friedlich gewesen.
Am Ohridsee wurde dann schließlich das gleichnamige „Abkommen von Ohrid“ zwischen Vertretern der verschiedenen politischen Parteien sowie den Minderheits- und Mehrheitsgruppen unterzeichnet – unter Assistenz der Amerikaner, aber vor allem der Europäer, nicht zuletzt von Javier Solana, dem Hohen Beauftragten für die Außenpolitik. Das hat wesentlich zur Stabilisierung dieser Region beigetragen.

Wahlen im Juli

Das Abkommen von Ohrid wurde von der sozialdemokratischen Partei, die gemeinsam mit einer albanischen Partei die Regierung gebildet hat, erfolgreich umgesetzt und so kam es in der Folge zu einer friedlichen Entwicklung.
Anfang Juli finden hier Wahlen statt. Und wie immer, wenn Entwicklungen positiv gelöst wurden, ist die Bevölkerung nicht sehr motiviert, sich dafür auch zu bedanken. Die Menschen geben im Gegenteil eher anderen Partien ihre Stimme. Vor diesem Hintergrund ist unsicher, ob die amtierende Regierung bestätigt werden wird oder ob die Opposition zum Zug kommt, die etliche Umsetzungsmaßnahmen des Abkommens von Ohrid bekämpft hat, obwohl sie selbst dieses Abkommen mit unterzeichnet hat.

Konferenz über Werte und Politik

An der Konferenz der Friedrich Ebert-Stiftung haben PolitikerInnen aus Mazedonien, Albanien und Bulgarien teilgenommen, unter anderen der „Gründungs“präsident Mazedoniens, Kiro Gligorov und der frühere Präsident Albaniens, Rexhep Meidani. Beide Staatsmänner haben dieser Tagung einen schillernden Glanz verliehen. Es waren aber auch etliche AkademikerInnen und UniversitätsprofessorInnen anwesend. Und alle TeilnehmerInnen zeichneten sich durch großes Interesse und Offenheit aus.
Am Beginn der Konferenz stand mein Referat, das die Europäische Union als Wertegemeinschaft skizzieren sollte. Der Titel meines Parts lautete: „Die EU – mehr als ein gemeinsamer Markt“. Erst im Zuge der Überlegungen über den Aufbau meines Referates, die ich gestern Abend und heute Früh angestellt hatte, wurde mir bewusst, dass unzählige Entscheidungen der Europäischen Union, insbesondere des Europäischen Parlaments, der vergangenen Wochen Werteentscheidungen gewesen sind. Das Europäische Parlament ist zweifellos stärker an Werten orientiert als der Rat und die Kommission, die oft viel pragmatischer handeln müssen.

Ursprung der EU

Ich habe in meinem Referat schließlich versucht, nicht nur wesentliche Grundsätze zu vermitteln, sondern auch an mehreren Beispielen zu zeigen, wie stark sich die einzelnen Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union an Werten orientieren. Ausgangspunkt war dabei der Gedanke, dass die Europäische Union bereits in ihren Ursprüngen sehr stark wertebezogen war.
Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es darum, Krieg, Rassismus, Faschismus und Nationalismus durch ein Zusammenführen all jener Ressourcen, die im Rahmen der Aufrüstung und Kriegsvorbereitung eine zentrale Rolle spielen – damals Kohle, Eisen und Stahl – zu verhindern. Die Methode bzw. die Mittel waren so gesehen zwar ökonomische. Die eigentliche Zielsetzung war aber keinesfalls eine ökonomische Wirtschaftsgemeinschaft, sondern eine Friedensgemeinschaft. Aus dieser hat sich in der Folge die Wirtschaftsgemeinschaft EWG gebildet. Diese wurde allerdings später in die Union umgewandelt, um auch den politischen Aspekt und den Aspekt der Werte stärker zum Ausdruck zu bringen.

Doppelgleisigkeit

Heute präsentiert sich die Europäische Union vielfältig, man könnte aber auch sagen doppelgleisig. Einerseits fährt sie auf dem wirtschaftspolitischen Gleis des gemeinsamen Marktes und konzentriert sich auf den Lissabon-Prozess, der aus Europa den wettbewerbsfähigsten Kontinent machen möchte.
Und andererseits verfügt sie über einen Grundrechtskatalog, der zwar – weil die Verfassung noch nicht beschlossen wurde – keine Verbindlichkeit hat, aber doch von den Regierungen unterstützt wurde und vom Europäischen Gerichtshof bereits zum Teil für Rechtserkenntnisse herangezogen wird.

Beispiel Erweiterungsgespräche

Einige konkrete Beispiele zeigen, welche wichtige Rolle Werte heute in der Europäischen Union spielen. Da sind zum Beispiel die Erweiterungsverhandlungen. Insbesondere die Gespräche zum Beitritt von Rumänien und Bulgarien der jüngsten Zeit beziehen sich nicht auf Wirtschaftsfragen oder weitreichende internationale Sicherheitsfragen.
Im Vordergrund stehen vielmehr die Rechtssysteme der beiden Länder. Wurden beide Rechtsysteme genügend reformiert, sind sie ausreichend unabhängig und werden Korruption und Kriminalität in einer Weise bekämpft, wie es in aufgeklärten modernen Rechtsstaaten selbstverständlich ist? Und finden auch die Minderheiten, vor allem in Rumänien, ihren Platz und sind ihre Rechte gewahrt?

Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof

Auch der Balkanregion wurde durch die Saloniki-Beschlüsse aus dem Jahr 2003 zugestanden, dass alle Länder potenzielle EU-Kandidaten sind und den Weg in die Europäische Union beschreiten können, wenn sie das wollen und die entsprechenden Voraussetzungen erfüllen. Eine der zusätzlichen Voraussetzungen für die Balkanregion ist allerdings die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof.
Und das ist keine wirtschaftliche Frage, sondern eine Frage der Werte und der Anerkennung. Menschen, die Unrecht begangen haben, die ihre Nachbarn drangsaliert und den Nationalismus auf die Spitze getrieben haben, sollen vor Gericht gestellt werden.

Solidarität in einer Sozialunion

Eine ausschlaggebende Rolle in der EU spielt die Solidarität in einer Sozialunion. Die Europäische Union hat sich in ihrem Grundrechtskatalog, aber auch in vielen anderen Dokumenten – bis hin zum Lissabondokument – gegen Ausgrenzung und für Solidarität ausgesprochen. Sie gibt zudem der Arbeitsschaffung Vorrang.
In den entsprechenden Methoden hält sich die EU allerdings zurück, und es handelt sich in erster Linie auch um eine nationale Angelegenheit. Im Grundrechtskatalog ist aber beispielsweise angeführt, dass ein Anspruch auf öffentliche Dienstleistungen besteht. Gerade in Zusammenhang mit der Dienstleistungsrichtlinie war das ein wichtiger Aspekt, den wir bewusst in den Vordergrund gerückt haben, um klar zu machen, dass wir einem schrankenlosen Wettbewerb, der öffentliche Dienstleistungen in Frage stellt, nicht zustimmen können.

Nichtdiskriminierung und Recht auf Freiheit der Forschung

Ein weiteres, sehr klares Ziel ist die Nichtdiskriminierung. Kein Mensch darf aufgrund seines Geschlechtes, seiner ethnischen Zugehörigkeit oder seiner sexuellen Neigungen und Vorlieben diskriminiert werden. Erst letzte Woche haben wir im Europäischen Parlament mit großer Mehrheit eine Resolution gegen die Zunahme von rassistischen Attentaten verabschiedet. Mit dieser Resolution haben wir uns auch gegen die in Polen um sich greifenden Phänomene einer homophoben Tendenz ausgesprochen, die insbesondere auch durch einige Politiker und Minister geschürt wird.
Hinzu kommen Werte in Zusammenhang mit dem Gesundheitsschutz, dem Recht auf Leben und dem Recht auf Freiheit der Forschung. Die embryonale Stammzellenforschung, die wir in der vergangenen Plenarwoche im Europäischen Parlament diskutiert haben, ist beispielsweise ein Bereich, bei dem unterschiedliche Werte und Werthalten aufeinander prallen. In derartigen Fällen gilt es, einen tragbaren Kompromiss zu finden.

Schließung des Gefangenenlagers Guantanamo

Auch die Arbeit des CIA-Unterausschusses des Europäischen Parlaments ist von Wertvorstellungen getragen. Für diesen Unterausschuss und den in der kommenden Plenarsitzung zu behandelnden Zwischenbericht haben all jene gestimmt, die davon überzeugt sind, dass der Kampf gegen Terrorismus nicht auf der Verletzung von Grundrechten beruhen darf.
Grundrechte und der Kampf gegen den Terrorismus müssen auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. So ist beispielsweise auch im Grundrechtskatalog festgehalten, dass niemand in ein Land abgeschoben werden darf, in dem Folter angewendet wird und der Betroffene einer Foltergefahr ausgesetzt werden würde. Wir haben in dieser Woche im CIA-Untersuchungsausschuss nicht nur einen entsprechenden Bericht abgestimmt, sondern auch mit großer Mehrheit eine Resolution verabschiedet, die die Schließung des Gefangenenlagers Guantanamo auf Kuba fordert. Guantanamo ist eine Verletzung von Grund- und Freiheitsrechten.

Kritische und aktive Nachbarschafts- und Außenpolitik

Nicht zuletzt stehen die vielfältigen Bereiche der Nachbarschafts- und Außenpolitik der Europäischen Union für eine Werteorientierung. Auch hier kritisiert die EU – übrigens in einem wesentlich stärkeren Ausmaß als die USA – die Verletzung von Werten und mahnt deren Einhaltung an.
Das ist der Fall bei Tschetschenien, wo wir Russland entsprechend ermahnen, ebenso wie bei der Nachbarschaftspolitik, bei der wir den Eindruck haben, dass Russland gegenüber Transnistrien, Südosetien und Abchasien – die beiden letzten sind Sezessionsgebiete in Georgien – eine konstruktivere Haltung einnehmen sollte. Wir kritisieren Weißrussland. Wir haben versucht, der Demokratie in der Ukraine ihren Weg zu bahnen. Und wir verfolgen die Entwicklungen im Nahen Osten äußerst aufmerksam und kritisch. All das hängt unmittelbar mit der Durchsetzung von Werten zusammen.

Verletzung von Werten ist nicht akzeptabel

Meine Schlussfolgerung auf der Konferenz am Ohridsee war daher ganz eindeutig. Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft. Sie hat, insbesondere durch das Europäische Parlament, immer wieder darauf verwiesen, dass es zentrale Werte gibt, die von Mitgliedsländern, aber auch von der Europäischen Union selbst eingehalten werden müssen – unabhängig davon, dass es auch in den eigenen Ländern immer wieder zu Verletzungen dieser Werte kommt. Ausschlaggebend ist aber nicht, ein utopisches Ziel zu erreichen, bei dem keine Verletzungen von Werten mehr stattfinden – das wird sehr schwierig bis unmöglich sein.
Wir müssen stattdessen ganz unmissverständlich klar machen, dass Verletzungen von Werten nicht akzeptabel sind und dass möglichst schnell und automatisch Mechanismen in Gang gesetzt werden, die diejenigen, die die Werte verletzt haben, in ihre Schranken weisen. Nur so ist eine Korrektur und in der Folge eine positive Entwicklung möglich.

Engstirnigkeit und Nationalismus

In der anschließenden Diskussion wurde die Frage gestellt, ob der Balkan in besonderem Ausmaß zur Verletzung von Werten neigt und besonders nationalistisch agiert. Es mag sein, dass es eine diesbezügliche Tendenz gibt. In einem über Video eingespielten Interview hatte ein deutscher Professor von slawischer Engstirnigkeit gesprochen. Das hat einige zu Widerspruch veranlasst. Andere wiederum haben seine These unterstützt.
Aus der Geschichte heraus haben sich in dieser Region möglicherweise Engstirnigkeit und Nationalismus stärker entwickelt als anderswo. Ähnliche Tendenzen finden sich aber auch in Polen, in Deutschland, in Italien, zum Teil in Österreich und in anderen Ländern, in Großbritannien zeichnet sich beispielsweise ein massiver Anti-Europäismus ab.

Spielball der Großmächte

Engstirnigkeit, ein Mangel an Weltoffenheit und die Bereitschaft, sich zu modernisieren kommen also nicht ausschließlich in der Balkanregion zum Tragen – wenngleich diese Tendenzen aufgrund der geschichtlichen Entwicklung hier stärker vertreten sein mögen. Man darf aber nicht vergessen, dass diese Region über einen langen Zeitraum der Spielball der Großmächte gewesen ist.
Die so genannten Balkankriege waren Kriege, an denen Russland, Österreich-Ungarn, Deutschland und zum Teil England, Frankreich und die Türkei beteiligt waren. Es war eine Region, die mehr das Schlachtfeld abgegeben hat, aber nicht ursächlich für die kriegerischen Auseinandersetzungen verantwortlich war.

Modernisierungs- und Aufklärungsprozesse

Es stimmt aber zweifellos, dass gerade in der Balkanregion Modernisierungs- und Aufklärungsprozesse stattfinden müssen – und zwar relativ schnell, möchte man den Anschluss an europäische und internationale Entwicklungen nicht verpassen. Wir müssen unsererseits vermitteln, dass die Europäische Union nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft ist, der man deshalb beitritt, weil man am europäischen Markt partizipieren möchte.
Wir müssen klarmachen, dass ein EU-Beitritt mit der Verpflichtung verbunden ist, Nationalismus, Engstirnigkeit und die Bereitschaft, Werte zu verletzen, zu bekämpfen. Wir müssen in diesem Sinn verdeutlichen, dass der Beitritt zur Europäischen Union ein Beitritt zu einer Wertegemeinschaft ist.

Struga, 17.6.2006