Gastkommentar von Wolfgang Hassler und Helmut Lang

Ein Blick auf das Europäische Parlament aus politologischer Perspektive.
Wolfgang Hassler und Helmut Lang haben zwischen Anfang September 1998 und Ende Februar 1999 jeweils drei Monate als Stagiaire im Büro von Hannes Swoboda verbracht.

„Bon jour, Europe!“

Montag morgen. Brüssel erwacht. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, daß es regnet. Durch die Rue Wiertz jagen Taxis, vor dem Parlamentseingang herrscht hektische Betriebsamkeit, in der Garage verschwinden laufend Autos mit Kennzeichen aus allen fünfzehn EU-Staaten. Zugleich eilen Frauen und Männer mit Koffern, Chauffeure und Sicherheitsbeamte hin und her. Eine neue Woche im Brüsseler Europaparlament beginnt – mit Ausschuß- oder Fraktionssitzungen, vielleicht findet auch eine zweitägige Plenarsitzung statt, ein sogenanntes Miniplenum. Durch das Gewühl im Morgengrauen der belgischen Metropole bahnen sich meist auch ganz unauffällig etwas jüngere Europäer ihren Weg. Sie sind Stagiaire in einem der 626 Abgeordnetenbüros im Europäischen Parlament (EP).

Unser Ziel – nachdem man brav den Parlamentsausweis vorgezeigt und mit dem Schirm den folgenlosen Alarm beim Kontrollpunkt in der Eingangshalle ausgelöst hat – war jeden Morgen das selbe: 15 G 340 – das Büro von Hannes Swoboda im, natürlich, linken Flügel (vom Place Luxembourg aus gesehen) des Parlamentsgebäudes. Geräumig sind die beiden Zimmer wirklich nicht. Mit etwa 40 Quadratmeter müssen der Pressesprecher der SP-Delegation, die Assistentin und Hannes Swoboda selbst das Auslangen finden. Und irgendwo findet der Stagiaire auch noch einen Platz.
Aber das ist völlig nebensächlich, denn Flexibilität ist schließlich eine Schlüsselqualifikation im EU-Europa, die durch beengte räumliche Verhältnisse nur noch gesteigert wird. Die Tätigkeit im Europäischen Parlament ist abwechslungsreich und doch Routine: Sitzungen, Pressekonferenzen, aktuelle Krisen, Gerüchte, neue Dokumente, brisante Themen, Empfänge, Ausstellungen. Der Rest im Europäischen Parlament ist (Büro-)Alltag und meist harte Arbeit – für alle Beteiligten.

Aus der Ferne betrachtet ist das Europäische Parlament für viele Beobachter ein Teil des EU-Systems mit sieben Siegeln, dessen Kompetenzen nur wirklichen Insidern bekannt sind. Selbst Personen, die sich intensiv mit EU-Angelegenheiten beschäftigen, können bestenfalls eine Handvoll der 21 österreichischen EU-Abgeordneten beim Namen nennen. Aus der Nähe betrachtet ist das EP hingegen eine faszinierende, lebendige und vielfältige Institution, die ihren engagierten Mitgliedern – darunter zweifellos Hannes Swoboda – ein enormes Arbeitspensum und einen anstrengenden Arbeitsrhythmus auferlegt.

Die Faszination ergibt sich aus dem Zusammenwirken vieler verschiedener Nationen und Kulturen auf engem Raum, dem komplexen Institutionengefüge, dem lebhaften Lobbyismus und nicht zuletzt der Arbeitsweise, die das aus dem amerikanischen Kongreß bekannte System der Berichterstatter verwendet. Dazu kommt ein relativ großer Gestaltungsspielraum für den einzelnen Abgeordneten, da ein „Klubzwang“ weder auf der Ebene der übernationalen Fraktionen noch auf der Ebene der nationalen Delegationen existiert. Der Europaabgeordnete ist damit nur den aus seiner Sicht besten Argumenten und sachlichen Lösungen verpflichtet, wobei sicherlich jeder Mandatar Entscheidungen auch aufgrund seines nationalen und regionalen Hintergrundes trifft. Natürlich wird eine Koordination der Standpunkte innerhalb der Delegationen und Fraktionen angestrebt. Dabei haben aktuelle politikwissenschaftliche Studien ergeben, daß der Kohäsionsgrad bei Abstimmungen sowohl in der sozialdemokratischen Fraktion als auch in der Fraktion der Europäischen Volkspartei beinahe 90 Prozent erreicht hat. (vgl. The Economist, March 6th 1999, p. 29) Doch da niemand kraft seines Amtes eine allgemein bindende Entscheidung erzwingen kann, entstehen dadurch offene und spannende europapolitische Debatten.
Das interessanteste Beispiel für einen solchen Diskussionsprozeß stellte in den vergangenen Monaten die Frage der Entlastung der Kommission für das Haushaltsjahr 1996 und das daran anschließende Mißtrauensvotum gegen die Kommission dar. In den lebhaften und kontroversiellen Diskussionen trafen national oder fraktionell motivierte, politisch-taktische, europapolitisch-sachliche und institutionell-grundsätzliche Argumente und die damit verbundenen Emotionen aufeinander. Schließlich setzte sich in der zweiten Jänner-Woche mehrheitlich das Argument durch, daß es unklug wäre, die Kommission in der Endphase der Verhandlungen über die Agenda 2000 abzuwählen und dadurch die EU in einer kritischen Phase, auch angesichts des jungen Euro, in eine Krise zu stürzen. Andererseits war es undenkbar, die Kommission, die sich gegenüber dem Parlament politisch ausgesprochen ungeschickt verhalten hatte, ungeschoren davonkommen zu lassen.
Aus dieser Situation wurde die Idee des „Weisenrates“ geboren. Die Pro- und Contra-Argumente in der Frage des Mißtrauensvotums gingen quer durch die Fraktionen und Delegationen und führten zu einem kaum vorhersehbaren Abstimmungsverhalten. Der Rücktritt der Europäischen Kommission nach Erscheinen des Weisenberichts am 15. März war daher die direkte Reaktion auf die Druckausübung des Parlaments, das damit insgesamt an Gewicht gewonnen hat.

Auch das für Österreicher etwas ungewohnte Berichterstattersystem konnten wir aus nächster Nähe mitverfolgen, da Hannes Swoboda Berichterstatter für die Vorschläge der Kommission zur Revitalisierung des Eisenbahnverkehrs war bzw. im Herbst Berichterstatter über die Beziehungen der EU zur Türkei nach dem Gipfel von Luxemburg war. Für jede Materie, die dem Parlament von der Kommission oder dem Rat (je nachdem welcher Themenbereich behandelt und welches Verfahren angewandt wird) übermittelt wird, wird im Europäischen Parlament ein(e) Berichterstatter(in) ernannt. Berichterstatter können allerdings nur Mitglieder einer Fraktion im EP werden, weshalb etwa die Abgeordneten der Freiheitlichen als Fraktionslose an der Hauptarbeit des Parlaments nur sehr am Rande mitwirken können, allerdings durch ihre relativ geringe Anwesenheit ohnehin wenig Interesse erkennen lassen. Der „Rapporteur“ holt dann möglichst viele Meinungen zum jeweiligen Thema ein, beurteilt etwa die Vorschläge der Kommission, trifft sich mit Experten und stellt den Bericht zuerst im zuständigen Ausschuß zur Diskussion. Bei der Ausarbeitung des Berichts werden die Abgeordneten in den meisten Fällen von Fraktionsmitarbeitern unterstützt. Erst nach der Abstimmung im Ausschuß wandert der Bericht in die Plenardebatte, wo dann das Parlament über diesen und die dazu eingebrachten Abänderungsvorschläge abstimmt. Dabei kann es durchaus vorkommen, daß ein Bericht die Meinung des Abgeordneten nur mehr sehr eingeschränkt wiedergibt, da Abänderungsanträge dem Bericht ein völlig neues Aussehen geben können.

In diesem Zusammenhang war es für uns als Politologen besonders interessant, das Lobbying auf europäischer Ebene in der Praxis kennenzulernen. Der Begriff des Lobbying ist in Österreich nach wie vor anrüchig und ruft Gedanken an illegitime Beeinflussung hervor. Die Ursache dafür liegt darin, daß das österreichische Parlament als Repräsentant des Volkes gilt, das unabhängig von partikularen Interessen die Volksmeinung repräsentativ vertreten soll, wobei eine große Zahl von Entscheidungen im sozialpartnerschaftlichen Raum „vorbereitet“ wird.
Der Arbeitsweise des EP liegt eher das angelsächsische Modell zugrunde, wonach das Parlament für einen konsens- und mehrheitsfähigen Ausgleich von Interessen verantwortlich ist. Daher ist es selbstverständlich, daß die Abgeordneten von Interessenorganisationen kontaktiert werden. Wie soll der Abgeordnete sonst auch seine Entscheidungen treffen, wenn er nicht weiß, welche Interessen die Betroffenen haben und welche Konsequenzen sich daraus etwa für die unterschiedlichen europäischen Regionen ergeben können?

Lobbying ist also ein kontinuierlicher Informationsfluß und darf von denen, die es in Brüssel betreiben (Agenturen und angestellte Lobbyisten), nicht als geplante, unlautere Einflußnahme mißverstanden werden, denn gerade derartige Fälle werden dann gegen das europäische Projekt ins Treffen geführt. Die meisten Lobbyisten agieren äußerst professionell, indem sie beispielsweise die von ihnen erwünschten Änderungen in Entwürfen von Rechtstexten formal exakt in derselben Form übermitteln, wie sie im EP gehandhabt wird. Der Abgeordnete sieht damit sofort, an welchen Stellen die jeweilige Interessenorganisation den Rechtstext abändern möchten, um ihren Wünschen durchzusetzen. Selbst die Zeugen Jehovas übermittelten in einem Fall ihre Wünsche in der Form von parlamentarischen Abänderungsanträgen, die theoretisch 1:1 übernommen werden hätten können.

Hannes Swoboda hielt daher im gesamten Verlauf seiner Tätigkeit als Berichterstatter ständig Kontakt mit Vertretern von Gruppen, die ein Interesse an der künftigen Entwicklung des Eisenbahnwesens in Europa haben. Das Spektrum reichte dabei von der „Gemeinschaft Europäischer Bahnen“ über Gewerkschaftsvertreter und Eisenbahnunternehmen bis zum österreichischen Verkehrsministerium. Ähnlich war dies beim Bericht über die Beziehungen der EU zur Türkei der Fall, wo etwa der türkische Botschafter in Brüssel die Vorstellungen der türkischen Regierung vertrat bzw. Hannes Swoboda sich selbst in vielen Gesprächen vor Ort ein möglichst vollständiges Bild vom politischen und gesellschaftlichen Entwicklungsstand der Türkei gemacht hat.

Ein allgegenwärtiges Thema im Büro von Hannes Swoboda sind die aktuellen außenpolitischen Entwicklungen, da er außenpolitischer Koordinator und Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion im EP ist. Gerade die letzten Monate waren sehr ereignisreich, von der humanitären Katastrophe im Kosovo über die „Irrfahrt“ des Anführers der kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Abdullah Öcalan, durch halb Europa bis hin zu den Luftangriffen der USA auf den Irak im vergangenen Dezember. Abgesehen von den Krisen in Europa und seinem Umfeld befaßt sich der Ausschuß für Auswärtiges bzw. Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Europäischen Parlament mit grundlegenden Fragen der Gestaltung der Beziehungen der EU zu bestimmten Regionen und Ländern.
Obwohl das Parlament in Fragen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik vom Rat nach dem EU-Vertrag (Art. 21 EUV neu) nur informiert bzw. konsultiert wird, sind die engagierten Mitglieder des Ausschusses gefragte Gesprächspartner auf internationaler Ebene. Viele sind – nicht zuletzt, weil sie über mehrere Jahre Berichterstatter für einen Themenkreis sind – ausgesprochene Experten in der jeweiligen Materie. Politologen sprechen in dieser Hinsicht von der Ausübung von „soft power“ im Institutionengefüge, da die „hard powers“ hier eindeutig bei den Außenministern der EU-Staaten liegen.
Die Information an die EU-Mandatare erfolgt durch die zuständigen Kommissare und durch den amtierenden Ratspräsidenten. Darüber hinaus ist es üblich, daß etwa Gesandte oder Beauftragte wie z.B. Felipe Gonzales als OSZE-Beauftragter für den Kosovo oder Carlos Westendorp als Hoher Repräsentant der EU in Bosnien-Herzegowina im Ausschuß an einer Aussprache teilnehmen. Ein ganz besonderer Stellenwert wird im Europäischen Parlament der Einhaltung der Menschenrechte eingeräumt, was sich etwa in der jährlichen Verleihung des Sacharow-Preises an verfolgte Personen bzw. Menschenrechtsgruppen manifestiert.

Unser Alltag bestand aber nicht nur aus außenpolitischen Krisen oder der Mitarbeit im Büro, sondern hatte auch andere Seiten zu bieten. Das EP verfügt über mehrere Bars (mit höchst seltsamen Namen wie „Traktorbar“ oder „Mickey-Mouse-Bar“ – die Begriffe umschreiben das Design der Bestuhlung), einen Shop für Allerlei, mehrere Banken, Restaurants, eine Bibliothek und einen Fitnessraum, selbst ein Postamt fehlt nicht. Und dann gibt es ja noch genügend Lokale, Ausstellungen und Veranstaltungen in Brüssel. Für Reiselustige ist die „Europa-Hauptstadt“ ohnehin der ideale Ausgangspunkt für Kurztrips nach London, Paris, Köln oder in die belgische Provinz.

Bon soir, meint die Sicherheitsbeamtin am Ausgang des EP, die einen so freundlich verabschiedet, als würde man sich schon seit Jahren kennen. Zugleich bemerkt man stirnrunzelnd, daß man den Schirm im Büro im 15. Stockwerk vergessen hat. Macht nichts, es regnet ja zur Abwechslung nicht. Aber morgen in der Früh (soferne die Öffis nicht streiken) heißt es jedenfalls wieder: Bon jour, Monsieur! Und ein neuer Tag im Europäischen Parlament beginnt.

Mag. Helmut LANG ist Politologe in Wien und arbeitet derzeit an seiner Dissertation zum Thema „Die österreichische EU-Ratspräsidentschaft 1998“.

Mag. Wolfgang HASSLER ist akademisch geprüfter PR-Berater und arbeitet an einer Dissertation zur Thematik „Die Rolle Österreichs im Kontext der Osterweiterung der Europäischen Union“.


Wien, im April 1999