Europa ist mehr als eine Kartoffel

Europa muss hinsichtlich seiner inneren Struktur, seiner Fähigkeit, die Bedürfnisse seiner Bürger zu befriedigen und auch nach außen hin für Sicherheit und dauernden Frieden zu sorgen, noch an sich arbeiten. 
Triest ist unbestritten ein guter Ausgangspunkt, um über die Erweiterung der Europäischen Union zu sprechen. Die Stadt ist in gewissem Sinn ein Gelenk zwischen Ost und West und Nord und Süd. Sie ist ein Tor zur Welt. Und sie schließt sich nicht ab, sondern öffnet sich. Dennoch wohnen diesen internationalen Ausrichtungen eigene Identitäten inne: die unterschiedliche deutsch-, italienisch- und slowenischsprachige und entsprechend beeinflusste Kultur ist insbesondere in der Literatur zu finden.

Mischung aus eigener Identität und internationaler Vielfältigkeit

Genau das, was sich in Triest über viele Jahrhunderte entwickelt hat – eine Mischung aus Vielfältigkeit und eigener Identität sowie Orientierung am internationalen Geschehen, eine feste Verbindung in die Welt hinein – wollen wir auch in Europa aufbauen, erzeugen und erfinden. Das ist allerdings nicht ganz leicht, da jeder unterschiedliche Vorstellungen darüber hat, wie dieses Europa aussehen soll. Und so würde wahrscheinlich auch jeder, den wir heute fragen würden, wie er sich die Zukunft Triests vorstellt, auf ganz unterschiedliche Ideen kommen.

Ein Recht auf Europa

Triest hat sich über viele Jahrhunderte hinweg entwickelt. In Europa haben wir nicht so viel Zeit. Wir müssen rasch zu einer Gestalt kommen, wenn all das, was wir in den vergangenen Jahren an Positivem entwickelt haben, nicht verloren gehen soll. Die Erweiterung der Europäischen Union ist zudem für viele unserer Nachbarn ein Rechtsanspruch. Sie haben ein Recht, der Europäischen Union anzugehören, und ich halte das auch für richtig. Dieses Recht kann keinem europäischen Staat verwehrt werden.

Einer für alle, alle für einen

Die Erweiterung sollte aber darüber hinaus auch ein gemeinsamer Wunsch sein. Es geht ja nicht darum, eine diffuse atlantische, europäische, westliche Gemeinschaft herzustellen. Und es geht nicht darum, die christlich abendländische Gesellschaft zu vervollständigen. Nein, wir sind keine rein christlich abendländische Gesellschaft, auch wenn der Einfluss des Christentums nicht zu leugnen ist. Aber wir haben auch jüdische und islamische Einflüsse – in der Vergangenheit, in der heutigen Zeit und sicherlich auch in der Zukunft.
Es ginge also vielmehr darum, Europa verstärkt als globalen Faktor zu sehen. Gerade in einer Situation, in der sich die Welt immer mehr globalisiert, die Entwicklungen in einem Teil der Welt unweigerlich auf die Entwicklungen in einem anderen Teil der Welt Einfluss haben – wir haben das jüngst sehr tragisch erlebt -, ist ein starkes Europa wichtig. Dabei gilt es, unsere eigenen Interessen zu wahren, aber auch unseren entscheidenden Beitrag dazu zu liefern, dass die Menschen in dieser Welt leben und überleben können, und mehr als das: dass sie in Frieden, mit Anstand und Würde in dieser Welt leben können.

Effizienzsteigerung nach innen

Die Erweiterung der Europäischen Union wird aber nur dann effizient und nachhaltig gelingen, wenn sie von einer Stärkung der Europäischen Union begleitet ist. Die Entscheidungsfähigkeit der Union ist in vielen Fällen nach wie vor zu schwach ausgebildet.
Und auch wenn wir zufrieden sein können, dass Europa Tage und Wochen nach dem 11. September in Gleichklang gehandelt hat, darf uns das nicht darüber hinwegtäuschen, dass sowohl auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik als auch im Bereich der Wirtschaftspolitik noch vielfach Mängel herrschen. Daher ist es für uns äusserst wichtig, den Erweiterungsprozess mit einem Konvent zu begleiten. Einem Konvent, der eine Verfassung, ich persönlich verwende lieber den Begriff Charta, für diese Europäische Union ausarbeiten soll.

Zieldatum 2004

Das Zieldatum für die Erweiterung wie auch für den Abschluss einer solchen Konventarbeit bleibt das Jahr 2004. Es mag dabei Verschiebungen um einige Monate geben, aber wir sollten eigentlich bereits vor den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2004 die Gesamtarbeiten für die neue Europäische Union abgeschlossen haben.
Natürlich wird es auch nach dem Jahr 2004 weitere Überlegungen über die Zukunft der Europäischen Union geben müssen. Erstens werden einige Länder übrig bleiben, die zu diesem Zeitpunkt den Erweiterungsprozess noch nicht mitmachen können. Mag sein, dass dies nur Rumänien und Bulgarien sind und die anderen beim so genannten Big Bang dabei sind. Aber jedenfalls und gerade in Hinblick auf die nach wie vor prekäre, noch nicht wirklich entschiedene Situation in Süd-Ost-Europa ist es unumgänglich, dass wir uns nach dem Jahr 2004 mit der Entwicklung dieser Region beschäftigen und dort ebenfalls den entsprechenden Erweiterungsprozess vorbereiten.

Work in progress

Wenn die Erweiterung 2004 stattfinden soll, dann muss sie allerdings schon 2002 so gut vorbereitet sein, dass es auch zur Ratifizierung der Verträge kommen kann. 2002 ist also das eigentliche Ende der Verhandlungen. Und genau ab dann ist es Zeit, sich auch in stärkerem Ausmaß mit der Entwicklung Süd-Ost-Europas zu beschäftigen.
Die Erweiterung ist insgesamt ein Prozess, der zu keinem bestimmten Zeitpunkt endgültig abgeschlossen sein kann, sondern kontinuierlich zu verfolgen ist.

Europäische Sicherheitsarchitektur

Europa braucht ausserdem dringend eine neue Sicherheitsarchitektur. Eine Sicherheitsarchitektur, die gerade angesichts der Terrorentwicklung weder damit abgetan werden kann, dass immer mehr Länder der NATO beitreten, noch damit, dass es eine Eingreiftruppe auf europäischer Ebene gibt. Die grenzüberschreitende Kriminalität, der Handel mit Prostituierten, Drogen und Waffen, die Korruption und Geldwäsche und dringender denn je der Terrorismus, bedürfen sicherheitspolitischer Lösungen.
Eine europäische Sicherheitsarchitektur ist zudem in ein globales Bündnis einzuschließen. Es wäre deshalb sinnvoll, die Vereinten Nationen als einen Kernpunkt einer solchen neuen, globalen Sicherheitsarchitektur zu sehen.

Nichts ist umsonst

Es wäre unsinnig anzunehmen, die Erweiterung der Europäischen Union würde nichts kosten. Sie kostet die Erweiterungsländer etwas, und zwar gar nicht wenig. Und das Gleiche gilt für die Europäische Union. Sie setzt voraus, dass von den Nettozahlern mehr Geld in die Hand genommen werden und es zu einer Umschichtung der Ressourcen kommen muss, nach dem sehr einfachen, aber schwer umzusetzenden Motto: Die einen bekommen weniger als bisher, und die anderen zahlen mehr als bisher.
Anders wird es nicht gehen. Die neuen Länder stellen äusserst schwierige Anforderungen an die gesamteuropäische Kohäsionspolitik, d. h. an die gesamteuropäischen Versuche, die Unterschiede zwischen Arm und Reich zu verringern. Das ist ein langsamer Prozess, von dem man sich keine Wunder erwarten darf. Die Kohäsion ist ja nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch unterschiedlicher Einstellungen, Mechanismen und Organisationsformen in Wirtschaft und Gesellschaft.

Kluft zwischen Arm und Reich schliessen

Die Kohäsionspolitik ist allerdings nicht nur eine interne Aufgabe der Europäischen Union, sondern es geht um einen weltweiten Ausgleich. Die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Luxus und Hunger bzw. Elend ist dermaßen gross, dass sie immer wieder neue Nährböden und Rechtfertigungen für Unruhen und für den Terrorismus entstehen lässt.
Nichts rechtfertigt terroristische Aktionen vom moralischen Gesichtspunkt aus, aber in den Augen jener, die der Terrorismus vorführen und vollziehen wollen, sind diese Ungerechtigkeiten gute Argumente, um viele, vor allem junge, Menschen zu verführen, sich dem Terrorismus anzuschließen. Und ein Bündnis gegen den Terrorismus ist kaum möglich, wenn denen, die überzeugt werden sollen, dass sie mit uns gemeinsam gegen den Terror kämpfen sollen, täglich die Ungleichheiten dieser Welt vor Augen geführt werden. Und zwar so, dass wir zumindest Mitverursacher dieser Ungerechtigkeiten sind.

Grosse Pläne

Wir haben uns in der Europäischen Union mit der Erweiterung viel vorgenommen. Wir streben an, die Verhandlungen mit 10 Ländern bis 2002 abzuschließen. Wir wollen die „Übriggebliebenen“, Rumänien und Bulgarien, mit denen zwar schon verhandelt wird, ein Abschluss aber sicher nicht bis 2004 erzielt werden kann, weiter unterstützen und ihnen Hilfen gewähren.
Und wir wollen und müssen einen Weg finden, um mit der Türkei in echte Gespräche zu kommen. Das gilt übrigens auch für die Ukraine und für Russland. Diese beiden Länder sind aus meiner Sicht zwar keine potentiellen Mitgliedsländer, aber doch sehr enge Partnerländer der Europäischen Union, ebenso wie letztendlich auch die Türkei.

Kriseninterventionen

Ab 2002 wollen wir uns ausserdem bemühen, dem Balkan eine klarere Heranführungsstrategie an die Europäische Union zu bieten. Angesichts der hohen Armut, dem rasanten Bevölkerungswachstum und der wachsenden sozialen Kluft in diesem Raum selbst und zwischen der Region und Europa ist das eine grosse Herausforderung.
Hinzu kommt ausserdem der mittel- und nord-östliche Krisenraum, wo ebenfalls extreme Armut und starkes Bevölkerungswachstum herrschen. Der Kolonialismus oder jedenfalls die Erinnerung an ihn ist eine Mischung, die dem Fundamentalismus und dieser wiederum dem Terrorismus Unterschlupf gewährt und Nahrung bietet. Und genau das müssen wir schon im eigenen Interesse unterbinden.

Eigene Identität entwickeln

Einer meiner Vorredner bei der Erweiterungskonferenz der „Fondazione Lucchini“, Anlass meiner Reise nach Triest, hat in seinem Statement gemeint, Europa sei nicht nur eine Kartoffel, die man bloß aus dem Boden ausgraben müsse. Damit hat er absolut recht. Europa muss hinsichtlich seiner inneren Struktur, seiner Fähigkeit, die Bedürfnisse seiner Bürger zu befriedigen und auch nach außen hin für Sicherheit und dauernden Frieden zu sorgen, noch an sich arbeiten.
Dabei sind wir vor die Schwierigkeit gestellt, eine eigene europäische Identität zu entwickeln. Die gemeinsame Geschichte Europas war allzu oft eine Geschichte der Kriege gegeneinander, der tiefen Klüfte, die zwischen den unterschiedlichen Regionen und den Religionen geherrscht haben. Für die Identität in Europa allerdings müssen diese Erfahrungen überwunden werden und der Erkenntnis über die Notwendigkeit einer gemeinsamen Zukunft in einer neuen Heimat weichen, in der wir ein weitaus höheres Ausmaß an Sicherheit haben als in unseren kleinen Heimaten auf nationaler Ebene.
Das ist eine schwierige Aufgabe. Aber vielleicht wird gerade auch das für immer mit dem 11. September verbunden sein: Die Angst, die sich in unsere Hirne und Herzen eingeschlichen hat, zu klein zu sein und sich ständig verstecken zu müssen, aufzugeben und zu wissen: Es ist immer besser, Weltereignisse zu beeinflussen, als nur ihr Opfer zu sein.  
Triest, 8.10.2001