Focus Türkei

Am 6. Oktober gab die EU-Kommission ihre Vorschläge zur Aufnahme von Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei ab. Ihr Vorschlag ist ein Ja zum Verhandlungsbeginn im Jahre 2005, aber unter sehr spezifischen, auf den Sonderfall Türkei abgestimmten Bedingungen.
In der vergangenen Woche stand die Türkeifrage im Mittelpunkt der Diskussionen hier in Brüssel, aber auch in den meisten Mitgliedsstaaten.

Ja zu Verhandlungen

Am 6. Oktober gab die EU-Kommission, im konkreten Präsident Prodi und Erweiterungskommissar Verheugen, ihre Vorschläge zur Aufnahme von Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei ab. Ihr Vorschlag ist ein Ja zum Verhandlungsbeginn im Jahre 2005, aber unter sehr spezifischen, auf den Sonderfall Türkei abgestimmten Bedingungen. Erstens ist auf dem Gebiet der Menschen- bzw. Minderheitenrechte noch viel zu tun. Gesetzesmäßig hat es große Fortschritte gegeben, aber in der Umsetzung klaffen noch viele Lücken, insbesondere was die Rechte der Kurden betrifft.

Wirtschaftlicher Aufholbedarf

Vor allem aber die großen wirtschaftlichen Unterschiede zwischen der Türkei einerseits und dem Durchschnitt der EU andererseits erfordern spezifische Maßnahmen in der Türkei selbst und Unterstützung seitens der EU. Dabei müssen sich allerdings alle Seiten im Klaren sein, dass dieser enge Finanzierungsspielraum innerhalb der EU angesichts der Größe der Türkei und damit des Umfanges der Probleme, den Mittelabfluss aus der EU in die Türkei in Zukunft (10-15 Jahre) einen großen Arbeitskräftebedarf in der EU voraussieht.

Die EU muss glaubwürdig bleiben

Nun, wie immer man auch Einzelprobleme analysiert und bewertet, die Beitrittsverhandlungen werden lange dauern und haben viele Hürde zu überwinden. Und da der Widerstand gegen eine Mitgliedschaft der Türkei in weiten Kreisen der europäischen Bevölkerung heute und wahrscheinlich noch in den nächsten Jahren Widerstand hervorruft, kann ein Beitritt nur dann erfolgen, wenn auch annehmbare und der Öffentlichkeit vermittelbare Bedingungen ausgehandelt werden. Daher sehe ich dem Beginn der Verhandlungen auch mit Ruhe und Gelassenheit entgegen. Die Bedingungen, die die EU-Kommission erarbeitet hat und dem EU-Parlament, aber vor allem den Regierungschefs der Union vorgelegt hat, sind wohlüberlegt und machen einen überfallsartigen Beitritt der Türkei zur EU unmöglich. Andererseits wäre eine Absage von Verhandlungen, nachdem sich die Türkei in den letzten Jahren bei den Reformen sehr angestrengt hat, unverantwortlich. Eine EU-Politik, die das kurzfristig verneint, was sie jahrelang versprochen und zugesagt hat, würde jede Glaubwürdigkeit verlieren.

Leyla Zana

Besonders bewegt hat mich ein Besuch aus der Türkei, nämlich jener von Leyla Zana. Sie war kurdische Abgeordnete und wurde vor etwa zehn Jahren ins Gefängnis gesteckt, weil sie einige kurdische Sätze im türkischen Parlament gesprochen hat. Erst vor wenigen Wochen wurde sie von der Regierung Erdogan entlassen. Ihr Appell zum friedlichen Zusammenleben von Türken, ihre Aufforderung, der Gewalt zu entsagen, war eindeutig und überzeugend.

Symbol für die Stärke der kurdischen Bevölkerung

Leyla Zana, die vor neun Jahren den Sacharov-Preis des EU-Parlaments erhielt, ihn aber erst jetzt übernehmen konnte, ist eine kleine zarte Frau. Äußerlich wirkt sie fast zerbrechlich, sobald sie allerdings redet, fühlt man ihren Mut, ihre Stärke und ihre Überzeugungskraft. Sie ist ein Symbol für die Stärke der kurdischen Bevölkerung in der Türkei, aber auch für den – wenngleich noch weit unvollendeten – Fortschritt in der Türkei. Europa hat es möglich gemacht, und die EU muss die Dynamik dieses Prozesses beschleunigen und darf sie nicht unterbrechen.

Brüssel 14.10.2004