Fast in der Schusslinie

Ich halte das, was sich in Mazedonien abspielt, für äußerst problematisch. Vor allem das relativ große Desinteresse gegenüber den Hintergründen und Mechanismen des albanischen Widerstandes ist für mich untragbar. 
Den gestrigen Tag verbrachte ich gemeinsam mit Jannis Sakellariou und Fritz Roll in Skopje. Ich war mir nicht ganz sicher, ob es vernünftig war, dorthin zu fahren, da die Unruhen in Mazedonien wieder zugenommen haben und Tetovo nicht weit von Skopje entfernt ist.

Im Auftrag Solanas

Aber der hohe Repräsentant für Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, hatte mich gebeten, in stärkerem Kontakt mit Branko Crvenkovski, dem Vorsitzenden der Sozialdemokraten, zu treten, um ihn zu einer positive Einigung zwischen Albanern und Slawisch-Mazedoniern zu bewegen.
So habe ich unseren Fraktionsvorsitzenden Enrique Baron darüber informiert, dass ich bereit bin, für einen Tag nach Skopje zu fahren und Jannis Sakellariou, unser Koordinator für Außenpolitik im zuständigen Ausschuss, hat dies ebenfalls getan und sich mir gleich angeschlossen. Und so kam unsere Reise auf eigentliche Intervention von Javier Solana zu Stande – wenngleich ich nicht weiß, ob Solana mit dem Ergebnis und unserer Einschätzung der Lage zufrieden ist.

Kehrtwendungen

Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich habe eine deutliche Kehrtwendung nicht nur in der EU, sondern auch vieler Repräsentanten der EU vor Ort gesehen, die dieses Land noch vor kurzer Zeit als Vorzeigemodell der ethnischen Zusammenarbeit dargestellt haben, jetzt aber die Regierung, vor allem die slawisch-mazedonischen Teile, sehr stark kritisierten. Dazu muss man aber sagen, dass gerade die Sozialdemokratie, die früher stark nationalistische Töne anklingen liess, sich jetzt am vernünftigsten und die moderatesten verhalten.
In jenem Restaurant, in das mich schon einmal der EU-Vertreter Manuel Pinto Teixeira eingeladen hatte, fand gestern ein sehr angenehmes Abendessen mit den führenden Vertretern der Sozialdemokratie statt. Die mazedonische Küche, diesmal durch herrliche Weine abgerundet, und unsere Gesprächspartner boten uns eine äusserst angenehme Atmosphäre. Und der Vorsitzende und seine beiden Stellvertreter, eine von ihnen eine junge Genossin, die ich schon seit längerem kenne, haben uns einen umfassenden Einblick in die realen Verhältnisse Mazedoniens vermittelt.

Für manche nicht wichtig genug

Das Gespräch mit dem EU-Beauftragten Leotard dagegen kam nicht zu Stande – weder am ersten noch am zweiten Tag. Auch das ist typisch für einen Teil der Beauftragten der Europäischen Union: Sie schenken den EU-Parlamentariern nicht unbedingt große Aufmerksamkeit.
Genau so war es auch bei Kouchner im Kosovo. Einige von Leotards Mitarbeitern führten zwar ein Gespräch mit uns und waren auch durchaus offen für unsere Argumente – insgesamt haben sie uns aber nicht sehr überzeugt.

In der Zwickmühle

Die wichtigsten Gespräche waren sicher jene mit dem Verteidigungsminister, der schon am Abend kurz dabei war und uns heute Morgen zu einem ausführlichen Gespräch empfangen hat, und natürlich mit Präsident Boris Trajkovski.
Dieser befindet sich in einer schwierigen Lage: Einerseits muss er sich glaubhaft gegen die Rebellen oder, wie ich nach wie vor zu sagen pflege, die Terroristen einsetzen, andererseits aber doch in einer gemäßigten Art und Weise auf sie reagieren. Je gemäßigter und zurückhaltender er das tut, desto besser ist es für das Finden einer politischen Lösung. Umso schwieriger ist es zugleich aber auch, diese moderate Haltung gegenüber den slawischen Mazedoniern zu vertreten und zu verteidigen, da diese ohnedies der Meinung sind, die Regierung ginge viel zu lax vor.
Aufgestachelt wird diese Haltung zusätzlich durch verschiedenste unverantwortliche Äußerungen von Premierminister Georgievski, der ohnedies ein extrem rechter Nationalist war, sich in der Regierung vorübergehend moderat verhalten hat und jetzt immer mehr zu seinen rechtsnationalistischen Wurzeln zurückkehrt.

Übrig bleibt der Frust

Trajkovski wirkt inzwischen wie ein gebrochener Mann. Von seiner immer etwas gutgläubigen naiven selbstbewussten Haltung ist kaum mehr etwas zu spüren. Derzeit präsent ist ein frustrierter, gekränkter Politiker, der immer mehr hin- und her gerissen wird: zwischen Versuchen, die Menschen zusammenzubringen auf der einen Seite und einem starken Widerwillen, den Forderungen der Albaner nachzugeben auf der anderen Seite.
Auch die EU ist in einer schlechten Position. Sie hat sich der albanischen Führung „angeschlossen“ – zwar nicht der politischen Führung, sondern indirekt den verschiedenen Terroristen – und hat damit in der Meinung der slawischen Mazedonier an Glaubwürdigkeit verloren, was ich verstehe und zum Teil ähnlich sehe. So kam es auch am zweiten Tag unseres Aufenthaltes zu Demonstrationen vor dem Parlament und auch vor einigen Botschaften.
Während unseres Besuches in Skopje fanden ausserdem sehr schwere Vorfällen in Tetovo statt. Nach allgemeiner Ansicht haben Terroristen Polizeistationen überfallen, bevor die Armee zurückgeschlagen hat. Viele Vertreter der albanischen Partei, die wir natürlich auch besucht haben, vermuteten dahinter Angriffe der Mazedonier.

Verfahrene Situation

Wir sind insgesamt nicht sehr optimistisch aus Skopje zurückgekehrt. Es scheint eine verfahrene Situation zu sein: Die internationale Gemeinschaft, auch die EU, hat im Kosovo versagt, hat die UCK nicht entwaffnet, hat sie zwischen dem Kosovo und den albanischen Teilen Mazedoniens hin und her pendeln und mit den Waffen wieder abziehen lassen. Es gibt hier also eigentlich keine lokalen Terroristen, die die ursprüngliche Krise verursacht haben. Vielmehr haben die UCK und ihre Helfershelfer ungehindert in Mazdonien gewirkt und Anhänger um sich geschart.

Integrationsfaktor Sprache

Ich bin nach wie vor überzeugt, dass es zu Änderungen in der Verfassung Mazedoniens kommen muss. Die Albaner müssen die Möglichkeit haben, sich in diesem Staat wiederzufinden. Sie müssen in der Polizei und im Gerichtswesen stärker vertreten sein. Auch ihre Sprache muss im größeren Ausmaß verwendet werden können.
Es besteht kein Zweifel, dass man in diesem Land einen wichtigen Integrationsfaktor braucht. Und dazu kann auch die Sprach der Mehrheit, die mazedonische Sprache gezählt werden – insbesondere angesichts der Tatsache, dass sich viele Brüder und Schwestern der Albaner außerhalb der Grenze befinden.
Es ist zugegebenermassen schwierig, ein Gleichgewicht herzustellen, wenn die große Minderheit der albanischen Mazedonier Verwandte gleich hinter der Grenze hat, die sie mit Politik, Moral, Geld und Waffen unterstützen. Die Mazedonier dagegen haben niemanden außerhalb der Grenze, sondern werden nach wie vor eher kritisch beobachtet – von Gleichgesinnten, Verbrüderten, solidarischen Bevölkerungen also keine Spur.

Kommt die Teilung?

Angesichts dieser Situation kann man nicht allen Wünschen der Albaner, die man vielleicht in einer anderen Situation anerkennen könnte, nachgeben. Aber genau das haben bis zu einem gewissen Grad Europa und die Vertreter Europas getan. Ich weiß nicht, ob man jemals wieder aus dieser fatalen Situation herauskommen wird.
Inzwischen wird schon von Teilung gesprochen. Die Teilung Mazedoniens ist im Land kaum zu bewerkstelligen, insbesondere in der Hauptstadt Skopje nicht, die ja von beiden Bevölkerungen sehr stark besiedelt ist. Teile Mazedoniens wollen natürlich die Abtrennung des Kosovos beschleunigen.

Untragbare Zustände

Ich halte das, was sich hier abspielt, jedenfalls für äußerst problematisch. Vor allem auch das relativ große Desinteresse gegenüber den Hintergründen und Mechanismen des albanischen Widerstandes ist für mich untragbar. Von Europa wird Geld gesammelt, um Waffen zu kaufen, die noch dazu von europäischen Waffenhändlern stammen. Diese Waffen werden im Kosovo, aber vor allem in Mazedonien eingesetzt – und wir müssen, um wieder Frieden zu stiften, Soldaten schicken, die Geld und vielleicht sogar Leben kosten.
Während all das passiert, schauen wir zu, wie eine kleine extremistische Gruppe, die die Albaner selbst in Geiselhaft nehmen, massiven Druck auf die politisch Verantwortlichen.

Endlich Verantwortung übernehmen

Das passive Verfolgen dieser Aktivitäten und das Akzeptieren ihrer Netzwerke im Bereich des Zigaretten-, Waffen- und Menschenschmuggels, des Menschenhandels und vor allem der Prostitution, ist eine sehr gefährliche Mischung. Sie ist gefährlich für die Stabilität am Balkan, gefährlich für das Scheitern der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik und vor allem gefährlich für die eigentlichen Interessen der Albaner, die ein Recht haben, dass ihr Leben, ihr Schicksal verbessert wird.
Dieses Recht sollte durch Gespräche mit den politischen Vertretern und nicht durch Waffengewalt durchgesetzt werden. Diesen Fehler hat Europa schon im Kosovo gemacht. Ähnlich ist es in Albanien gewesen. Und so ist es auch im heutigen Kosovo. Ich hoffe trotzdem, dass es einige gibt, die diese Zusammenhänge erkennen, vor allem in Brüssel und in den europäischen Hauptstädten, und dass es vom Desinteresse einen Übergang zum Interesse gibt. Wir müssen die Aktivitäten und die Bande, die zwischen der Finanz- und Waffenbeschaffung, einem kleinen Teil der Kosovo-Albaner und einem noch kleinerem Teil der mazedonischen Albaner, geknüpft worden sind, zerschlagen und durchtrennen.  
Skopje, 24.7.2001