Frischer Wind in Bratislava

Eine zweite Chance für die Slowakei. Die im Herbst 1998 neu angetretene slowakische Regierung Dzurinda will bereits dieses Jahr in die erste Erweiterungsrunde der EU aufgenommen werden.
Es war eine schöne Fahrt heute früh – mit dem Zug vom Wiener Südbahnhof nach Bratislava. Durch eine frische Schneelandschaft in der Lobau und im Marchfeld fuhren die beiden Personenwaggons mit einigen Passagieren und relativ vielen Zollbeamten aus Österreich und der Slowakei.
Auch heute scheint Preßburg noch immer weit weg von Wien zu sein, und die relativ langsame Fahrt in die slowakische Hauptstadt unterstreicht dieses Gefühl noch.

Am Bahnhof von Bratislava empfing mich die österreichische Botschafterin Gabi Matzner, die mich wie üblich äußerst gut informiert und mit kritischen Kommentaren über die aktuelle Situation „gebrieft“ hat.
Die Slowakei hat eine neue Regierung. Dabei hat es die neue Mehrheit nicht leicht nach den vielen Jahren mit Meciar. Und damit stellt sich auch gleich die eigentliche Grundsatzfrage: Wie soll mit diesem Erbe umgegangen werden? Und wer soll für mögliche Rechtsbrüche zur Verantwortung gezogen werden?

Derzeit steht die Aufhebung der Immunität des ehemaligen Innenministers und des früheren Geheimdienstchefs Lexa zur Diskussion. Beide sind jetzt Abgeordnete der Meciar Partei HZDS. Sicher muß dem Recht Genüge getan werden und niemand, gerade nicht die Politiker, kann sich über dem Gesetz stehend und damit vor Verfolgung sicher fühlen. Aber es stellt sich hier in der Slowakei sowie in anderen Ländern, beispielsweise in Albanien, die Frage, wie weit man nach einem Regierungswechsel die politische Agenda vom Vorgängerregime bestimmen läßt.

Im Gespräch mit einigen Politikern der neuen Mehrheit, insbesondere mit dem Parlamentspräsidenten Josef Migas, habe ich deutlich zum Ausdruck gebracht, daß die Hauptorientierung in die Zukunft gehen muß. Die „Abrechnung“ mit der Vergangenheit darf die Zukunftsorientierung nicht in Mitleidenschaft bringen.

Die Gespräche mit den sozialdemokratischen Partnern haben sich vor allem auf die neue „soziale Frage“ konzentriert. Meciar hat es verstanden, durch Jahre hindurch die Preise niedrig und die Beschäftigung hoch zu halten. Vieles von dem war politisch motiviert und mit Privatisierung zu Gunsten von Freunden verbunden, die dann auch politisch willfährig waren – das war ja der Zweck dieser Art der Privatisierung.
Aber nun steigen mit einer „unpolitischen“ Wirtschaftspolitik die Preise, und mit den notwendigen Rationalisierungen und der Hereinnahme von ausländischen Investoren steigt die Arbeitslosigkeit. In dieser Situation ist es besonders wichtig, die Reformstrategie mit Sozialprogrammen zu verbinden.

Sowohl die Bauarbeiter als auch die Metallarbeiter haben erst vor kurzem vor dem Regierungssitz demonstriert. Natürlich werden auch in der Slowakei die sozialen Probleme und Sorgen von den „linken“ und rechten Rändern ausgenützt. So gibt es auch Bestrebungen einiger „jüngeren“ Mitglieder aus der HZDS, durchaus auch mit einigen Ex-Kommunisten eine populistische Bewegung zu gründen. Aber weder die Ex-Kommunisten noch die Meciar-Anhänger haben den Mut zu Reformen und zu schrittweiser Rationalisierung in der Wirtschaft gefunden.
Der Slowakei fehlt Geld, wem nicht? So gibt es Überlegungen, dem Budget zusätzliches Geld zuzuführen. Dabei steht die Regierung zwischen Scylla und Charybdis (?? Anm. Hannes??). Soll sie die Mehrwertsteuer und dadurch die Inflation aufheben und damit bei stagnierenden oder gar sinkenden Einkommen die soziale Lage der Bevölkerung verschlechtern? Andere wollen eine Importabgabe einheben, auch um die erhöhten Importe einzuschränken. Diese Maßnahme mag durchaus sozialer wirken. Aber die internationale Gemeinschaft – von den Investoren bis zur EU – würde das als unfreundlichen Akt empfinden. Damit wäre die Aufnahme der Slowakei in die erste Verhandlungsrunde zum Beitritt in die EU außerdem extrem gefährdet.
Was immer die konkreten Schritte sein werden – vielleicht eine sozial gestaffelte Mehrwertsteuererhöhung – die Regierung muß sich im Klaren sein, daß sie einen schwierige Balanceakt zwischen internationaler Rücksicht und sozialer Kompetenz im Inneren herstellen muß. Soziale Spannungen und Spaltungen sind auch für den Rest Europas, insbesondere für die Nachbarn, keine attraktiven Entwicklungen. Die EU und der Internationale Währungsfonds müßten diesen Aspekt bei ihren Ratschlägen und Empfehlungen berücksichtigen. Einseitige finanzielle „Stabilität“ kann über soziale Probleme erst recht die Attraktivität für Investoren und die EU schmälern.

Am Nachmittag besuchte unsere Delegation – Pauline Green, die sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende, Herbert Bösch, Vorsitzender des gemischten parlamentarischen Ausschuß mit der Slowakei, Ian Marinus Wiersma, Slowakei-Berichterstatter des Europäischen Parlaments und ich selbst – Premierminister Dzurinda. Er ist äußerst sympathisch, ruhig und überlegt. Für manche ist er vielleicht zu wenig der starke Mann. Aber Meciar war stark und trotzdem kein Glück für die Slowakei.
Auffallend war auch Dzurindas ruhige und ausgeglichene Antwort auf meine Frage nach der Zukunft der Atomkraft in der Slowakei. Nicht, daß er klare Aussagen über das Auslaufen der Atomkraft gemacht hätte. Er verwies auf die allzu starken Importe, die nicht noch durch zusätzliche Energieimporte gesteigert werden sollten. Derzeit besteht eine Arbeitsgruppe die vor allem die Zukunft von Bohunice untersucht. Gegen Ende des Jahres wird es dazu klarere Aussagen geben. Ich glaube noch immer, daß viele in der Slowakei den Druck auf die Schließung von Bohunice seitens der EU nicht genug ernst nehmen. Die Ausstiegsszenarien, die angeblich diskutiert werden, sind von allzu langen Ausstiegsfristen gekennzeichnet.
Ministerpräsident Dzurinda allerdings hat mir noch einmal beim Verabschieden klar und deutlich vermittelt, daß er die Sorgen und die Besorgnis in Österreich sehr ernst nimmt und an einen offenen, transparenten Dialog ein großes Interesse hat.

Ich fragte Dzurinda auch nach der Situation der ungarischen Minderheiten und der Haltung der ungarischen Regierung, wissend, daß er erst vor kurzem Premierminister Orban getroffen hatte. Djurinda schilderte die getroffenen und beabsichtigten Maßnahmen und war angetan von der konstruktiven Haltung der ungarischen Regierung. Aber er ließ auch keinen Zweifel daran, daß auch die ungarische Minderheit auf nationalistische Strömungen auf slowakischer Seite Rücksicht nehmen müßte.
Deutlich wurde diese Position auch in anderen Gesprächen. Wenn die „Ungarn“ zuviel und das sofort verlangen, mag das die Gegner der stärkeren Berücksichtigung der Minderheitenrechte stärken und nicht schwächen.

Eine europaorientierte, weltoffene und reformbereite Regierung hat es heute nicht leicht in der Slowakei – so wie in keinem Land „Osteuropas“. Aber als wir das frischverschneite Bratislava Richtung Wien verließen, nahmen wir einen guten Eindruck von der neuen Mehrheit im Slowakischen Parlament mit.
Was sicher gebraucht wird, ist mehr Rat, mehr Unterstützung und vor allem mehr Verständnis für den schwierigen und nicht zu überstürzenden Reformprozeß. Soziale Probleme sind dabei nicht zu vermeiden, aber größere soziale Verwerfungen sind weder im Interesse der Slowakei noch seiner Nachbarn.

Auf dem Weg von der Slowakei nach Wien, der auch durch meinen Geburtsort Bad Deutsch Altenburg führte, dachte ich über die Veränderungen in der Slowakei nach.
Meinen ersten „politischen“ Besuch in der Slowakei absolvierte ich Anfang Dezember 1989. Wenige Tage nach Erlangen der Freiheit hatte der „Kurier“ zu einer Diskussionsveranstaltung in einem Theater in Bratislava eingeladen. Es herrschte dort eine hoffnungsvolle, ja begeisterte und begeisternde Stimmung.
Die Mühen des Alltags, verstärkt durch die Mühen mit und durch Meciar haben die ursprünglichen Hoffnungen und Visionen gedämpft. Das Klima hat sich nach den letzten Wahlen glücklicherweise wieder geändert. Die neuen „Machthaber“ haben keine Illusionen, aber sie strahlen wieder Mut und Zuversicht, gepaart mit Bescheidenheit und Offenheit, aus.

Das sind jedenfalls gute Voraussetzungen für eine langsame, aber auch kontinuierliche Angleichung an das europäische Wohlstandsniveau – hoffentlich mit Bewahrung regionaler und lokaler Identität.

Bratislava, 16. Februar 1999