European Strategy Forum

Ich würde mir wünschen, dass sich aktive PolitikerInnen in verstärktem Ausmaß überlegen, wie sie nicht nur die Tagespolitik betreiben, sondern auch dazu beitragen können, dem europäischen Projekt einen Sinn und die richtige Richtung zu geben.
Im Anschluss an die vergangene Plenarwoche in Straßburg bin ich Donnerstagabend über Paris nach Porto geflogen. Vom Flughafen brachte ein Taxi mich und zwei weitere Teilnehmer zum Tagungsort eines Seminars, das in Ponte de Lima stattgefunden hat. Es war eine etwas abenteuerliche Fahrt, weil wir in völlig unterschiedlichen Quartieren in Form von Landhäusern untergebracht waren und der Taxifahrer diese verschiedenen Quartiere in der dunklen Nacht nicht auf Anhieb finden konnte.

Prominenter TeilnehmerInnenkreis

Besagtes Seminar fiel in die heiße Phase des österreichischen Wahlkampfes und es war daher für mich nicht ganz einfach, mich frei zu machen und hierher zu kommen. Meine Zusage, an dem Seminar teilzunehmen, hatte ich zu einem Zeitpunkt gegeben, als noch gar nicht bekannt war, dass die Nationalratswahl am 1. Oktober stattfinden wird. Das „European Strategy Forum“, zu dem mich der frühere Kommissar Antonio Vitorino eingeladen hatte, war eine ungemein dichte und interessante Auseinandersetzung mit den verschiedenen Themen, mit denen wir es heute zu tun haben.
Der TeilnehmerInnenkreis setzte sich aus einer Reihe von WissenschaftlerInnen, die auf diesem Gebiet arbeiten, zusammen. Aber auch aktive PolitikerInnen, wie mein Kollege Andrew Duff und ich selbst, EU-Regionalkommissarin Danuta Hübner, der slowenische Außenminister Dimitrij Rupel, der früheren Premierminister von Griechenland, Costas Simitis, der frühere französische Außenminister Jean François Poncet sowie die bis vor kurzem stellvertretende mazedonische Ministerpräsidentin Radmila Sekerniska, die aufgrund der verlorenen Wahlen derzeit nur mehr Abgeordnete ist, aber dank ihres jugendlichen Alters sicher wieder in eine Regierungsfunktion kommen wird, waren an dem Seminar aktiv beteiligt. Ebenso wie hohe Beamte, etwa der Generaldirektor für auswärtige Angelegenheiten im Ministerrat, Robert Cooper oder der spezielle Chefberater von Tony Blair. Auch etliche EU-Botschafter, die ja an den Beschlüssen des Rates wesentlich beteiligt sind, waren in Ponte de Lima anwesend.

Künftige europäische Entwicklungen

Insgesamt waren es also interessante Persönlichkeiten, die sich hier in Ponte de Lima zurückgezogen haben, um grundsätzlich darüber nachzudenken, wie die Entwicklung auf europäischer Ebene weitergehen soll. Der Bogen reichte dabei von der Frage, wie wir aus dem Dilemma um die Verfassung herauskommen können bis hin zu grundsätzlichen Fragen der Budget-Reform. Auch über die Erweiterung und mögliche Alternativen dazu diskutierten wir. In diesem Punkte konnte ich selbst mich einschalten, denn ich war gebeten worden, über die Sicherheitsstrategie, aber auch zu Migration, Integration und Energiepolitik zu referieren.
Es ist schwer, eine Zusammenfassung der gesamten Diskussionen wiederzugeben. Ich möchte trotzdem versuchen, einige Anmerkungen dazu zu machen. Was die Verfassung betrifft, waren wir uns eigentlich einig, dass wir aus dem derzeitigen Dilemma herauskommen müssen. Wir sollten dabei aber kein „Alles oder Nichts“-Prinzip verfolgen. Das Argument, man dürfe kein „chary picking“ betreiben, also keine einzelnen Teile aus der Verfassung herausnehmen, zieht meiner Ansicht nach nicht. Wir sollten sehr wohl jene Teile der Verfassung, die weitgehend unbestritten sind, in Form eines Vertrags wie alle bisherigen Verträge der Europäischen Union durch die einzelnen Parlamente ratifizieren lassen. Es gilt jetzt, in erster Linie die Entscheidungsfähigkeit der Union zu stärken und damit eine Erweiterung möglich zu machen. Obwohl dieses Ziel nicht alle verfolgen, müssen wir konkret und mit großem Nachdruck daran arbeiten.

Budgetreform

Hinsichtlich der Budget-Reform wurde der Vorschlag gemacht, einerseits ein generell erhöhtes Budget sicherzustellen. Vor allem aber sollte die Koordination zwischen dem Budget und den europäischen Ausgaben, die ja nur einen geringen Prozentsatz betragen – derzeit etwa 1% des Bruttosozialprodukts – mit den nationalen Budgets und den nationalen Investitionen stärker verkoppelt werden.
Selbst wenn wir das Budget verdoppeln, wird es dadurch nicht zu einem Steuerungsinstrument für die Wirtschaft und insbesondere für die Konjunktur werden. Wir können aber sehr wohl die Mittel des EU-Budgets und der nationalen Budgets gezielter einsetzen, um vor allem auch zu einer entsprechenden Förderung der Infrastruktur sowie der Forschung und Entwicklung in Europa zu kommen

Zukunft der Erweiterung

In Punkto Erweiterung waren wir uns einig, dass diese ein großer Erfolg ist. Trotzdem habe ich mehr als Andere auf einige Probleme hingewiesen habe, etwa die Frage der Migration und hier vor allem der Arbeitsmigration, die man nicht unterschätzen sollte. Das zeigt nicht zuletzt der Widerstand in Großbritannien, die Grenzen auch nach einem Beitritt von Rumänien und Bulgarien weiterhin offen zu lassen.
Wir haben in Ponte de Lima auch darüber nachgedacht, wie wir für Länder wie die Ukraine, zu einem späteren Zeitpunkt für Weißrussland, wenn sich dort entsprechende demokratische Entwicklungen abzeichnen, für Moldawien, aber auch für die Süd-Kaukasus Länder Georgien, Aserbaidschan und Armenien eine Form finden können, sie stärker an die Europäischen Union zu binden ohne dabei aktuell noch in absehbarer Zeit die Frage der Erweiterung auf den Tisch zu bringen.

EU-Schwarzmeergemeinschaft

Ich habe bereits vor Jahren die Frage aufgeworfen, ob es nicht einen europäischen politischen und wirtschaftlichen Raum im Sinne einer Gemeinschaft geben sollte. Man könnte in diesem Fall auch von einer EU-Schwarzmeergemeinschaft sprechen, da alle betroffenen Länder am Schwarzen Meer liegen. Eine solche Gemeinschaft könnte diese Länder in einer wirklich tragfähigen Assoziation an Europa binden und die Frage einer Mitgliedschaft damit aus der heutigen Debatte weitgehend ausklammern. Eine Mitgliedschaft zu einem späteren Zeitpunkt ist nicht ausgeschlossen. Aber sie kann sicherlich nicht jetzt und nicht in der aktuellen oder einer absehbaren Form der Konstruktion der Europäischen Union erfolgen.

Dialogplattform bilden

Zweifellos sollte dabei auch die Türkei eine Rolle spielen. Sie könnte ein Land sein, das nicht nur selbst mit der EU verhandelt, sondern gleichzeitig auch dieser Gemeinschaft angehört, weil ja auch die EU dieser Gemeinschaft angehört. Ich bin mir aber bewusst, dass die Türkei das als ein Abschieben, als eine Ersatzlösung darstellen würde.
Aus meiner Sicht geht es aber absolut nicht um Ersatzlösungen, sondern in erster Linie um die gemeinsamen Interessen, die es in diesem Raum gibt: von Energie- über Umwelt- und Sicherheitsfragen bis hin zum Verhältnis zu Russland. Hier muss eine entsprechende Dialogplattform gebildet werden. Russland mag das vielleicht als negativ erachten. Wir wollen aber nichts gegen Russland unternehmen, sondern vielmehr gemeinsam mit Russland in einem entsprechenden Dialog zu einer vernünftigen Form kommen.

Multilaterale Strategie in der Sicherheitspolitik

Ich war sehr froh, dass Robert Cooper, der beim European Strategy Forum den Rat vertreten hat, eine sehr klare, multilaterale Strategie hinsichtlich der Sicherheitspolitik wiedergab, die auf eine Kooperation mit den USA abzielt. Eine solche Partnerschaft muss allerdings einigermaßen ausgeglichen sein, zumindest müssen beide Seiten die Möglichkeit haben, ihre Ideen und Gedanken in diese Partnerschaft einzubringen. Eine einseitige Abhängigkeit ist in diesem Zusammenhang inakzeptabel.
Der portugiesische Vertreter, der ebenfalls dazu Stellung bezog, war hingegen aus meiner Sicht viel zu sehr an Amerika orientiert. Er unterstrich die Abhängigkeit Europas von Amerika und bewegte sich nicht wirklich in Richtung Partnerschaft. Ich habe mit Schrecken zur Kenntnis genommen, dass er vor kurzem zum Berater von Kommissionspräsident Barroso in Sicherheitsfragen nominiert worden ist. Das ist – jedenfalls aus meiner Sicht – kein besonders gutes Zeichen. Und diese Meinung wurde von mehreren anderen in Ponte de Lima geteilt.

Dialog der Religionen

Hinsichtlich der Frage des Raumes für Freiheit, Sicherheit und Justiz ging es, nicht zuletzt aufgrund der aktuellen Situation, auch um die Migration und das Verhältnis zum Islam. Ich berichtete aus diesem Anlass von meinen Gesprächen mit den Imamen von Sarajewo und Damaskus. Ich versuchte darzustellen, dass wir, selbst wenn der Begriff Euroislam nicht sonderlich geeignet ist, doch islamische Kräfte in unseren Ländern brauchen, die sehr wohl bereit sind, unsere Werte und Normen zu akzeptieren und die im Zweifelsfall keine inakzeptablen Interpretationen des Koran als höhere Werte darstellen als jene Werte, die sich im Laufe der Jahrhunderte auf europäischer Ebene herausentwickelt haben.
Ich setze mich zweifellos besonders stark für diesen Dialog der Religionen und den Respekt der Religionen ein. Aber ich bin auch davon überzeugt, dass es absolut notwendig ist klarzustellen, dass wir unsererseits Respekt für unsere Werte und Normen fordern – insbesondere von all jenen BürgerInnen, die in unseren Ländern leben. Dabei geht es nicht nur um diejenigen, die dem Islam angehören, sondern selbstverständlich auch um alle anderen. Trotzdem dürfen wir unsere Werte nicht vor uns hertragen und darauf lauern, dass bestimmte Islame sie nicht akzeptieren. Wir müssen es vielmehr als ein selbstverständliches demokratisches Prinzip ansehen, dass die jeweiligen Meinungen einzuhalten sind. Und wir müssen uns der Unterstützung zahlreicher Islame versichern, die ebenfalls in diese Richtung gehen.

Energiepolitische Grundsätze

Auch das Thema Energiepolitik war Gegenstand einer Debatte in Ponte de Lima. Heute findet eigentlich keine europäische Debatte mehr statt, ohne auf die Energiepolitik Bezug zu nehmen. Es geht dabei nicht nur darum, dass wir unsere Energieversorgung sicherstellen. Wir müssen zudem den anderen Ländern vermitteln, wie wichtig jene Grundsätze sind, die wir in energiepolitischer Hinsicht vertreten.
Einer der Referenten meinte beispielsweise, dass, wenn China sein Sozialprodukt verdoppelt und bei der Frage der Energieeffizienz den europäischen statt des amerikanischen Weges geht, dies einen Unterschied im Ausmaß des heutigen Energieverbrauches Europas ausmache. Das bedeutet: Würde China den europäischen Weg gehen, würde es um jene Menge Energie, die heute in einem Jahr von Europa verbraucht wird, weniger verbrauchen als wenn es den amerikanischen Weg geht. Tatsächlich geht China derzeit wohl einen noch viel weniger energieeffizienten Weg. Wir sollten uns jedenfalls verstärkt darüber klar werden, dass wir zwar mehr Wettbewerb, aber ebenso mehr Investitionen brauchen – vor allem in das bestehende Netz, aber vor allem auch in alternative Formen der Energieproduktion. Beim European Strategy Forum kristallisierten sich hier doch ziemliche Unterschiede zwischen jenen, die meinten, der Markt würde all dies regeln und jenen, die mehr öffentliches Engagement forderten, heraus.

Öffentliches Engagement

Es sind nur einige Gedankensplitter, die wir bei dieser Tagung andiskutiert haben. Dennoch zeigen sie die Fülle von Informationen, die uns heute in Europa beschäftigen müssen, um entsprechende Fortschritte zu erzielen. Ich würde mir wünschen, dass sich aktive PolitikerInnen in verstärktem Ausmaß überlegen, wie sie nicht nur die Tagespolitik betreiben, sondern wie sie auch dazu beitragen können, diesem europäischen Projekt einen Sinn und die richtige Richtung zu geben.
In meiner Antwort zu den Anmerkungen von Kommissarin Danuta Hübner habe ich angemerkt, dass wir bei der Frage der Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Energiepolitik und vor allem beim Umgang mit den Effekten der Globalisierung wesentlich deutlicher herausarbeiten müssen, dass wir uns in Europa nicht blindlings der Globalisierung und den internationalen Entwicklungen ausliefern wollen. Wir müssen klar machen, dass wir eine sehr bewusste und gezielte Politik betreiben, die vor allem auch den sozial Schwächeren eine Möglichkeit eröffnet, an den Früchten der Globalisierung teilzuhaben. Das setzt voraus, dass wir grundsätzlich auch tatsächlich Früchte der Globalisierung zu verteilen haben. In diesem Sinn müssen wir uns insbesondere in den Bereichen Wissenschaft und Forschung anstrengen. Die einigermaßen gerechte Verteilung funktioniert aber jedenfalls nicht über den Markt alleine. Das geht nur mit entsprechendem öffentlichem Engagement – auf nationaler wie auf europäischer Ebene.

Ponte de Lima, 30.9.2006