Friedens-Etappe

Der Abzug der israelischen Besatzungstruppen sowie der Siedler aus dem Gaza-Streifen und aus einigen wichtigen Bereichen der sogenannten West-Bank, ist ein Fortschritt und muss durch- und umgesetzt werden.
Von meinem Besuch in der Vojvodina zurückgekehrt habe ich eine Nacht in Wien verbracht, den Koffer umgepackt und bin am Morgen des 1. Februar zum Flughafen Wien-Schwechat gefahren, um dort die Maschine nach Tel Aviv zu nehmen. Die Sicherheitsvorkehrungen hielten sich durchaus in Grenzen – wahrscheinlich hat mein Diplomatenpass das seine dazu beigetragen.

In West-Jerusalem

Am Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv bin ich auf die Minute zur gleichen Zeit angekommen wie der Rest der Delegation: der Vorsitzende unserer Fraktion, Martin Schulz und die Vizepräsidentin, Pasqualina Napoletano, die für Mittelmeerfragen zuständig ist sowie zwei Mitarbeiter der Fraktion. Empfangen wurden wir vom EU-Botschafter, eigentlich dem Vertreter der EU-Kommission in Tel Aviv, der uns nach Jerusalem begleitete.
In Jerusalem selbst trafen wir an diesem Abend noch die Vertreter und Vertreterinnen unserer Länder, vor allem auch die Vertreterin der Holländischen bzw. Luxemburgischen Präsidentschaft. Wir hatten ein ausführliches Gespräch mit dem Repräsentanten der EU- Kommission und ein Abendarbeitsessen mit den Vertretern der Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die ihre Eindrücke über die momentane Situation in Israel schilderten. Dazwischen gab es aber noch eine Begegnung mit Yossi Beilin, den ich schon sehr gut kenne und mehrmals in Israel, aber auch in Wien und an anderen Orten wie Brüssel getroffen habe.

Yossi Beilin, Architekt des Friedens

Yossi Beilin ist einer der Architekten des Friedensabkommens von Oslo und generell ein unermüdlicher Kämpfer für eine friedliche Regelung zwischen Israel und Palästina. Er hat immer und immer wieder Vorschläge entwickelt, wie der Frieden herbeigeführt werden kann – nicht zuletzt das sogenannte Abkommen von Genf, das er mit einem Vertreter der Palästinenser ausgehandelt hat. Diese engagierte Arbeit für den Frieden hat Beilin nicht nur Freunde gebracht. So hat das besagte Genfer Abkommen mit einem palästinensischen Vertreter, das keine rechtliche Wirkung hat, aber doch für große Furore sorgte, in Israel heftige Kritik hervorgerufen.
Beilins frühere Partei, die Labourparty von Simon Peres, hat diese Arbeit mehr oder weniger ignoriert und ihm für seinen unermüdlichen Einsatz nicht gedankt. Das bewog Yossi Beilin – und ich verstehe das durchaus -, aus der Labourparty auszutreten und eine eigene Partei zu gründen, mit der er auch zuletzt bei den letzten Parlamentswahlen kandidierte und einige Abgeordnete in das israelische Parlament – in die Knesset – brachte.

In der Zwickmühle

Yossi Beilin befindet sich zur Zeit in einer verzwickten Situation. Aus seiner Verantwortung für den Frieden heraus hat er die Regierung Sharon zuletzt gestützt, obwohl er wahrlich kein Freund der generellen Haltung, Einstellung und Politik von Ariel Sharon ist. Yossi Beilin machte auch klar, dass hinter den Abzugsplänen Sharons im Gaza-Streifen – also einem Teil des besetzten Gebietes – eine schon lange von Sharon ausgedachte Konzeption steht: die Schaffung von Bantustans, also von isolierten Gebieten für die Palästinenser und nicht die Idee eines zusammenhängenden, unabhängigen und lebensfähigen Staates Palästina.
Sharon hat diesen Plan schon vor Jahrzehnten entwickelt. Er hat die Geschichte der Entwicklung Südafrikas studiert und gemeint, dass der große Fehler der südafrikanischen Politik gewesen sei, die Bantustans, die damals für die Schwarzafrikaner geschaffen wurden, nicht mit genug Autonomie uns Selbstständigkeit ausgestattet zu haben.

Schritt in die richtige Richtung

Wie dem auch sei, und das war auch die Meinung von Yossi Beilin: Der Abzug der israelischen Besatzungstruppen, der Abzug der Siedler aus dem Gaza-Streifen und aus einigen wichtigen Bereichen der sogenannten West-Bank, ist ein Fortschritt und muss durch- und umgesetzt werden. Daher hat er die Regierung Sharon, insbesondere nach Eintritt der Labourparty in die Regierung, unterstützt bzw. jedenfalls immer wieder Misstrauensanträge, zum Teil aus Sharons eigenen Reihen, abblitzen lassen.
Eine sehr schwierige Situation wird durch das Budget entstehen, da Beilin mit der anti-sozialen Politik, die insbesondere von Premierminister Netanyahu vorgegeben wird, überhaupt nicht einverstanden ist. Aber letztendlich hat Yossi Beilin doch zum Ausdruck gebracht, dass in der jetzigen Phase der Entwicklung der Fortgang des Abzugs- und des Friedensprozesses im Vordergrund steht.

Kein endgültiger Status

Ich kann mit dieser Position Yossi Beilins sehr viel anfangen und bin, wie alle europäischen Sozialdemokraten, ja weitaus überwiegende Zahl der Europäer, absolut dafür, dass dieser relativ kleine, aber doch sehr entscheidende Schritt des Abzugs Israels aus dem Gaza-Streifen erfolgreich bewältigt wird.
Im Unterschied zu Sharon und all den rechten Nationalisten in Israel ist das für uns allerdings kein endgültiger Status, sondern eine Zwischenphase auf dem Weg zu einem selbstständigen palästinensischen Staat. Wir müssen diese Etappe – auch wenn sie von anderen nicht als Etappe gesehen wird – akzeptieren und mit dazu beitragen, dass es eine erfolgreich bewältigte Etappe wird. Ähnlich war auch die Stimmung bei unserem Abendarbeitsessen, wobei unterschiedliche Beurteilungen sowohl der Position Sharons als auch der möglichen Mitwirkung Europas an den nächsten Schritten des Friedensprozesses zum Ausdruck kamen.

Etappe auf dem Weg zum Frieden

Besonders eindrucksvoll fiel der Bericht eines Mannes aus, dessen Sohn durch die Hamas, also durch die palästinensische Terroristengruppe, umgekommen ist. Dieser meinte, man dürfe nicht akzeptieren, dass Sharon nur einen Teilschritt unternimmt und es sich um eine gefährliche Vorgehensweise handle, weil sie eben nicht wirklich den Frieden und den selbstständigen Staat Palästina vor Augen habe, sondern nur eine Teillösung, die niemals zur Zufriedenheit der Palästinenser ausfallen könne.
Es war sehr bewegend, wie besagter Mann, der durch die palästinensische Hamas-Bewegung ungeheuerliches Leid erfahren hat, sich klar für einen dauerhaften Frieden aussprach und der Sharon´schen Position mit sehr viel Skepsis gegenüber stand.

Bei der Gedenkstätte Yad Vashem

Der nächste Tag galt vor allem Treffen mit israleischen Politikern. Am Morgen besuchten wir allerdings noch kurz die äußerst eindrucksvolle Gedenkstätte Yad Vashem, wo wir in Ehrfurcht vor den unermesslich zahlreichen Opfern des Holocaust auch einen Kranz niedergelegt haben. Dies war mein zweiter Besuch an dieser Gedenkstätte, und anlässlich der Bilder über die Gräuel in den Nazi-Lagern wird man immer von einem Gefühl der Ohnmacht und der Unfassbarkeit erfasst, das so etwas passieren konnte – noch dazu vor nicht allzu langer Zeit.
Gerade zu einem Zeitpunkt, wo wir der 60-jährigen Befreiung von Auschwitz gedenken, war es nicht nur ein symbolisches Zeichen, diesen Tag mit einem Besuch in Yad Vashem zu beginnen. Es erfolgte vielmehr aus einer inneren Überzeugung heraus, dass diese ungeheure Tat, an der so viele Deutsche und Österreicher, aber auch andere beteiligt waren, niemals vergessen werden darf. Und dass es beim Gedenken nicht nur auf die Vertreter des jüdischen Volkes ankommt, sondern auch auf die Nachfahren jener, die diese Gräueltaten verursacht und begangen haben.

Shimon Peres, bewunderns- und bedauernswert

Das nächste politische Gespräch hatten wir mit Shimon Peres. Er ist einerseits eine bewundernswerte und andererseits eine bedauernswerte politische Persönlichkeit. Bewundernswert sind sein Mut und sein Einsatz, letztendlich zu einem Frieden zu kommen. Bedauernswert ist dagegen, dass er zum einen nicht rechtzeitig – als die Labourparty noch stärker war – die Kraft hatte, einen Friedensweg zu gehen und dass er zum anderen, wie er selbst immer wieder betont, in seinem ganzen Leben keine Wahlen gewonnen hat.
Shimon Peres wies in seinen Diskussionsbeiträgen mit uns auch auf die große Rolle hin, die Bruno Kreisky, Willy Brandt oder Olaf Palme im Rahmen der Sozialistischen Internationale gespielt haben. Er erwähnte allerdings nicht, dass er oft sehr böse auf Bruno Kreisky war, weil dieser sich so vehement für die Sache der Palästinenser eingesetzt hat.
Aus meiner Sicht war es jedenfalls richtig von Shimon Peres und der Labourparty, in die Regierung einzutreten – eine sicher schwierige Entscheidung, denn mit Sharon in einer Regierung zu sitzen, ist weder moralisch noch politisch einfach. Aber wo es um entscheidende Schritte für den Frieden geht, ist es zweifellos richtig, diesen Schritt zu tun, soweit man das von Außen beurteilen kann.

In der Knesset

Wir hatten Shimon Peres im King David Hotel in Jerusalem getroffen, von dort ging es weiter in die Knesset, das israelische Parlament. In der Knesset herrschte eine durchaus aufgeregte Stimmung, da an jenem Tag der deutsche Bundespräsident Köhler erwartet wurde, der am Nachmittag auch eine Rede halten sollte. Es gab großen Unmut darüber, dass Köhler diese Rede in deutscher Sprache halten würde.
In der Knesset trafen wir einen anderen stellvertretenden Premierminister, Ehud Olmert, der früher Bürgermeister von Jerusalem war, heute zu den gemäßigten Likud-Vertretern gehört und eine dementsprechend zurückhaltende, aber doch positive Einstellung zum Abzugsplan von Sharon hat. Olmert meinte allerdings, in der jetzigen Phase solle sich Europa aus dem einseitigen, nur von den Israelis geplanten Abzug zurückhalten.

Hardliner Yuval Steinitz

Wir trafen darüber hinaus eine Reihe von Politikern der Labourparty, aber auch einen weiteren Likud-Vertreter, den Vorsitzenden des außenpolitischen Ausschusses, Yuval Steinitz. Er gehört eher zu den Hardlinern und erachtete das an diesem Tag bekannt gewordene Treffen in Sharm El Sheik zwischen Ariel Sharon und Mohamed Abbas, dem Präsidenten der Palästinenser sowie Hosni Mubarak, dem ägyptischen Präsidenten und dem König von Jordanien, Abdullah II., als extrem problematisch. Insbesondere deshalb, weil Ägypten keine positive Haltung gegenüber Israel habe und es immer wieder zu anti-semitischen Äußerungen in Ägypten komme.
Wie uns berichtet wurde, hat Steinitz eine anti-ägyptische Obsession. Jedenfalls gehört er nicht zu den großen Gegnern, aber doch zu den Skeptikern der neuen Sharon´schen Politik des Abzugs vom Gaza-Streifen. Wir trafen außerdem Tommy Lapid, den Führer der Opposition einer sehr stark laizistisch orientierten Partei, die aus der Regierung Sharon ausgetreten ist, weil Sharon zu stark die religiösen Parteien unterstützt hat.

Rundes Bild

All diese Gespräche trugen dazu bei, dass wir ein sehr rundes Bild von den verschiedenen politischen Gruppierungen bekamen und auch – vielleicht das erste Mal, seit ich Israel besuche – eine sehr positive Einstellung gegenüber Europa zum Ausdruck gebracht wurde. Zumindest in dem Sinn, dass man sich von Europa Unterstützung und Hilfe beim Friedensprozess erwartet.
Es wurde klar, dass es nicht nur auf entsprechende wirtschaftliche Hilfe ankommt, sondern auch darauf, selbst in Sicherheitsfragen mitzuhelfen und vor allem Druck auszuüben, die beiden terroristischen Bewegungen Hamas und Hisbollah in verstärktem Ausmaß zurückzudrängen und so zu verhindern, dass diese beiden Organisationen den guten Willen von Palästinenserpräsident Abbas wieder unterminieren.

Dov Weisglas, Anwalt und Chefberater von Sharon

Neben einzelnen Politikern trafen wir auch eine Reihe von beamteten Mitarbeitern und Beratern des Außenministeriums, die durchaus eine harte Linie gemäß ihrem Außenminister Silvan Shalom vertraten. Die eigentlich interessanteste Begegnung war jene mit Dov Weisglas, dem Anwalt und Chefberater von Sharon. Die Sicherheitsvorkehrungen im Amtsgebäude von Premierminister Sharon waren naturgemäß äußerst streng, aber endlich hatten wir es geschafft, sie zu überwinden und drangen so ins „Allerheiligste“ vor.
Weisglas war soeben von einer Reise aus den Vereinigten Staaten zurückgekehrt, wo er mit amerikanischen Vertretern die Details der zukünftigen Schritte gegenüber den Palästinensern in Zusammenhang mit dem Abzugsplan diskutiert hatte. Entgegen seinem Image und allem, was man über Weisglas weiß, war dieser sehr wohlgestimmt und hat uns die israelische Position im Detail dargelegt.

Vertrauensvorschuss

Er hat klar gemacht, dass von israelischer Seite durchaus ein großes Vertrauen gegenüber dem jüngst gewählten palästinensischen Präsidenten besteht, dass man sich aber nicht ganz sicher ist, inwieweit er auch Rückhalt in der eigenen Bevölkerung hat und man jedenfalls hofft, dass er konsequent gegen die Terroristen vorgeht.
Weisglas berichtete, dass es Informationen darüber gibt, dass die Hamas in der eigenen Bevölkerung Schwierigkeiten bekommt, weil die Menschen kein Interesse daran haben, dass es nach jedem Zwischenfall bzw. nach jedem Anschlag der Hamas zu Repressionsmaßnahmen der Israelis kommt.

Ernste Absichten?

Wir gewannen nach Weisglas´ Schilderungen jedenfalls den Eindruck, dass es Sharon – was auch Yossi Beilin gemeint hat – durchaus Ernst ist. Nicht, weil Sharon ein großer Friedensengel ist, sondern weil er einen Erfolg braucht und tatsächlich sein Konzept des teilweisen Rückzugs umsetzen möchte. Einen Rückzug, der keine permanente Kriegssituation schafft, aber doch den Israelis die Kontrolle der Sicherheitssituation überlässt. Diese Quasi-Autonomie der Palästinenser, ohne ihnen einen lebensfähigen eigenständigen Staat zu geben, ist das eigentliche Ansinnen Sharons. Mit dieser Lösung möchte er in die Geschichte eingehen. Wenn permanent Gewalt im Spiel ist, wird Sharon nicht fähig sein, diese Lösung herbeizuführen. Er muss dem neuen Palästinenserführer etwas anbieten. Zu Recht oder zu Unrecht hat Sharon gemeint, mit Arafat sei eine solche Lösung nicht möglich gewesen. Jetzt, da Arafat nicht mehr am Leben ist, noch dazu, wo dessen Tod nicht durch die Israelis provoziert worden ist, scheint Sharon die Gelegenheit gegeben zu sein, seinen Plan in die Tat umzusetzen.
Der letzte Termin in West-Jerusalem war ein Treffen mit dem israelischen Innenminister, der auch einer der jüngeren führenden Köpfe der Labour-Party ist und als möglicher Nachfolger des Parteivorsitzenden Simon Peres gehandelt wird. Mit ihm diskutierten wir die Sicherheitslage im Lande, aber auch Möglichkeiten verstärkter Kontakte zwischen der Fraktion im Europäischen Parlament und der israelischen Labourparty.

In Ost-Jerusalem

Damit war unser umfangreiches und sehr dichtes Gesprächsprogramm in Israel abgeschlossen. Nun ging es in den protokollarisch völlig getrennten zweiten Teil unserer Reise, nach Palästina. Wir blieben zwar vorerst in Jerusalem, wechselten aber von Westen der Stadt und dem King David Hotel nach Ost-Jerusalem ins sogenannte American Colony. Beide Hotels kenne ich gut, sie sind sehr unterschiedlich. Das American Colony hat einen deutlich mediterranen Einschlag – hier ist man wirklich im Nahen Osten gelandet.
Am Abend hatten wir ein ausführliches Gespräch mit den Vertretern der palästinensischen Nichtregierungsorganisationen und den diplomatischen Vertretern in Palästina, die von den diplomatischen Vertretern in Israel getrennt sind. Wie so oft haben die palästinensischen Vertreter nicht nur Israels Politik kritisiert – das verstehe ich -, sondern auch ihre lange Liste von Wünschen an Europa unterbreitet.

Einzige Chance

Ich bin ein vehementer Vertreter der palästinensischen Interessen, denn es geht um die Rechte der Schwächeren, um die Überlebensfähigkeit eines Volkes. Trotzdem habe ich ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass es für Europa und für Palästina nur eine Chance gibt: den Abzug aus dem Gaza-Streifen und aus einigen Bereichen der Westbank voll und ganz zu unterstützen. Ich habe deutlich gemacht, dass wir in Europa diese Chance mit dem neuen Präsidenten Abu-Masen oder Mahmud Abbas voll nützen und unterstützen werden und dass wir keinerlei Verständnis für terroristische Aktivitäten haben – noch dazu für jene Aktivitäten, die zivile Israelis, Kinder, Jugendliche, alte Menschen in die Luft jagen.
Es gibt jetzt nur die einzige Möglichkeit, dass alle Palästinenser gemeinsam die nächsten Schritte vollziehen und vor allem im Gaza Bereich eine neue, wirtschaftlich orientierte Verwaltung aufbauen, die die mit dem alten System verbunden gewesene Korruption über den Haufen wirft.

Klare Positionierung

Die derzeitigen Pläne Sharons können kein endgültiges Ziel sein – darüber sind wir uns mit den Palästinensern einig. Nach einer klaren Umsetzung des Abzugs der Truppen der israelischen Besatzung und der Siedler aus jenen Bereichen, wo Sharon bereit ist, das zu tun, müssen wir – die Europäer, hoffentlich mit der Unterstützung der Amerikaner und zweifellos mit einer klugen nichtterroristischen Widerstandsbewegung der Palästinenser – dafür sorgen, dass es wirklich zu einem lebensfähigen palästinensischen Staat kommen kann.
Ich glaube, dass meine klaren Aussagen doch gewissen Eindruck gemacht haben – jedenfalls sah ich das an den Reaktionen unserer palästinensischen Freunde und der diplomatischen Vertreter. Es wäre aus meiner Sicht falsch, in dieser Frage eine ambivalente Haltung einzunehmen. Wir müssen uns sowohl gegenüber Israel als auch gegenüber den Palästinensern klar positionieren.

In Palästina

Am nächsten Tag ging es weiter nach Palästina, wo wir unsere Gespräche mit den Vertretern der palästinensischen Regierung bzw. des palästinensischen Parlaments, also des palästinensischen Legislativrates, aufnahmen. Das erste Gespräch hatten wir mit Mustafa Barghouti. Dr. Barghouti war bei den jüngsten Präsidentenwahlen ein Gegenkandidat zu Abu-Masen. Er ist eine sehr sympathische Persönlichkeit und war ein heftiger Kritiker des Systems Arafat und des undemokratischen, zum Teil durch Korruption besetzten, Systems. Was allerdings seine konkreten Forderungen betrifft und seine Kritik gegenüber der Bereitschaft Abu-Masens, mit Ariel Sharon und den Israelis insgesamt ein Übereinkommen, insbesondere hinsichtlich der Sicherheitsmaßnahmen zu treffen, ist Barghouti völlig unrealistisch.
Und das war und ist zum Teil leider noch immer das Problem: Mustafa Barghouti kämpft einerseits für eine klare, transparente palästinensische Verwaltung, ist aber andererseits nicht bereit, Kompromisse, zu denen die Israelis momentan bereit sind, zu schließen. Mehr ist aber momentan einfach nicht möglich. Und immerhin geht es auch um die Schonung von Leben und die stufenweise Schaffung von akzeptablen Arbeits- und Lebensbedingungen in Palästina.

Am Grab von Arafat

Nach dem Treffen mit Mustafa Barghouti ging es zum Grab von Präsident Arafat, an dem wir ebenfalls einen Kranz niederlegten. Es mag etwas zweifelhaft erscheinen, eine Kranzniederlegung sowohl in Yad Vashem als auch an Arafats Grab vorzunehmen. Arafat ist zweifellos eine sehr zwiespältige Persönlichkeit gewesen. Einerseits ist er der revolutionäre Führer, der die Fahne der Palästinenser hoch gehalten hat und der der Erste war, der den Palästinensern auf internationaler Bühne eine Stimme verliehen hat und der versuchte, auf das Gleichgewicht zwischen den radikalen und den gemäßigten Führern zu halten.
Aber auf der anderen Seite war Arafat zweifellos ein Mann, den persönliche Macht interessierte, der dementsprechend auch die ihm zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel eingesetzt hat und der, so schwierig es für ihn auch gewesen wäre, persönlich nicht den Mut gefunden hat, die Friedensangebote anzunehmen. Allerdings waren die Friedensangebote keineswegs berauschend und schwierig anzunehmen. Der größte Fehler war aus meiner Sicht jedoch, die bewaffnete Antifada zugelassen zu haben und nicht klar genug gegen den Terrorismus vorzugehen – und zwar nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten.

Politisches und moralisches Gebot

Unsere Kranzniederlegung bedeutete nicht unbedingt eine Verbeugung vor der Persönlichkeit Arafats. Es war vielmehr eine Verbeugung vor dem Kampf und dem Recht der Palästinenser, für den eigenen Staat zu kämpfen.
Allerdings ist es ein moralisches und politisches Gebot, diesen Kampf nicht mit terroristischen Aktivitäten zu verbinden. Andernfalls wird einerseits die Unterstützung in Europa völlig verloren gehen und andererseits haben zu viele Gesellschaften gezeigt, dass dort, wo die Freiheit mit terroristischen Mitteln erkämpft wird, die Gewalt auch nach der formalen Befreiung und Entkolonialisierung weiterhin ihr Unwesen treibt. Das negativste Beispiel dafür ist Algerien.

Im palästinensischen Legislativrat

Nach der Kranzniederlegung ging es zu Gesprächen ins palästinensische Parlament, also dem palästinensischen Legislativrat. Dieser arbeitet auf Grund der Bewegungsbeschränkungen mittels Video-Konferenz zwischen Ramallah, wo wir uns befanden und den Abgeordneten von Gaza in Gaza-City.
Es ist interessant zu sehen, wie man trotz der ungeheuren Schwierigkeiten und Behinderungen, eine gemeinsame politische Struktur zu schaffen und ein gemeinsames Parlament mit entsprechenden Sitzungen zu haben, dennoch versucht, die Klammer zwischen der Westbank und dem Gaza aufrecht zu erhalten. Danach besuchten wir zwei führende Politiker: Abu Ala, auch Ahmed Qurieh, den Premierminister von Palästina und Außenminister Nabil Shaath.

Premierminister Abu Ala

Abu Ala ist Abu-Masen als Premierminister gefolgt, als dieser zurückgetreten war, weil Arafat ihm nicht genügend Kompetenzen, insbesondere im Sicherheitssektor gegeben hat. Abu Ala hat bei einem Besuch im außenpolitischen Ausschuss des Europäischen Parlaments keinen großen Eindruck auf mich gemacht. Allerdings erinnere ich mich auch eines kurzen, durchaus positiven Auftrittes im Plenum des Europäischen Parlaments, gemeinsam mit dem ehemaligen Präsidenten der Knesset, Avraham Burg, wo er für den Frieden plädiert hat.
Abu Ala ist zweifellos kein Mann der großen Visionen, der Transparenz und des Kampfes gegen die Korruption. Trotzdem hat ihn, zumindest zur Zeit, Präsident Abu-Masen als Premierminister behalten und mit einem starken, klaren Abu-Masen könnte auch Abu Ala seinen Beitrag zur Friedenspolitik leisten.

Außenminister Nabil Shaath

Nabil Shaath ist ein alter Mitkämpfer von Arafat, auch bekannt für seine durchaus gut ausgestatteten Villen in Ramallah und Gaza. Es handelt sich auch bei ihm um einen Vertreter der alten Garde, allerdings mit sehr starken internationalen Kontakten.
Shaath ist ein sehr kluger Politiker, der, wenn er auf den richtigen Kurs gesetzt ist und entsprechende Richtlinie vorgegeben bekommt, doch mithelfen wird können, den Friedensprozess herbeizuführen. Er wird seit Jahren auf internationalen Konferenzen herumgereicht und gilt als eindeutiger Verfechter einer friedlichen Lösung und einer Kompromissbereitschaft auf Seiten der Palästinenser.

Der Wahlkampfmanager von Abu-Masen

Unser letzter Besuch galt einem Mitarbeiter von Abu-Masen, seinem ehemaligen Wahlkampfmanager. Er berichtete, dass Abu-Masen bei der Wahl in all jenen Regionen und Orten schlecht abgeschnitten hat, wo es korrupte lokale Vertreter der El Fatah-Bewegung gegeben hat , wo also die Funktionäre, die Abu-Masen unterstützt haben, selbst in ihrem eigenen Wirkungsbereich von der Bevölkerung nicht positiv aufgenommen worden sind. Und wenn es jetzt um die Liste für die Parlamentswahlen gehen wird, die am 12. Juli stattfinden sollen, dann muss genau darauf geschaut werden, dass solche Vertreter einfach nicht mehr kandidieren.
In einem Nebensatz meinte er, daher sei auch nicht klar, ob Nabil Shaath weiterhin in seiner jetzigen Position bleiben wird. Jedenfalls vereinbarten wir auch mit ihm, dass er alles unternehmen sollte, damit Abu-Masen möglichst bald ins Europäische Parlament kommt, um mit ihm persönlich unsere Möglichkeiten der Mithilfe bei der Lösung der palästinensischen Probleme besprechen zu können.

Positives Resümee

Unser Besuch in Israel und Palästina war insgesamt in vielen Aspekten positiver ausgefallen als manche frühere Besuche. Bei diesem Besuch sahen wir nicht das ungeheure Leid, das die Palästinenser durch die israelische Besetzung erleben. Wir sahen die Mauer nicht, die quer durch Gebiete der Palästinenser gezogen wird. Wir sahen nur am Rande die Siedlungen, die Israel gebaut hat, um Ost-Jerusalem gewissermaßen einzukreisen und von den übrigen palästinensischen Gebieten zu trennen.
Es war also ein Eindruck, der gewisse Realitäten ausgespart hat – die Opfer terroristischer Anschläge auf den Straßen Jerusalems oder Tel-Avivs ebenso wie die Penetrationsmaßnahmen der Israelis bei der Zerstörung von Häusern und von der Tötung von Menschen, die auch nur sehr entfernt mit den terroristischen Anschlägen in Verbindung gebracht werden konnten.

Kein Katastrophentourismus

Aber uns ging es nicht um einen „Katastrophentourismus“. Vielmehr wollten wir einen Eindruck darüber bekommen, wie die gegenwärtige Stimmung in Israel und Palästina ist und ob eine begründete Hoffnung besteht, dass es zu Schritten in Richtung einer vernünftigen Lösung des Konfliktes kommt. Wir waren hier, um unsere Hilfe anzubieten, die wir gerade auch vom Europäischen Parlament aus leisten können – indem wir beispielsweise finanzielle Mittel genehmigen, die in Palästina zum Einsatz kommen – sei es auf wirtschaftlicher Ebene oder beim Aufbau der Sicherheitskräfte. Wir können aber auch auf die öffentliche Meinung und die Politik in Europa Einfluss üben, indem wir davor warnen, sich von dem schwierigen Friedensprozess abzuwenden, sondern ihn im Gegenteil voll und ganz zu unterstützen.
Und wir waren hier, um neue Kontakte zu schließen: mit Vertretern jener Parteien, die sozialdemokratisches Gedankengut in ihren Programmen haben und bei denen vielleicht auf Grund großer Meinungsverschiedenheiten über zukünftigen Friedensprozess diese Kontakte abgebrochen wurden.

Volle Unterstützung

Und so verlassen wir dieses Land mit der klaren Absicht, dass der Friedensprozess im Nahen Osten ein Prozess ist, den wir voll unterstützen, dass wir unsere Kontakte erneuern und verstärken müssen und dass wir bei der Budgetgestaltung in den nächsten Jahren daran denken müssen, dass ohne unsere Hilfe – und zwar mit genauester Kontrolle – der Aufbau eines, und sei es noch so rudimentären, palästinensischen Staates und einer palästinensischen Wirtschaft möglich ist.
Aus diesem Grund ist unser Engagement eines, das wir nicht nur aus Menschlichkeit haben müssen, sondern das die Vernunft uns gebietet. Wir wollen verhindern, dass in unserem Nahbereich ein Konfliktherd immer wieder aufrecht erhalten wird, der dem Terrorismus kontinuierlich neue Nahrung gibt. Ein Terrorismus, vor dem sich auch Europa nicht sicher fühlen kann.

Nicht ohne Amerika

Soweit Amerika bereit ist, ebenfalls diesen Weg zu gehen, müssen wir auch bereit sein, mit einem Präsidenten Bush und einer Condolezza Rice, die in der Vergangenheit viele unsere Vorstellungen und Wünsche nicht erfüllt hatte, zusammenzuarbeiten.
Die Frage Palästina ist so brennend und die Chance, jetzt zu einer Lösung zu kommen, ist so groß, dass wir manche Differenzen hintanhalten und mit Amerika an einer Lösung arbeiten müssen – denn ohne Amerika geht es nicht, und wahrscheinlich auch ohne Europa nicht. Und diese Chancen müssen wir nützen.

Tel Aviv, 3.2.2005