Europäische Zukunftsmusik

Europa befindet sich gerade erst in einem Prozess der Herausbildung eines stabilen Gleichgewichts zwischen nationalen und europäischen Entscheidungsprozessen.
Gestern und heute fand in Florenz – bei strahlendem Sonnenschein, der eigentlich zu einem Bummel durch diese schöne Stadt einlud – ein Seminar der europäischen Sozialisten zur geplanten Verfassung für die EU statt. Eingeladen waren die sozialdemokratischen Konventsmitglieder und darüber hinaus einige aus der Fraktion im EU Parlament, die nicht direkt im Konvent vertreten sind, sich allerdings als Verfassungsexperten oder auf Grund ihrer Koordinationsaufgaben – wie ich selbst – immer wieder mit der Gestaltung einer europäischen Verfassung beschäftigen.

Fortführung des Elysée-Vertrags

Es traf sich gut, dass – unmittelbar vor unserer Tagung – Chirac und Schröder in Erinnerung und Fortführung an das spezielle deutsch-französische Verhältnis, das exakt vor 40 Jahren am 22.01.1963 im Elysée-Vertrag festgeschrieben wurde, einen Vorschlag für wesentliche Elemente einer europäischen Verfassung veröffentlicht haben. So konnten wir auf diese Vorschläge eingehen und je nach eigener Anschauung bzw. nach Detailvorschlag unsere Unterstützung bzw. unsere Ablehnung äußern.
Wie bei jedem Kompromiss findet sich Positives und Negatives, Logisches und Widersprüchliches. Die Deutschen bekamen ein wenig Unterstützung in der Stärkung der Kommission und des EU-Parlaments, Frankreich erhielt eine Stärkung bzw. Sichtbarmachung des Rates und damit der Regierungszusammenarbeit als einer Säule der Europäischen Union. Die Schaffung der Doppelspitze der Union durch einen gestärkten Kommissionspräsidenten (gewählt durch das Europäische Parlament, mit Richtlinienkompetenz und dem Recht der Ernennung der Kommission ausgestattet) und durch einen für mehrere Jahre von den Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten ernannten Ratspräsidenten sollte die zwei Säulen – die Gemeinschaftsmethode einerseits und die Regierungsarbeit andererseits – zum Ausdruck bringen.

Europäischer Außenminister

In der Person des vorgeschlagenen „europäischen Außenministers“ sollten sogar die beiden Entscheidungsprinzipien der Union zusammenfließen. Dieser würde von den Regierungen vorgeschlagen werden, allerdings mit Zustimmung des Kommissionspräsidenten. Er wäre Mitglied der Kommission, wäre aber primär den Mitgliedsländern verantwortlich und würde auch den Vorsitz im Rat der Außenminister führen. Eine solche Person hätte ausserdem die außenpolitischen Initiativen der EU zu ergreifen bzw. dem Rat vorzuschlagen.
Zweifellos sind noch einige Details dieser „Zwitterregelung“ zu klären, vor allem die Inanspruchnahme des Beamtenstabs der EU Kommission bzw. die Zusammenlegung der Mitarbeiterstäbe aus Rat und Kommission.

Regierungszusammenarbeit oder Gemeinschaftsmethode?

Die Debatte über die Frage, inwieweit zwei Präsidenten die unterschiedlichen Entscheidungsstrukturen der EU vertreten sollen und wie der „Außenminister“ der EU gestaltet bzw. wo er verankert sein soll, sind Symbol für die grundsätzliche Diskussion, ob in der zukünftigen EU die Regierungszusammenarbeit oder die Gemeinschaftsmethode Vorrang haben sollen.
Bei der Gemeinschaftsmethode setzt die EU-Kommission Initiativen. So legt sie beispielsweise einen Gesetzesentwurf vor. Parlament und Rat (in seiner Eigenschaft als Mitgesetzgebender) beschließen diese Initiativen (Gesetze) nach entsprechenden Änderungen und in Form eines gemeinsamen Kompromisses. Bei der intergouvermentalen Zusammenarbeit setzen die Regierungen entweder einstimmig oder mit nach Größe der Länder gewichteter Mehrheit Initiativen (z.B. in der Außenpolitik, beschäftigungspolitische Aktivitäten, etc.) durch. Die EU-Kommission hat hier meist nur unterstützende Funktion und das Parlament ein Informations-, Anhörungs-und Vorschlagsrecht.
Mit dieser Frage hängt auch die Zuordnung von Kompetenzen zusammen. Wofür ist die EU als solches, also durch Regelungen mittels Gemeinschaftsmethode zuständig (Ausgestaltungen des Binnenmarkts), in wieweit sind die Regierungen in Regierungszusammenarbeit zuständig und was bleibt in der Eigenverantwortung der Mitgliedsstaaten?

Mit einer Stimme sprechen

In der Praxis verschwimmen allerdings die Dinge. Außenpolitische Initiativen sollten immer mehr von der EU, zumindest durch Zusammenwirken der Außenminister, gesetzt werden. Aber die Menschen auf unserem Kontinent verlangen, dass Europa weitergeht. Zunehmend wollen sie, dass Europa mit einer Stimme spricht und das verlangt eine stärkere Vergemeinschaftung der Außenpolitik. Die Verteidigungspolitik, die Bewaffnung der Armeen, etc. ist theoretisch ausschließlich Sache jedes Mitgliedsstaates. Aber zunehmend verabreden sich die Regierungen im Interesse einer Koordination, etwa hinsichtlich militärischer Forschung und des militärischen Beschaffungswesens, etc. Auch um Europas Militärausgaben im Verhältnis zu jenen der USA effizienter und zielgerechter zu gestalten.
Diese Unklarheiten und diese Grauzonen, die beim Übergang aus der nationalen Zuständigkeit in diesem Bereich der Regierungszusammenarbeit auf europäischer Ebene bzw. weiter in Richtung Gemeinschaftskompetenz entstehen, sind auch ein großes Problem für die parlamentarische Kontrolle. Die nationalen Parlamente verlieren an Kontrollmöglichkeiten – die Regierungen verweisen auf Europa – aber das EU-Parlament muss sich erst mühsam Kontroll- bzw. Einflussmöglichkeiten erkämpfen, zumindest solange eine Materie nicht klar vergemeinschaftet ist.

Schritt für Schritt

Europa befindet sich allerdings erst in einem Prozess der Herausbildung eines stabilen Gleichgewichts zwischen nationalen und europäischen Entscheidungsprozessen. Und es wäre falsch, durch eine europäische Verfassung einen Status quo festzuschreiben. Vor zehn Jahren hätte kaum jemand gefordert, dass Europa mit einer Stimme sprechen soll, und erst recht wäre Verteidigung kein Thema der EU gewesen.
Heute ist das anders. Auch neutrale bzw. paktunabhängige Staaten sprechen von gemeinsamer Sicherheitspolitik und können sich eine Entwicklung in Richtung gemeinsamer Verteidigungspolitik vorstellen. Einige gehen soweit, eine gemeinsame, europäische Armee zu fordern, die laut Umfragen sogar bei Österreichs Bevölkerung Anklang findet.

Ein oder zwei Präsidenten?

Bei der Debatte in Florenz sprachen sich viele Redner gegen die von Frankreich und Deutschland geforderte Doppelspitze aus. Ein von den Regierungschef bestellter Ratspräsident für mehrere Jahre anstatt der bisher jährlichen Rotation würde dem Rat ein zu starkes Gewicht auf Kosten von Kommission und Parlament geben. Tendenziell stimme ich diesen Argumenten zu, andererseits glaube ich kaum, dass Europas Regierungschefs selbst ein Interesse haben, sich von einem zu starken Ratspräsidenten leiten zu lassen. Überdies könnte dieser sie zu mehr europäischem Verhalten mahnen. Dabei kommt es sicher auch auf die Kompetenzen an, die man diesem Ratspräsidenten zuteilen würde. Für einen einzigen Präsidenten, den manche in der Debatte eingefordert haben, dürfte es hingegen noch zu früh sein. Derzeit und auf mittelfristige Sicht gibt es nun einmal zwei Entscheidungsstrukturen mit zwei unterschiedlichen Logiken in der EU.
Entscheidend scheint mir zu sein, dass der Gemeinschaftsmethode zugeordnete Aufgaben nicht geschmälert werden dürfen, sondern erweitert werden müssen und Europa vor allem in der Außenpolitik durch eine handlungsfähige Person insgesamt aussagekräftiger und handlungsfähiger wird. Auch die neue Verfassung wird nur begrenzt mehr Klarheit, Transparenz und Übersichtlichkeit bringen. Aber wenn man Flexibilität und Offenheit für weitere Verbesserungen der Europäischen Strukturen anstrebt, dann wird man dies auch in der Verfassung umsetzen müssen. Derzeit ist es noch viel zu früh, um die Dinge bereits fixieren zu können.
Florenz, 18.1.2003