Fast ein Musterschüler

Ungarn entwickelt sich zwar insgesamt gut, aber in den demokratiepolitischen Bereichen, nicht zuletzt in der Medienpolitik, entspricht es nicht gerade dem europäischen Standard.  
Ich befinde mich in Budapest. Heute ist ein herrlich, schöner, warmer Tag. Die Sonne scheint, und es ist schade, dass wir alle schon wieder abreisen. Wir, das ist eine Delegation der sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament, die mit unseren sozialdemokratischen Freunden, aber auch mit dem zuständigen Staatssekretär der jetzigen Regierung Ungarns, Gespräche über den Stand der Erweiterung geführt hat.

Durchwegs positive Entwicklung

Naturgemäß sind diese Gespräche von keinen besonders großen Problemen belastet, da die Entwicklung in Ungarn durchaus positiv verlauft. Was allerdings nicht heißt, dass es hier gar keine Probleme gibt. Aber die Ungarn sind, wie auch andere, nicht unbedingt erpicht darauf, gewisse Dinge jetzt schon zu erledigen, die sie erst nach dem Beitritt erledigen müssen, wie zum Beispiel öffentliche Ausschreibungen von größeren Aufträgen etc.
Die größten Probleme gibt es zweifellos im politischen Bereich. Wir können heute nicht prognostizieren, wie die nächsten Wahlen in diesem Land ausgehen. Die Koalition auf der rechten Seite, die derzeit die Regierung stellt, ist zum Teil umstritten. Sie hat kürzlich im ungarischen Parlament eine Reihe von Abstimmungen und Niederlagen erlitten. Und die Schilderungen des ehemaligen Außenministers und jetzigen Vorsitzenden der Sozialdemokraten, Laszlo Kovac, waren insgesamt eher düster hinsichtlich der Position der Regierung.

Demokratiepolitisches Defizit

Unterm Strich gibt es kaum einen möglichen zukünftigen Koalitionspartner. Es kommt zudem zu sehr problematischen, zum Teil antisemitischen Äußerungen, zu denen die Regierung und der Premierminister kaum Stellung nehmen. Ausserdem gibt es schwere Korruptionsvorwürfe, die der gegenwärtige Ministerpräsident Orban allerdings an sich abprallen lässt.
Vor diesem Hintergrund entwickelt sich das Land zwar insgesamt gut, aber in den demokratiepolitischen Bereichen, nicht zuletzt in der Medienpolitik, entspricht Ungarn nicht gerade dem europäischen Standard. Wenn wir allerdings beobachten, wie in Österreich und Italien medienpolitisch agiert wird, dann ist das sicherlich kein prägnantes Beispiel. Und so mag es sein, dass die demokratiepolitisch zweifelhafte Politik der jetzigen ungarischen Regierung, vielleicht durchaus auch in anderen Mitgliedsländern der Europäischen Union bereits dem Standard entspricht.
Budapest, 28.9.2001