Europäischer Islam

Der Grand Mufti von Sarajewo, Mustafa Ceric, plädiert für eine Institutionalisierung des Islam.
Auch der letzte Tag in Sarajewo war spannenden Gesprächen gewidmet.

Beim Grand Mufti von Sarajewo

Um neun Uhr morgens besuchte ich gemeinsam mit Sonja Kothe den Grand Imam bzw. den Grand Mufti – es werden verschiedene Begriffe verwendet – in seinem Sitz am Ufer des Flusses, der Sarajewo durchquert. Mustafa Ceric, der Mufti von Sarajewo ist eine im internationalen Islam bekannte Persönlichkeit. Er hat mich sehr beeindruckt. Seine Thesen und Ansätze, vor allem über die Herausbildung eines europäischen Islam, haben mir zugesagt und ich kann sie voll und ganz unterstützen.
Ceric meinte, dass es insbesondere darauf ankommt, eine Institutionalisierung des Islam zu schaffen. Die Institutionen könnten demnach als Gesprächspartner für öffentliche Stellen, aber auch für andere Religionen fungieren und die Verantwortung für die Integration des Islam in den europäischen Gesellschaften übernehmen.

Sekuläre Demokratie

Ein derart europäischer Islam ist vor allem deshalb wichtig, weil viele ZuwanderInnen aus völlig anderen Traditionen heraus kommen und einen sehr traditionellen Islam kennen und auch praktizieren. Es wäre zwar wichtig, dass diese Menschen in Europa eine islamische Heimat finden, aber dabei müssten sie auch die europäischen Grundwerte erkennen und anerkennen.
Mustafa Ceric bedauerte, dass es nicht genügend liberale sekuläre Kräfte gibt, die stark genug sind, um in Europa ein Konzept umzusetzen, das einerseits die Trennung von Staat und Kirche anerkennt, durchsetzt und verteidigt und andererseits den Dialog mit verschiedenen Religionen – dem Islam, der jüdischen sowie den christlichen Religionen – führt. Einzig eine solche liberale, offene und sekuläre Demokratie würde die Voraussetzung dafür schaffen, dass es einen europäischen Islam gibt, der anerkannt wird und der ZuwanderInnen aus anderen Regionen integrieren kann.

Islamische Heimat

Mustafa Ceric verwies auch auf den Koran. Dieser beinhaltet Aussagen, dass der Gut- und Strenggläubige, wenn er in ein Land kommt, das nicht islamisch ist und in dem kein islamisches Recht gesprochen wird, über zwei Chancen verfügt: Er kann erstens dem Dschihad anhängen, also den offensiven Kampf für seine Religion führen – nicht in terroristischer Form, sondern als aktiver Missionar für den Islam. Oder er muss zweitens das Land wieder verlassen.
Damit eine Wahl zwischen diesen beiden Alternativen gar nicht erst getroffen werden muss, bedarf es einer islamischen Heimat, die auf der einen Seite die Religion bietet und auf der anderen Seite von Toleranz und den europäischen Werten getragen ist.

Zauberwort „Sorry“

Mustafa Ceric machte klar, dass für ihn Toleranz ein Zeichen der Stärke ist und man daher aus seiner Sicht Toleranz ganz eindeutig in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Werte stellen sollte. Unter Hinweis auf seinen langjährigen Aufenthalt in den USA erzählte uns der Grand Mufti, dass er dort zwei Begriffe kennen gelernt habe, die für ihn äußerst wichtig seien: „Thank you“ und „Sorry“.
Hätte man in Dänemark anlässlich des Karikaturenstreits lediglich „Sorry“ gesagt, so hätte das unzählige Konflikte vermieden. Aber leider war nichts derartiges zu vernehmen.

Europäische Imame

Der europäische Islam muss vor allem auch eine spirituelle und kulturelle Umgebung für die Menschen schaffen. Islame wandern vielfach aus sehr armen Regionen zu uns und fühlen sich bei uns oft diskriminiert und zurückgesetzt. Ihr Verlangen nach spiritueller Unterstützung und Kraft ist deshalb groß. Und genau an diesem Punkt setzen viele Islamisten, Fundamentalisten und auch Terroristen an.
Besagte spirituelle Angebote im Einklang mit den europäischen Werten müssten vor allem von europäischen Lehrern und Imamen kommen. Es wäre daher ungeheuer wichtig, dass die Imame in Europa ausgebildet werden, um nicht in Versuchung zu gelangen, aus fremden Kulturen und Religionen für Europa nichtgeeignete Ansätze heranzuziehen und zu vermitteln.

Rationelle Türkei

In einem Nebensatz merkte Mustafa Ceric an, dass man sich bemühen sollte, die Türkei in die Europäische Union aufzunehmen. Das würde der Herausbildung eines europäischen Islam sehr nahe kommen, denn, so Ceric wörtlich: „Die Türkei ist die rationellste Gesellschaft, die der Islam vorzuweisen hat, und zwar aufgrund der Säkularisierung, der Trennung von Staat und Religion.“
Ich hoffe sehr, dass sich Mustafa Ceric noch stärker als bisher in die Debatte in Europa einbringen wird. Er hat mich gebeten, ihn zu unterstützen und mit dafür Sorge zu tragen, dass es tatsächlich zur Herausbildung eines europäischen Islams kommt bzw. in Zukunft stärker dafür argumentiert wird.

Die Visafrage

Sehr zufrieden verließen wir dieses Zusammentreffen und gingen zu Fuß zurück zum Hotel Holiday Inn. Dort wurde im Rahmen einer Pressekonferenz eine Studie des „Center for European Integration Studies CEIS“ vorgestellt, die sich mit der Möglichkeit der Visafreiheit für Bosnien-Herzegowina – stellvertretend für die Region – beschäftigt hat.
Ich habe schon immer darauf hingewiesen, dass die Visafrage ausschlaggebend für das Selbstbewusstsein der Region und der Menschen in dieser Region ist. Auch für die Offenheit und Liberalität der Menschen spielt sie eine entscheidende Rolle. Nur Menschen, die aus ihrer Enge herausgekommen und ihre Freiheit genießen können, werden sich bemühen, europäische Werte und ein friedliches Zusammenleben zwischen verschiedenen Religionen, Kulturen und Ethnien nicht nur zu akzeptieren, sondern auch zu fördern.

Einbürgerungen

Ich habe diese Studie und ihre zentrale Forderung nach Visafreiheit deshalb gerne unterstützt – vor allem nachdem ich gelesen habe, dass sie auch auf die nicht unberechtigten Bedenken vieler unserer MitbürgerInnen im „entwickelten“ Europa eingeht.
Nach dem Krieg gab es in Bosnien eine Periode, in der eine Reihe von unterstützenden Kämpfern, vor allem aus dem arabischen Raum, eingebürgert worden sind. Wie mir versichert wurde – und das belegt auch die Studie – werden alle Einbürgerungen überprüft. Nur wenn man davon ausgehen kann, dass es sich um keine verdächtigen Personen handelt, die fundamentalistische oder gar terroristischen Tätigleiten entwickeln könnten, werden die Einbürgerungen aufrechterhalten. Bosnien ist in dieser Frage sehr vorsichtig, nicht zuletzt aufgrund des Drucks der Amerikaner.

Keine Toleranz für Terrorismus

Vor einiger Zeit wurde eine Gruppe von sechs Algeriern festgenommen. Der Oberste Gerichtshof hatte die Enthaftung angeordnet. Als die Algerier aus dem Gefängnis befreit wurden, wurden sie allerdings von hier stationierten amerikanischen Truppen festgenommen und deportiert.
Es handelt sich dabei einerseits um einen jener Fälle, die wir im CIA-Untersuchungsausschuss des Europäischen Parlaments behandeln wollen. Und andererseits ist es ein klares Signal, dass es in Bosnien-Herzegowina keine Toleranz für terroristische Umtriebe gibt. Daher wird sich die Befürchtung, dass es durch die Visafreiheit zu einer Durchlöcherung unserer Grenzen kommt und Kriminelle oder gar Terroristen in die Europäische Union eindringen könnten, nach menschlichem Ermessen nicht bewahrheiten.

Stufenweise Visafreiheit

Ich wiederhole immer wieder mein Argument, dass diejenigen, die Böses im Schilde führen, entweder ohnehin kein Visum brauchen oder sich dieses auf krummen Wegen beschaffen. Für die unbescholtenen BürgerInnen, die noch dazu wenig verdienen, ist der Weg in die Europäische Union hingegen extrem beschwerlich, wenn nicht sogar unmöglich.
Es mag nicht angebracht sein, von vornherein eine totale Visafreiheit herzustellen, sondern dies stufenweise zu bewerkstelligen – beginnend bei Studenten, Professoren und Wirtschaftstreibenden. Wenn dies gut läuft, könnte man eine weitere Ausdehnung auf die allgemeine Bevölkerung vornehmen. Auch wenn diese Vorgangsweise eine gewisse Diskriminierung schafft, kann man damit vielleicht doch manchen Bedenken Rechnung tragen.

Blick auf die Schusslinie

Nach der Pressekonferenz gab ich noch einige Interviews, insbesondere zur Frage der Verfassung und über den Weg Bosnien-Herzegowinas in Richtung Europäische Union. Im Anschluss daran besuchte ich auf dessen Wunsch den Hauptverhandler Bosnien-Herzegowinas mit der Europäischen Union über das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen getroffen, Osman Topcagic. Er ist im Rang eines Staatssekretärs und ist dem Premierminister unterstellt. Ich kenne diesen Kollegen schon längere Zeit und wurde von ihm auch schon in Brüssel besucht. Er ist ein äußerst engagierter und aufgeklärter Vertreter Bosniens, der alles daran setzt, das Stabilisierungsabkommen mit entsprechend guter Vorbereitung möglichst bald abzuschließen.
Von seinem Büro aus sieht man genau auf jene Teile der Berge rund um Sarajewo, von denen aus die Serben die Stadt unter Beschuss genommen haben. Vor dem Hintergrund des Filmes „Grbavica“, den wir vor zwei Tagen gesehen haben, war es beeindruckend, einen Blick auf diesen Ort zu machen. Im Übrigen liegt der Punkt nicht weit von jenem Stadtteil Grbavica entfernt, in dem der Film spielt.

Katz und Maus-Spiel

Neben verschiedenen wirtschaftlichen und technischen Fragen ging ich in diesem Gespräch nochmals auf die Suche nach dem vermeintlichen Kriegsverbrecher Karadcic ein. Osman Topcagic antwortete mir, dass man seit einem Jahr nicht wisse, wo sich Karadcic aufhalte und man keinerlei Spur von ihm habe. Das lässt den Rückkehrschluss zu, dass man vor einem Jahr eine Spur hatte bzw. wusste, wo er war und ihn daher nicht ausgeliefert hat. Es mag sein, dass der Zugriff nicht möglich war, weil er sich in der Republika Srpska befand.
Insgesamt handelt es sich aber um eine Art Katz und Maus-Spiel. Während Ministerpräsident Terzic am Tag zuvor gemeint hatte, Karadcic befinde sich auf keinen Fall in Bosnien-Herzegowina, gab sein Staatssekretär Topcagic heute an, dass seit einem Jahr jede Spur von ihm fehle. Ich hoffe trotzdem, dass alles unternommen wird, um Karadcic aufzuspüren, damit die Verhandlungen und in der Folge die Unterzeichnung des Stabilitätsabkommens nicht blockiert werden. Ich hoffe außerdem, dass die meisten verantwortlichen Politiker der Republika Srpska, wie Osman Topcagic versicherte, ebenfalls Interesse an der Auslieferung von Karadcic haben.

Verfassungsänderungen

Mittags hatte ich in ein kleines, aber sehr gutes Restaurant zu einem Essen mit VertreterInnen von Nichtregierungsorganisationen eingeladen. Ich wollte mit ihnen die nicht offizielle Sichtweise der Situation in Bosnien-Herzegowina erörtern. Sie haben mit Nachdruck Verfassungsänderungen eingefordert.
Demnach soll es keine stark ethnisch orientierte Struktur in Bosnien-Herzegowina mehr geben. Stattdessen soll jede/r BürgerIn unabhängig von seiner/ihrer ethnischen Herkunft jede/n KandidatIn unabhängig von deren/dessen ethnischer Herkunft unterstützen können. Gerade die ethnische Struktur verhindert ja die volle Entfaltung der Demokratie und diskriminiert viele BürgerInnen. Das ist zugleich das eigentliche Problem des Dayton-Abkommens.

Deethnifizierung

Mir ist bewusst, dass Bosnien-Herzegowina mit seiner derzeitigen Struktur nicht Mitglied der Europäischen Union werden kann – das habe ich auch in einem Interview nach der Pressekonferenz so festgehalten. Alles, was derzeit unternommen wird, sind lediglich Zwischenschritte. Unterm Strich müsste es in Bosnien zu einer Deethnifizierung, also zum Abbau der ethnischen Struktur kommen.
Das ist nicht von heute auf morgen zu bewerkstelligen, aber das Ziel und die Richtung müssen gegeben sein. Ich verstehe, dass vor allem jüngere BewohnerInnen dieses Landes, die nicht mit diesen Strukturen in Verbindung stehen, massiv und ungeduldig darauf drängen. Aber auch im wirtschaftlichen Bereich besteht die Notwendigkeit, aus den erstarrten ethnischen Strukturen herauszukommen. Vielfach hat man das Gefühl, dass Unternehmungen nur deshalb nicht modernisiert, liberalisiert oder privatisiert werden, weil sie jeweils einer ethnischen Gruppe zugerechnet und vielleicht auch ethnische Parteien finanzieren. Es scheint fast, als würde kleine Herrschaftsimperien, ja Fürstentümer mit ethischen Strukturen aufrechterhalten werden. Das muss sich ändern.

Letzter Blick auf Grbavica

Nach diesem Treffen fuhren wir auf den Flughafen. Unser Weg führte uns nochmals an Grbavica vorbei, jenem Stadtteil des gleichnamigen Films, der uns am ersten Tag unseres Aufenthaltes in Sarajewo so beeindruckt hat. Und jenem Stadtteil, der schwer von den serbischen Angriffen – oder vielleicht sollte ich analog zum Film besser sagen von den Angriffen der Tschetniks, denn nicht jeder Serbe sollte mit dieser Aggression in Verbindung gebracht werden – getroffen worden ist.
Gerade für Serben, die mit der Aggression nicht in Verbindung gebracht werden dürfen, weil sie vielleicht auch noch zu jung dafür sind, ist es sicher nicht leicht in einer Stadt zu leben, in der sie immer wieder darauf gestoßen werden, dass Serben diese Aggression ausgeübt und unzählige Bosniaken getötet haben, etliche Frauen vergewaltigt und unendliches Unglück und Leid in diese Region gebracht haben.

Schwieriges Zusammenleben

Ich will keinesfalls jemanden beschuldigen bzw. die Schuld nur einseitig darstellen. Umgekehrt sollte man aber auch nicht versuchen die Geschichte zu relativieren und jedem ein gleiches Ausmaß an Schuld zuzuweisen. Denn auch für die vielen bosnischen Frauen, die vergewaltigt und deren Männer und Söhne umgebracht wurden, ist es ebenfalls nicht leicht, in dieser Stadt gemeinsam mit Serben zu leben.
Der Bürgerkrieg ist in dieser Stadt wohl deshalb nur schwer zu überwinden, weil der tägliche Kontakt zwischen den jeweils Betroffenen so stark ist. Manche versuchen, diese Situation mit Witz und Ironie zu übertauchen.

Bittere Ironie

So meinte Kollege Pöschl auf meine Frage, wie die MitarbeiterInnen unterschiedlicher Ethnien in seinem Team miteinander auskämen: Wenn der Serbe in einen Raum kommt, wo bereits Bosniaken sind, wird er manchmal mit dem Ruf `Hallo Tschetnik, wie geht´s dir?“ begrüßt. Seine Antwort lautet dann mit Verweis auf die muslimische Orientierung der Bosniaken: `Und wie geht´s der Al Kaida?´ Vielleicht ist das die beste Form, die Vorurteile zu überwinden.
Und doch zeigt sich auch daran, wie tief die Gräben und Wunden sind, die geheilt werden müssen. Wir müssen in Europa im eigenen Interesse dabei helfen, diese Gräben und Wunden langsam zuwachsen zu lassen.

Sarajewo, 3.3.2006