Exkurs in die Vergangenheit

Bei aller notwendigen Kritik an der fehlenden Demokratie und vielen anderen Mängeln der österreichisch-ungarischen Monarchie, in Bosnien hat sie auch manch positive und zukunftsweisende Schritte gesetzt. 
Gestern war ich zum ersten Mal in Mostar, einer Stadt, von der ich vor, während und nach dem Krieg – dem Krieg der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts – viel gehört hatte.

Berühmt wurde sie nicht zuletzt wegen ihrer steinernen Brücke aus türkischer Zeit, die hoch über der Nevrata-Schlucht die beiden Teile der Stadt verbindet. Bekannt wurde Mostar aber auch durch das friedliche Zusammenleben von Kroaten, Serben und Muslimen vor dem Krieg und durch das Auseinanderleben, ja die Feindschaft zwischen Kroaten und Muslimen während des Krieges und danach. Serben gibt es hier ohnehin kaum mehr.

Nationaler Gehorsam

Eine junge Mitarbeiterin des Hohen Beauftragten der Internationalen Gemeinschaft – derzeit ist das Wolfgang Petritsch – empfing mich am Flughafen von Mostar. Es war ein sonniger, warmer verfrühter Sommertag. Die Hitze verstärkte den Eindruck der zerstörten Häuser entlang der Demarkationslinie. Die aus türkischer Zeit stammende und im Krieg gesprengte Brücke soll wieder aufgebaut werden. Derzeit trocknen gerade die Steine nach dem letzten Hochwasser.

Meiner Begleiterin durch die Stadt ist auch heute noch die Feindschaft zwischen den Volksgruppen unverständlich. Sie ist als Kroatin mit einem Bosniaken verheiratet, ihr Kind ist – ja, was ist es eigentlich? Nun, es ist acht Jahre alt, geht in eine „kroatische“ Schule und lernte dort, dass sein Präsident Tujdman heißt. Als es die Lehrerin darauf aufmerksam machte, dass sie doch in Bosnien lebten und Tujdman der Präsident von Kroatien sei, musste die Lehrerin einlenken. Aber die Kinderklugheit war Grund genug, die Eltern des achtjährigen Bubens in die Schule vorzuladen und zur Zurückhaltung und einem engagierteren Bekenntnis zum nationalen Bewusstsein zu mahnen.

Vieles bleibt zu tun

Diesseits und jenseits des zentralen „Niemandslandes“ sind bereits viele Häuser saniert. Aber weder haben die gemeinsamen baulichen Zonen und Gebäude inklusive des von den „Österreichern“ errichtete Gymnasiums noch die gemeinsamen mentalen Strukturen vom Wiederaufbau profitiert.

Noch vieles bleibt zu tun in dieser traumhaft gelegenen Stadt links und rechts des Ufers der Nevrata. In den vielen Straßencafes der Stadt beginnen sich die Jugendlichen aus den unterschiedlichen Ethnien zu treffen. Das lässt Hoffnung aufkommen, Illusionen über die nahe Zukunft sollte man sich aber dennoch nicht machen – so ist es manchen Kroaten ein wichtiges Anliegen, ein großes Kreuz auf einem Berg vis-a-vis der muslimischen Stadthälfte zu errichten…

Engagement für den Frieden

Von Mostar holte mich der österreichische Konsul mit dem Auto ab und brachte mich nach Sarajevo. Die Fahrt, insbesondere die erste Strecke, ging durch eine herrliche Landschaft: durch die Schluchten entlang der Nevrata.
In Sarajevo traf ich abends einige junge MitarbeiterInnen von Wolfgang Petritsch, die mit ungeheurem Engagement und großem Sachverständnis an der Herstellung eines dauerhaften Friedens in Bosnien-Herzegovina arbeiten – an der Flüchtlingsrückkehr ebenso wie an wirtschaftlichen Strukturreformen und einem transparenten Medienwesen. Keine dieser Aufgaben ist leicht, aber keine ist diesen jungen Menschen schwer genug, um sie nicht anzugehen. Dabei ist die wirtschaftliche Aufgabe besonders schwierig. Wie soll in einer ohnedies rückständigen Region nach so vielen Zerstörungen während des Krieges, nach der Abwanderung oftmals der Besten, eine zukunftsträchtige Wirtschaft entstehen? Aber gerade Arbeitsplätze sind das dringendste, was der Friedensprozess jetzt braucht.
Wir müssen daher alles daran setzen, um eine klein- und mittelbetriebliche Struktur herzustellen, bevor sich die internationalen Organisationen Zug um Zug zurückziehen. Denn mit ihnen verschwinden auch viele wichtige Konsumenten. Sie haben in den letzten Jahren viele Arbeitsplätze erhalten, wenngleich sie auch zu einem hohen Importüberschuss beigetragen haben.

Multiethnischer Vielvölkerstaat

Am nächsten Tag in der Früh ging es noch zum EU-Vertreter in Bosnien, um mein Bild über die aktuelle Lage abzurunden. Im Anschluss hielt ich einige einleitende Bemerkungen zum Thema: „Das Erbe der österreichisch-ungarischen Monarchien“, das im Rahmen einer Veranstaltung in Sarajevo analysiert wurde. Dabei beschäftigte ich mich mit drei Elementen: dem Bekenntnis zum multiethnischen und multireligiösen Vielvölkerstaat, der Einführung einer für die damalige Zeit effizienten Verwaltungsstruktur und dem baulichen Erbe. Zum ersten Punkt möchte ich hier einige Anmerkungen machen.
Österreich-Ungarn war als Vielvölkerstaat gegründet worden. Die Okkupation Bosniens im Jahr 1878 und seine Annexion im Jahr 1908 verstärkten die Multikulturalität und die Multireligiösität dieses Reiches durch die Hereinnahme einer großen Anzahl von Muslimen. Nach einigen Auseinandersetzungen erhielten sie auch eine autonome religiöse Verwaltung, wurden Schulen für das islamische Recht geschaffen und auch in der Armee gab es hinsichtlich der Uniform (Fez!) und der religiösen Praxis Sonderregelungen für die islamischen Bürger.
Die muslimischen Würdenträger bekannten sich – nach Debatte – auch zum Verbleib der Muslimen in einem nicht muslimischen Staat, was nach einer langen Vorherrschaft der Türken nicht selbstverständlich war. Die Monarchie respektierte außerdem die Eigentumsrechte der muslimischen Bevölkerung, und so kam es zu einem zwar nicht konfliktfreien, aber doch mehr oder weniger toleranten Neben- und Miteinander von muslimischen, katholischen und orthodoxen Bürgern.

Unverzeihbare Fehler

Es ist kein Wunder, dass sich noch heute manche an diese Zeiten mit Sehnsucht erinnern. Aber die Nationalisten, gar nicht so sehr unter den „unterdrückten“ Völkern, sondern unter den Deutschnationalen in der Monarchie machten dem Versuch der „Mitteleuropäischen Union“ ein Ende. Es war ein unverzeihbarer Fehler der Monarchie, allen voran des Kaiserhauses, die Ermordung des Thronfolgers in Sarajevo zum Anlass für einen Krieg zu nehmen, der sich nachträglich als der Erste Weltkrieg herausstellen sollte.
Diese Kurzsichtigkeit des Herrscherhauses trug selbst zum Zusammenbruch des ersten großen europäischen Einigungsversuches bei – leider ist heute bei uns, aber nicht nur bei uns, das Bekenntnis zur Toleranz und Akzeptanz eines Europa mit vielen Völkern, Sprachen, Religionen etc. schwächer ausgeprägt als vor 100 Jahren. Damals wurden die Muslime Bosniens als integrierter Bestandteil der Bevölkerung und des Heeres anerkannt. Einige wollen eine solche Integration auch heute noch nicht akzeptieren!
Bei aller notwendigen Kritik an der fehlenden Demokratie und vielen anderen Mängeln der österreichisch-ungarischen Monarchie, hier in Bosnien hat sie auch manch positive und zukunftsweisende Schritte gesetzt. Es war eine Zeit einer relativ ausgeprägten Toleranz, die Verwaltung, aber auch der Islam wurde modernisiert, viele kulturelle Bauten, vor allem Schulen, wurden errichtet etc.

Rückkehr zu Toleranz und Akzeptanz

Leider kann Bosnien – noch – nicht an diese Tradition anschliessen. Erst langsam beginnt sich wieder Toleranz und Akzeptanz durchzusetzen, die ungleiche Teilung Bosnien-Herzegovinas in zwei Teilrepubliken und der kroatisch-bosniakischen Teilrepublik in mehrere Kantone hat eine ungemein schwache gesamtstaatliche Verwaltung zur Folge. Gibt es in manchen Ländern ein Zuviel an Identität, so gibt es in Bosnien eindeutig ein Zuwenig. So spriessen in vielen Kantonen „Universitäten“, die aber den heutigen internationalen Standards nicht entsprechen. Dafür wird die jeweils „richtige“ Sprache im Unterricht verwendet. Denn die nationale, ethnische bzw. religiöse Ausrichtung ist wichtiger als die Qualität der Ausbildung.

Wir müssen also noch viel unternehmen, wollen wir den Menschen in Bosnien helfen! Sie müssen sich aber vor allem auch selber helfen wollen. 
Sarajevo, 7.5.2000