Europäische Weichenstellung in Lissabon

Europa muß an die amerikanischen Wirtschaftserfolge anschließen – allerdings in einer Art, in der die sozialpolitischen Elemente stärker im Vordergrund stehen als in den USA. 
Von Brüssel aus ging es diesmal weiter nach Lissabon. Wir hatten beschlossen, in Lissabon eine Fraktionstagung abzuhalten, und das natürlich mit stärkerer Beteiligung von Vertretern der portugiesischen Regierung. Inhaltlich wollten wir uns insbesondere auf die beiden Themen Grundrechtscharta und Beschäftigungspolitik konzentrieren.

Neue Wege in der Beschäftigungspolitik

Erst vor wenigen Tagen hat hier in Lissabon ein Sondergipfel zur europäischen Beschäftigungspolitik stattgefunden. Es war ein sehr erfolgreicher Gipfel, der versucht hat, nicht eine neue europäische gemeinschaftliche Beschäftigungspolitik herzustellen, aber die Abstimmung zwischen den einzelnen nationalen Beschäftigungspolitiken zu verbessern und gemeinsame Ziele zu formulieren.
Die Herstellung einer modernen Wirtschaft, unter besonderem Einsatz der modernen Technologien, insbesondere im Kommunikationsbereich, der sogenannten e-Wirtschaft, die verstärkte Investition in das Humankapital, also in die Ausbildung, Weiterbildung, Fortbildung sowie das lebenslange Lernen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, die Schaffung von speziellen Schulen und Ausbildungszentren, der Ausbau der Beschäftigung im modernen Dienstleistungsbereich, insbesondere die Erhöhung der Beschäftigungsquote für Frauen – das sind nur einige der Zielsetzungen, die der Europäische Rat für alle Mitgliedsländer beschlossen hat.
In jedem Frühjahr soll eine eigene Tagung zu Wirtschafts- und Sozialfragen abgehalten werden, die von der Europäischen Kommission vorzubereiten sein wird und wo einerseits eine Überprüfung der Erfolge der Wirtschaftspolitik nach dem Banchmarking-Prinzip stattfinden soll, aber auch im Fall des Falles neue Schwerpunkte gesetzt werden sollen.

Sozial abgesicherter Wettbewerb

Diese wirtschaftspolitische Strategie erfüllt sicher nicht all das, was sich SozialdemokratInnen unter europäischer Wirtschaftspolitik vorstellen können. Ich glaube aber, daß die Investitionen in die modernen Kommunikationsmittel, insbesondere bereits im Schul- und Ausbildungsbereich, die stärkere Bedeutung des Lernens über das ganze Leben hinweg und die Versuche, mehr Jobs zu schaffen, die Beschäftigungsquote vor allem bei Frauen und älteren Menschen zu erhöhen, ein neues Klima der Investitionsbereitschaft, der Risikofreudigkeit und der Neugründung von Unternehmen schaffen können, die es ermöglichen, daß Europa – wenngleich auch nur Schritt für Schritt – an die amerikanischen Wirtschaftserfolge anschließt. Dennoch müssen wir dies in einer Art und Weise tun, in der die sozialpolitischen Elemente stärker im Vordergrund stehen, als das in den heutigen USA der Fall ist.

Einklagbare Grundrechte für Europas BürgerInnen

Neben dem Schwerpunkt Beschäftigungspolitik gab es in Lissabon den Schwerpunkt Charta der Grundrechte. Die Charta der Grundrechte soll für die Europäische Union, für die Bürger, aber letztendlich auch für alle, die sich legal in der EU aufhalten, Grund- und Freiheitsrechte festlegen, die von der Union und allen Organisationen der Union, aber auch von den einzelnen Ländern im Rahmen der europäischen Politik nicht verletzt werden dürfen.
Dazu gab es bereits eine Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16. März 2000, den sogenannten Bericht „Duff/Voggenhuber“, der wichtige Richtlinien festgehalten hat. Aber die Debatte ist natürlich mit so einer Entschließung für das Europäische Parlament keineswegs beendet.
Von besonderer Schwierigkeit, aber auch Relevanz sind die sozialen Rechte. Die sozialen Rechte werden oft in diesen Debatten zur Seite geschoben, weil natürlich das Recht auf Wohnen und das Recht auf Arbeit mehr Zielsetzungen als konkrete und letztendlich auch bei Gericht durchsetzbare Rechte darstellen. Dennoch muß es möglich sein, zumindest einen Teil dieser Rechte in konkreter Form zu formulieren und umzusetzen. Es geht um die Gleichheit von Männern und Frauen im Bereich Arbeit und Beschäftigung, es geht um die Berufsfreiheit, es geht um das Recht der Arbeitnehmer, auch angehört zu werden, um das Vereinigungs-, aber auch das Streikrecht, es geht um das Recht auf gleiches Entgelt für gleiche Arbeit, auf Ruhezeit und Arbeitsurlaub, auf sichere und gesunde Arbeitsbedingungen etc.
Es scheint mir gerade auch aus sozialdemokratischer Sicht notwendig zu sein, nicht nur jene allgemeinen Rechte zu formulieren, sondern auch das oben zitierte Modell Europa im Grundrechtskatalog verankert zu sehen. Das kann auf zweierlei Weise geschehen: als Ziel im Rahmen einer Präambel, als Verpflichtung der europäischen Politik, aber eben auch – dort, wo die Ziele konkretisierbar sind – als Rechtsansprüche, die im Fall des Falles auch gegen widersprüchliche und widersprechende Regelungen im Rahmen der Europäischen Union geltend gemacht werden können.

Grundrechte als Baustein einer Europäischen Verfassung

Der Weg zu einer wirksamen Grundrechtscharta, die so etwas wie ein erstes Element einer europäischen Verfassung darstellen kann, ist noch weit. Und es gibt viele, die diesen Weg viel weiter und schwieriger sehen, weil sie ihn so sehen wollen – deren Widerstand muß überwunden werden. Gerade wenn manch einer gemeint hat, die 14 EU-Partner Österreichs sollten sich nicht so aufspielen, man solle lieber beobachten, was in den einzelnen Ländern geschieht, gerade dann ist es notwendig, einen Kriterienkatalog zu haben, der verbindlich ist, der auch zur Überprüfung der Aktionen der einzelnen Länder dient und in dem auch klar und eindeutig festgelegt werden kann, wo und wann ein Land gegen die gemeinsamen Grundwerte verstößt.
Leider sind aber manche Regierungen besonders abwehrend und ablehnend einer verbindlichen Grundrechtscharta gegenüber, da sie vor einer starken überregionalen, übernationalen Europäischen Union Angst haben. Aber gerade eine solche Union, die auch Rechte der einzelnen Unionsbürger garantiert, die auch einen direkten Bezug zu den Unionsbürgern haben, gilt es herzustellen – und nicht eine Union der Bürokratie in Brüssel. Wir brauchen eine Union, die die Bürger dieses Kontinents direkt ansprechen kann, eine Union, auf die sich die Bürger in ihren Aktionen und der Durchsetzung ihrer Rechte direkt beziehen können.

Europa braucht eine starke EU-Kommission

Am Weg von Brüssel nach Lissabon habe ich in deutschen Medien eine Diskussion nachgelesen, die mich besonders nachdenklich macht. So schrieb die FAZ in ihrer Headline vom 4. April: „Prodis EU-Kommission wankt. In Brüssel deutet manches auf Königsmord hin.“ Darunter stand dann folgender Satz: „Mehr und mehr übernehmen die Regierungen die europäische Initiative.“
Die Kritik an der EU-Kommission und an Romano Prodi persönlich, verbunden mit der durchaus starken Position einiger EU-Länder, z.B. auch einem starken Interesse Großbritanniens und Tony Blairs für die europäischen Debatten und Entscheidungen, haben jedenfalls zu einem Imageproblem für Romano Prodi und „seine“ EU-Kommission geführt. Ich halte das stärkere europäische Engagement vieler Regierungen, nicht zuletzt der Briten, für äußerst positiv – das hat auch der Gipfel von Lissabon gezeigt. Und ich halte die Kritik des Parlaments an der Kommission in jenen Bereichen, wo sie Fehler begeht und sich in ihrem Verhalten nicht klar von der vergangenen Kommission unterscheidet, für wichtig und richtig. Aber ich halte auch eine starke Kommission für ganz entscheidend.
Nichts wäre fataler als eine neuerliche Krise und ein Rücktritt des Präsidenten oder der Kommission. Daher müssen wir bei Wahrung der beiden Elemente eines starken Engagements europäischer Regierungen und eines starken Europäischen Parlaments darauf drängen, daß die Europäische Kommission ihre Motoren- bzw. Lokomotivenrolle bewahrt. Wie ich auch gegenüber einer österreichischen Tageszeitung bemerkt habe, finde ich an Romano Prodi seine Visionen und sein Vorwärtsdenken faszinierend, aber es fehlt ein bißchen an Managementqualität, insbesondere in seiner Umgebung, um zwischen seinen Ideen und Visionen und der guten Arbeit der meisten Kommissare einen Zusammenhang herzustellen und eine zusammenhängende kohärente europäische Politik zu verwirklichen.

Für eine starke, transparente europäische Struktur

In diesem Sinn habe ich auch in der Diskussion mit dem portugiesischen Ministerpräsidenten, Guterres persönlich gebeten, dafür Sorge zu tragen, daß Sticheleien und Animositäten aus einigen Mitgliedsländern gegen die Kommission, weil vielleicht ihre Wünsche bei bestimmten Positionen in der Kommission nicht berücksichtigt werden, hintangehalten werden, daß zur Ordnung gerufen wird, daß kein ungutes und letztendlich unglückliches Spiel der Macht gegenüber der Kommission betrieben wird.
Ich bin überzeugt, daß die positive Antwort von Guterres auch seinem festen Willen entspricht, das prekäre Gleichgewicht zwischen Kommission, Rat und Parlament nicht zu gefährden. Nicht der Krieg zwischen den einzelnen Institutionen ist das, was wir in Europa brauchen, sondern Wettbewerb um gute bzw. noch bessere Lösungen, um eine noch klarere, transparentere, vor allem noch stärkere europäische Struktur – nur so können wir die Bürger Europas von der Notwendigkeit Europas überzeugen.
Politik, wie sie derzeit oft auf nationaler Ebene „gespielt“ wird, sollten wir von der europäischen Ebene jedenfalls möglichst fernhalten. 
Lissabon, 6.4.2000