Europäische Identität – bitte warten…

Das typisch Europäische kommt in unseren Vorstädten, in unseren Werbetexten, die – ob in Athen, Krakau oder Brüssel – die Einfahrtsstraßen kennzeichnen, gar nicht mehr vor. 
Ich bin von Athen über Zürich nach Krakau geflogen. Erst gestern Abend erfuhr ich mit Schrecken, dass an jenem Tag, an dem ich in Zürich umgestiegen bin, etwas später eine Linie der Swiss Air bzw. Cross Air abgestürzt ist und es viele Tote, allerdings auch einige Überlebende gegeben hat. Das hat mir wieder einmal die Gratwanderung vor Augen geführt, die alle jene beschreiten, die oft fliegen.
In Krakau habe ich auf Einladung des österreichischen Generalkonsuls Dr. Bresovsky an einer Diskussion über „Europäische Identität und Erweiterung“ teilgenommen. Die Veranstaltung fand an der Kopernikus-Universität, einer der ältesten Universitäten Europas, statt. Wir konnten bei dieser Gelegenheit auch die Räumlichkeiten und die Instrumente, die Kopernikus benutzt hat, besichtigen.

Nationale Identität

In Vorbereitung auf die Diskussion stieß ich auf ein Buch von Anne-Marie Thiesse, eine der VorstandsdirektorInnen des Forschungsinstitutes LNRS in Paris, die über die Bindung der nationalen Identität geschrieben hat.
Sie macht deutlich, dass die Nation nicht etwas natürlich Gewachsenes ist, sondern das Resultat einer sehr entschiedenen Aufbau- und Erfindungsarbeit. Allerdings fügt sie an, dass jene Nationenbindung erfolgreich waren, bei denen auch die Menschen überzeugt werden konnten, sich emotional an diese Nation zu binden. Vor allem gemeinsame Symbole wie die Flagge, die Hymne und die Orientierung an nationalen Helden und deren tatsächlichen oder ebenfalls erfundenen Heldentaten spielten jeweils eine grosse Rolle.

Europäisierungsprozess beginnt gerade erst

Diese Überlegungen zeigen die Parallelität, aber auch die Unterschiede zum Europäisierungsprozess ganz klar. Einerseits muss auch Europa großteils erfunden werden, denn es ergibt sich nicht von selbst. Und andererseits fehlen uns gerade wichtige, gemeinsame europäische Symbole, bzw. wo wir sie haben, wie bei der Hymne oder der Flagge Europas, schaffen sie nicht diese Emotionalität.
Die Nationenbildung und die emotionale Bindung an die einzelnen Nationen ist nach wie vor so stark, dass entsprechende Überlagerungen durch die Nation die Europäisierung ungeheuer schwierig machen. Die gemeinsame Währung, die wir Gott sei Dank bald bekommen, wird uns für die Herausbildung einer Europäischen Identität entscheidend helfen – das ist eine Hoffnung, aber noch keine Gewissheit. Es wird noch Jahre dauern, bis wir uns mit dieser Währung auch emotional so stark identifizieren, dass wir durch sie einen entsprechenden Identitätsgewinn erhalten.

Man wird nicht automatisch Europäer!

Einige Teilnehmer der Krakauer Diskussionsrunde haben gemeint, die europäische Identität ergäbe sich einfach dadurch, dass sie Polen seien. Weil sie Polen sind, seien sie Europäer, und wenn sie christliche Polen sind, dann seien sie in ganz besonderem Ausmaß Europäer. Aber das allein ist viel zu wenig. Ein Journalist des hiesigen Fernsehens machte in diesem Sinn klar, dass es in Polen unzählige Minderheiten, gibt, die nach diesen Kriterien nicht unbedingt Europäer sind und für die nicht automatisch Europa die Heimat ist.
Mir schien es in diesem Zusammenhang wichtig zu sein, nochmals den Konstruktions- und Erfindungsprozess, den wir vorhaben, zu betonen – insbesondere in Zusammenhang mit der Globalisierung. So wies ich einmal mehr darauf hin, dass, wenn wir unsere nationale Identität und unsere kulturellen Eigenschaften und Eigenheiten bewahren wollen, wir dies kaum mehr aus der Nation heraus tun können. Wir brauchen Europa, um das Bestehende zu verteidigen.

Gefahr Globalisierung

Die große Gefahr für die Identitäten auf regionaler und nationaler Ebene ist ja nicht Europa. Es ist vielmehr der Globalisierungsprozess, der durch internationale Konzerne vorangetrieben wird und der unübersehbar durch amerikanische Eigenschaften geprägt ist. Und genau diese Eigenschaften tragen zu einer gewissen Uniformiertheit bei, die weit über Europa hinausgeht. Das typisch Europäische kommt in unseren Vorstädten, in unseren Werbetexten, die – ob in Athen, Krakau oder Brüssel – die Einfahrtsstraßen kennzeichnen, gar nicht mehr vor. Genau deshalb bedarf es sehr wohl einer europäischen Identität, um auch die Nation und die Region zu stärken.
Wie schon bei der Diskussion in Athen vor wenigen Tagen gab es auch in Krakau kritische Stimmen, die den Abstraktionsgrad unserer Diskussion durch ein konkretes Problem durchbrechen wollten. Wieder einmal war es ein Vertreter der Landwirtschaft, der sich zu Wort meldete und um Rat bat, was er tun solle, damit die Landwirtschaft sich nicht völlig dem Diktat der Multis und der Globalisierung unterwerfen müsse.

Neue Landwirtschaftspolitik

Auch hier meinte ich: Die Antwort ist Europa. Europa kann mithelfen, der polnischen Landwirtschaft jene Strukturformen zu finanzieren, die notwendig sind, um in Europa einen längerfristigen Bestand der Agrarwirtschaft zu haben. Dazu ist es notwendig, dass Polen selbst aktiv daran mitarbeitet, diese Landwirtschaftspolitik und deren Förderungsstruktur in Zukunft neu zu strukturieren. Sollen weiterhin vorrangig die großen, industriell orientierten Betriebe unterstützt werden oder vielmehr die kleineren und mittleren Unternehmungen, die für die Erhaltung der Landwirtschaften, aber auch für die Erhaltung der Landschaft einen entscheidenden Beitrag zu leisten haben und auch entsprechend gestützt werden sollten?
Das scheint mir nicht nur eine landwirtschaftliche Interessenspolitik zu sein, sondern auch eine europäische Umweltpolitik. Und bei aller Notwendigkeit, Schranken gegenüber den ärmsten Ländern und deren Agrarexporten abzubauen, haben wir doch auch ein Recht und die Pflicht, unsere landwirtschaftliche Strukturen insofern ohne Anpassung zu erhalten, als sie durch mehr Qualität und Ökologie den Anforderungen des heutigen und des morgigen Konsumenten und nicht den Agrarinteressen in Amerika, Australien und Kanada entsprechen. Das ist noch immer sehr abstrakt formuliert. Aber trotzdem ist es für mich die Zielrichtung, wie wir im Bereich der Landwirtschafts- und Landschaftspolitik die europäische Identität bewahren müssen.

Vom Krieg verschont geblieben

Nach der Konferenz in Krakau und vor allem am nächsten Tag hatte ich noch ein bisschen Gelegenheit, mir die Stadt anzusehen. Das letzte Mal war ich hier, als noch der Kommunismus geherrscht hat. Krakau hat – im Gegensatz zu Warschau – das Glück, noch vollständig erhalten zu sein. Die Stadt wurde im Krieg nicht zerstört. Das hängt zum Teil auch damit zusammen, dass die Deutschen, die hier den Sitz ihres Generalkonsulats hatten, gar nicht dazu gekommen sind, jene Sprengungen vorzunehmen, die sie vorbereitet hatten. Der Ring der Russen hat sich derart schnell um die Stadt geschlossen, dass es nur mehr darum ging, Krakau fluchtartig zu verlassen.
Glücklicherweise hat das Eigeninteresse letztlich doch obsiegt. Und so ist nicht nur die Altstadt mit ihren Läden, Tuchhallen und allen anderen Gebäuden erhalten geblieben, sondern zum Beispiel auch das jüdische Viertel Kazimierz, das einen wunderschönen und äußerst interessanten Eindruck auf seine Besucher hinterlässt.

Konservativ bis in die Knochen

Das Erhalten der Gebäudestrukturen hat aber wahrscheinlich auch zur extrem konservativen Grundhaltung in dieser Stadt beigetragen. Krakau hat beispielsweise tatsächlich den jetzigen Präsidenten Kwasniewski ob seiner kommunistischen Herkunft und Vergangenheit als Persona non grata erklärt.
Der Rektor der Kopernikus-Universität, ein sympathischer und kompetenter Mann, hat, wie er uns erzählte, daraufhin gemeinsam mit dem Kardinal versucht, diese unsinnige Tat und Aufmüpfigkeit zu überwinden und den Präsidenten zur 600-Jahr-Feier der altehrwürdigen Universität eingeladen. 
Krakau, 26.11.2001