Europäische Planspiele

Das Strassburger Postenkarussell sorgte gleich zu Beginn des neuen Jahres für einige Aufregungen.
Die erste Strassburger Parlamentswoche in diesem Jahr war durch unzählige Abstimmungen über den neuen Präsidenten und den Vizepräsidenten, aber auch durch viele Diskussionen und Streitigkeiten zwischen den Delegationsleitern der einzelnen nationalen Delegationen innerhalb unserer Fraktion gekennzeichnet. Wir sind dabei als Fraktion insgesamt nicht sehr gut ausgestiegen.
Es ist eine Tatsache, dass wir seit den letzten Wahlen nicht mehr die stärkste Parlamentsfraktion sind, sondern nur mehr die zweitstärkste. Ausserdem haben wir zwei Abgeordnete an andere Fraktionen verloren – den einen auf Grund einer anhaltenden Streitigkeit innerhalb der politischen Delegation, den anderen wegen eines Konflikt mit seiner dänischen Mutterpartei. So haben wir zusätzlich an Kraft verloren. Und das heißt auch, dass es weniger zu verteilen gibt.

Taktik…

Auf der anderen Seite hat die europäische Volkspartei mit den Liberalen ein Übereinkommen geschlossen, dass nach der Kandidatin der Europäischen Volkspartei Nicole Fontaine, nun der Vorsitzende der Liberalen zum Parlamentspräsidenten gewählt werden soll. Die Liberalen haben dabei auch lautstark argumentiert, es würde jetzt ein Kandidat einer kleinen Fraktion – noch dazu aus einem kleinem Land – gewählt, was insgesamt eine Chance für die kleinen Fraktionen sei, die daher diesen Kandidaten unterstützt sollten.
Pat Cox, der letztendlich auch gewählt wurde, ist, soweit kann man das heute schon beurteilen, ein guter und anständiger Politiker, und er wird aller Voraussicht nach auch ein guter Präsident des Parlaments werden. Aber er ist sicher nicht deshalb gewählt worden, weil er der Kandidat eines kleinen Landes, nämlich Irlands, ist oder weil er der Kandidat einer kleinen Fraktion ist. Vielmehr wurde Cox deshalb gewählt, weil er der Kandidat der größten Fraktion im Europäischen Parlament ist, die ihn ja auch offiziell vorgeschlagen hat: der Europäischen Volkspartei.

… ohne Gegentaktik

Die Linke – und damit sind im Europäischen Parlament gemeinhin die Sozialdemokratie, die Linken im Sinne Kommunisten und Linke unterschiedlicher ökologischer und sonstiger Strömungen sowie die Grünen gemeint – hatte sich nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen können. Linke und Sozialdemokraten haben den Sozialdemokraten David Martin unterstützt, die Grünen haben sich dagegen zu großen Teilen für Pat Cox ausgesprochen.

Selbstdarsteller

Die Grünen, deren Vorsitzende derzeit Monica Fassoni und Daniel Cohn-Bendit sind, sind dadurch weniger berechenbare Partner für die Sozialdemokraten geworden. Es hat zwar nie eine formelle Koalition gegeben. Aber ich kenne Cohn-Bendit seit längerer Zeit. Er ist in seinen Anschauungen und seiner Taktik sehr spontan und zum Teil chaotisch. Und ich habe das Gefühl, er will beweisen, dass er kein Linksradikaler im klassischen Sinn ist, sondern ein respektabler, zum Teil auch zur Zusammenarbeit mit den Bürgerlichen bereiter Politiker.
Wie dem auch sei. Cohn-Bendit hat jedenfalls bei allen guten Eigenschaften aus meiner Sicht einen starken Hang zur Selbstdarstellung und ist bestimmt nicht jemand, der sich auf ein kontinuierliches Bündnis mit der Sozialdemokratie einlässt. Diese sind ihm zu bürokratisch und bieder, da spricht er schon lieber mit so manchem Konservativen, der vielleicht mehr Esprit hat.

Eingeschränkte Objektivität

Aber zurück zum eigentlichen Thema. Der Parlamentspräsident hat sicher einen beschränkten Handlungsspielraum, aber in der Frage der Bestimmung der Tagesordnung kann er zum Beispiel starke Einflüsse geltend machen. Zwar ist auch das eine Frage der Abstimmung, sei es in der sogenannten Konferenz der Präsidenten, also der Fraktionsvorsitzenden bzw. deren Stellvertreter, oder auch im Plenum. Im Normalfall gibt es hier eine Autonomie, die oft genutzt wird, aber man kann sie auch in die eine oder andere Richtung mit beeinflussen.
Die von der EVP gestellte Präsidentin Nicole Fontaine hat im Großen und Ganzen objektiv agiert, hat aber etwa in der nicht unwichtigen Frage der Aberkennung der Immunität Berlusconis auf Antrag des spanischen Gerichtshofs extrem zögerlich gehandelt und jedenfalls vermieden, dass dieses Ansuchen um Aufhebung der Immunität noch vor den italienischen Wahlen entschieden wurde. Und dadurch hat Berlusconi, der Abgeordneter im Europäischen Parlament war, wenngleich kaum sichtbar, jedenfalls von dieser Seite keine Schwierigkeiten bekommen hat.

Backlash

Europa wird insgesamt zunehmend konservativ. Es gibt rechtsliberale und zum Teil populistische Regierungen in Ländern wie Österreich, Italien und Dänemark, und es besteht die Gefahr, dass als nächstes Portugal ins konservative Lager abrutscht. Vor diesem Hintergrund ist ein konservativ-liberaler Präsident des Europäischen Parlamentes kein Gewinn, sondern eine weitere Stärkung der konservativen Seite in Europa. Mag sein, dass uns das bei den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament hilft. Aber derzeit geht es darum, die kommenden zwei Jahre politisch zu gestalten…
Im Verlauf dieser Woche gab es aber, wie schon erwähnt, innerhalb unserer Fraktion heftigen Streit – insbesondere zwischen der italienischen und der französischen Delegation. Es ist ganz grundsätzlich die Frage zu stellen, wie Funktionen im Parlament, so weit sie auf die Fraktionen entfallen, vergeben werden. Das trifft insbesondere auf die Vizepräsidenten, aber vor allem auch auf die Vorsitzenden der Ausschüsse zu. Derzeit passiert dies nach einem Zugriffsverfahren, nach dem zuerst die größeren Fraktionen ihre Forderungen anlegen können, dem sogenannten d` Hondt´schen Verfahren. Also einem Verfahren, dass auch zur Berechnung der Sitze in den Parlamenten nach Wahlen angewendet wird. Es ist ganz klar, dass die Europäische Volkspartei Vorrang bei diesen Zugriffen hat. Es folgen die Sozialdemokratie und schliesslich auch die kleineren Fraktionen.

Postenkarussell

Nach diesem Prinzip hat sich ergeben, dass wir den Sozialausschuss nicht mehr bekommen haben. Stattdessen stellen wir nun den Vorsitzenden des, im Prinzip zwar ebenfalls wichtigen, aber mit weniger Einfluss verbundenen Kulturausschusses. Für die Franzosen, die immerhin die viertgrößte Delegation sind, war es in der Folge inakzeptabel, dass der bisherige Vorsitzende des Sozialausschusses, der frühere französische Ministerpräsident Michel Rochard, seinen Posten verlieren sollte. Sie haben daraufhin den Posten des Vorsitzenden des Verfassungsausschusses, also des konstitutionellen Ausschusses, beansprucht. Dieser wiederum wurde bisher vom früheren italienischen Innenminister Giorgio Napoletano besetzt. Napoletano war entsetzt, plötzlich seine wichtige Position aufgeben zu müssen.
Die Konsequenz war ein heftiger Streit zwischen den italienischen und französischen Genossinnen und Genossen, der zuerst im Rahmen der Delegationsleiter und dann auch in der Fraktion selbst ausgebrochen ist. Die französische Delegationsleiterin hat schliesslich unter Tränen nachgegeben und auf ihren Anspruch verzichtet. Michel Rochard ist nunmehr zum Vorsitzenden des Kulturausschusses gewählt worden, und Giorgio Napoletano von der kleineren italienischen Delegation konnte seinen Posten als Vorsitzender des konstitutionellen Ausschusses bewahren.

Fehler im System

Auch die Positionen der anderen Delegationen wurden dadurch zum Problem, denn eigentlich wären inzwischen, da die großen Gruppierungen den Vizepräsidenten des Parlaments stellen, kleinere Delegationen, konkret die portugiesische und die griechische Delegation, an der Reihe gewesen. Aber man wollte das Paket nicht mehr neu aufschnüren, und nachdem der Streit gelöst war, wurden andere Mechanismen und Positionen für diese beiden Delegationen gefunden.
Es gibt auch innerhalb der Fraktion keine fixen Regeln, wie bestimmte Positionen verteilt werden. Aber es kommen eigentlich immer wieder zuerst die großen Delegationen zum Zug, und die mittleren und kleineren Delegationen bekommen meistens das, was übrigbleibt. Und das ist nicht besonders gerecht. Ich sehe zwar ein, dass die größeren Delegationen auch mehr Einfluss in einem Parlament haben sollen – das ist demokratisch. Aber ich meine doch, dass auch die persönliche Komponente, die Komponente der Kompetenz, unabhängig von der Zugehörigkeit der Delegation, eine größere Rolle spielen sollte.

Zum Handkuss gekommen

Eine Enttäuschung in dieser turbulenten Woche war für uns, dass bei der Bestellung der Mitglieder des Konvents, der eine neue Quasi-Verfassung ausarbeiten soll, Maria Berger „nur“ Ersatzmitglied ist. Wir haben uns ein Vollmitglied ausgerechnet. Aber die verschiedenen Gerangel bei den größeren Delegationen haben dazu geführt, dass zum Beispiel die Portugiesen befriedigt werden mussten. Und so ist für die Österreicherin Maria Berger kein Platz in der fünfköpfigen Delegation des Konvents übriggeblieben. Es geht letztendlich auch immer um den Stolz und die Ehre, gewisse Positionen zu haben. Aber es geht eben auch um den entsprechenden Einfluss, zeigen zu können, dass man eine entsprechend starke Stellung hat.
Aufgrund dieses gerangels war ich dieses Mal unterm Strich froh, Strassburg verlassen zu können. Mein nächstes Ziel war Berlin, um dort die Beratungen über den Wiederaufbau des Berliner Schlosses inhaltlich zu Ende zu führen. Die vergangenen Tage in Strassburg haben wir damit verbracht, in unzähligen Sitzungen nicht wirklich Inhaltliches zu entscheiden, und haben somit nicht die aktivste Seite des europäischen Parlamentarismus zum Ausdruck gebracht. Ich weiß, das gehört dazu. Europa besteht aus Nationalstaaten, die auch entsprechende Berücksichtigung finden müssen. Auch müssen die Größe der Nationalstaaten und damit die Größe der Bevölkerung Einfluss nehmen. Und dennoch bin ich überzeugt, dass man diesen Prozess besser und effizienter und mehr an der Qualität orientiert orientiert gestalten könnte.  
Strassburg, 17.1.2002