Gestalten heißt verändern

Unterm Strich ist es wichtig, auch bei kleinen Einzelschritten eine Vorstellung darüber zu haben, wohin man überhaupt gehen möchte. In der Architektur wie in der europäischen Politik! 
Der Vorstand der Verkehrsbetriebe in Hannover hat mich eingeladen, eine Festansprache anlässlich der Eröffnung des sogenannten Gehrytowers zu halten. Dieser Turm, von Frank Gehry erbaut und auf einem Grundstück der Verkehrsbetriebe der Stadt angesiedelt, soll einen Anstoß für weitere städtebauliche Entwicklungen in einem prekären Gebiet am Rande der Stadt geben.

Architektur und Politik

Ich habe die Gelegenheit, nach Hannover zu fahren, gerne wahrgenommen. Und ich habe versucht, über die Aufgabe von Architektur und Politik in der heutigen Gesellschaft zu sprechen. Dabei ist mir bewusst geworden, dass es eine sehr große Parallelität gibt zwischen der Architektur im herkömmlichen Sinn, also der bewussten, von Hand beeinflussten Gestaltung unserer Umwelt, und einer europäischen Architektur im Sinne der politischen und institutionellen Ausgestaltung des Europas von morgen.
In beiden Fällen sprechen wir von Architektur. Und in beiden Fällen geht es darum, etwas zu gestalten und zu schaffen, was es vorher noch nicht gab. Sicherlich auf Grund von Erfahrungen und Wissen, aber sicherlich auch mit Phantasie, wie die Zukunft besser gestaltet werden könnte.

Jede/r ist ein Architekt

In meiner Rede habe ich versucht, diese These in drei Punkten näher zu belegen. Zum Ersten habe ich dabei über die Bedeutung des Erfindungsprozesses in der Architektur gesprochen. Hier ist es mir wichtig klar zu machen, dass wir Menschen animieren müssen, sich nicht bloss am Bestehenden zu orientieren, sondern auch Erfindungen anzupeilen und durchaus auch mutige Schritte in diesem Erfindungsprozess zu unternehmen.
Zweitens: Es ist die Aufgabe der Politik sowie der Architektur, sich der Qualität zu verpflichten. Das Marktdenken darf die Suche nach Qualität niemals verdrängen. Im Gegenteil: Es ist auch aus dem eigenen Marktdenken heraus vernünftig, nach Qualität zu suchen und Qualität zu entwickeln.

Interventionen mit Augenmaß

Drittens stellt sich die Frage, wie weit man durch gestaltende Eingriffe – sei es in der baulichen Umwelt, sei es in der Politik – auch die Gesellschaft bzw. die Umwelt verändern kann. Ich glaube, wir alle können Veränderungen in Gang setzen. Wir dürfen nur nicht der Illusion erliegen, dass diese Veränderungen als solches große Eingriffe darstellen bzw. große Veränderungen bewirken können.
Im Städtebau sind architektonische Änderungen vorgenommen worden, wie zum Beispiel in Paris, aber natürlich auch politische Änderungen, etwa durch Hitler und andere Diktatoren, die oft keine positiven, sondern geradezu katastrophale Ergebnisse demonstrieren und zudem kaum mehr korrigierbar sind. Daher sollten wir uns durchaus mit „leisen“ Interventionen zufrieden geben. Mit Interventionen, die Schritt für Schritt, mit vernünftigem Ausmaß und ohne all zu große Kosten die Gesellschaft verändern können.

Symbiotisch agieren

Zurückkommend zum ersten Punkt geht es aus meiner Sicht darum, neue Konstruktionen und Gebäude zu gestalten, die das Alte nicht einfach wiederholen, sondern Ergebnis eines kompletten Erfindungsprozesses sind – wie das beispielsweise die Debatte um das Stadtschloss in Berlin zeigt. Es geht dabei darum, Traditionelles und Altes mit Innovativem, Funktionelles mit Emotionalem, Geplantes, Konstruiertes mit der Natur und dem Organischem zu verbinden und auch darum, Routine und Kreativität zu verknüpfen.
Gerade in einem sehr komplexen Erfindungsprozess sollte man sich weder nach einer Kopie orientieren noch dem Zwang nachgeben, etwas Neues zu entwickeln.
Es hat sich gezeigt, dass beide Wege in die Irre gehen. Lehnt man sich zu sehr am Bestehenden an, an dem, was die Geschichte bestimmt hat und dem nachträglich oft eine zwingende Logik zugeschrieben wird, dann besteht kaum eine Chance, etwas kreatives Neues zu entwickeln. Stuft man umgekehrt das Bestehende von Grund auf als falsch ein und versucht, es radikal zu verändern, befreit man also den Kopf all zu sehr von Geschichte und Gegenwart, dann kommen abstrakte Lösungen heraus, die nicht angenommen und akzeptiert werden, weil sie nicht mit der Realität und der Lokalität verbunden und nicht in ihr verankert sind.

Mut zu mehr Europa

In diesem Sinn gilt es, einen neuen Weg zu finden. Und dieser Weg heisst für uns Europa. Dabei sollten wir durchaus vom Mut der Amerikaner lernen. Jenem Mut, den sie in der Architektur entwickelt haben, nicht zuletzt gerade in Kalifornien, woher beispielsweise Frank Gerry stammt. Aber auch jenem Mut, den sie im politischen Bereich entwickelt haben. Ich denke da etwa an den Balkan, an das Abkommen von Dayton, etc. Es sind dies oftmals keine optimalen Lösungen. Aber sie zeugen vom Mut, auch über bestehende Bedenken, Animositäten und Vorurteile hinwegzugehen.
In diesem Zusammenhang sei allerdings nochmals betont: Den Mut zum Neuen, zum Unkonventionellen, muss man auch mit einer guten Kenntnis der Geschichte und der bestehenden Strukturen verbinden. Alles andere wären Lösungen, die implantiert werden, aber mit dem übrigen Staatsstrukturen bzw. dem politischen Gewebe eigentlich keine Verbindung eingehen und damit auch keine Folgewirkungen haben.

Die Suche nach Qualität

Nun zur Suche nach Qualität. Ich glaube, dass die Politik nach wie vor eine größere Verantwortung hat, als ihr das viele, zum Teile Liberale, gestatten wollen. Auch in der Architektur muss die Politik Einfluss darauf ausüben, dass Qualität gesucht wird. Qualitätssuche bedeutet ja nicht, dass es nur einen Maßstab gibt bzw. dass der Maßstab des jeweiligen Politikers überall zu gelten hat.
Im Gegenteil, genau das ist manchmal sogar ein Widerspruch zur Qualität. Vielmehr müsste Druck ausgeübt werden, sich durch verschiedenste Überlegungen zur Qualität durchzuringen – sei es im dirketen Wettbewerb, in Architektur-Workshops oder in politischen Diskussionen.

Europäische Qualität

Das belegt zum Beispiel gerade auch die Diskussion um den Konvent, der jetzt nach Nizza einen neuen europäischen Vertrag, wenn man so will, eine europäische Verfassung, ausarbeiten soll. Qualität ist auch hier besonders wichtig, weil man durch sie eine gewisse Attraktivität erreicht.
Wenn man ein Gebäude verwerten, den öffentlichen Verkehr bewerben oder seine Kundenfrequenz steigern möchte bzw. wenn man insgesamt Europa bei den Bürgern verankern will, so muss es gelingen, diesen Gebäuden und Konstruktionen Qualität zu geben und diese Qualität natürlich auch nach außen zu vermitteln.

Mittel- bis langfristig denken und handeln

Qualität mag sich dabei kurzfristig betrachtet im Einzelfall wirtschaftlich nicht immer rechnen. Aber mittel- und langfristig wird es betriebswirtschaftlich, aber natürlich auch volkswirtschaftlich von Vorteil sein, wenn unsere Konstruktionen entsprechende Qualität aufweisen.
Qualität aufweisen heißt dabei auch, die Bildung, Ausbildung und Qualifikation seiner BürgerInnen sehr ernst zu nehmen. Auf dem Weltmarkt – ob es sich um den Arbeitsmarkt oder den Güter- und Dienstleistungshandel handelt – ist Qualität heute mehr denn je gefragt. Nur in den seltensten Fällen kommt es hier auf die Quantität und die niedrigen Kosten an. Daher ist wirtschaftspolitisches Denken, das sich ausschließlich an den Kosten orientiert, sehr kurzfristig und letztendlich kontraproduktiv.

„Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder“

Mein dritter Punkt betrifft die Gestaltung und damit die mögliche Veränderung unserer natürlichen oder politischen Umwelt durch Politik bzw. durch Architektur. Es gibt den bekannten Satz aus der Sozialpädagogik der Zwischenkriegszeit: „Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder.“ Damit sollte aus gesellschaftspolitischer, pädagogischer Sicht erklärt werden, dass die Gestaltung der Umwelt wesentlichen Einfluss auf die persönliche psychologische und soziale Entwicklung der Menschen haben kann.
Nun betrachten wir die Dinge heute nicht mehr so einfach. Am Ende der Gestaltung unserer Umwelt geht es ausserdem darum, verschiedene, oft widersprüchliche Elemente in Einklang zu bringen oder miteinander zu verknüpfen. Es geht einerseits um die Suche nach Harmonie und Geborgenheit, andererseits aber doch auch um die Sehnsucht nach Spannung, Aufregung und Lebendigkeit.

Die goldene Mitte

Und genau das ist es, was sowohl die Architektur als auch die Politik betrifft. In beiden Fällen geht es nicht immer nur darum, Aufregendes, vielleicht auch Aufgeregtes zu erzeugen. Und in beiden Fällen können wir in der heutigen Zeit nicht bloß von Harmonie und Geborgenheit leben. Wir dürfen diese beiden widersprüchlichen Tendenzen oder Vorstellungen und Wünsche also keinesfalls übersehen.
Weiters geht es darum, den Stadträumen und Plätzen, aber auch den politischen Zusammenhängen eine neue Fassung, Begrenzung und Überschaubarkeit zu geben. Die Grenzen sind dabei sicher nicht die gleichen Grenzen wie in früheren Zeiten. Aber sie können weiter gesteckt werden. Und es muss immer ein gewisser Bezug zwischen dem Leben des Einzelnen und den Grenzen hergestellt werden, bei politischen wie bei städtebaulichen Räumen.

Der Weg ist das Ziel

Heute gilt es zweifellos, sehr stark zu intervenieren – auch wenn wir in vielen Fällen nicht jene idealen Situationen herstellen können, die wir uns in unseren Köpfen zurechtgelegt haben. Diese Interventionen sollten dennoch stattfinden und in eine Gesamtkonstruktion bzw. -vision eingebunden werden. Und genau dann können sie uns durchaus im gesellschaftlichen Fortschritt weiterbringen.
Das ist beispielsweise beim Gehry-Turm in Hannover der Fall, der sich in einem Stadtgefüge befindet, das noch sehr vieler Veränderungen bedarf, aber trotzdem schon in eine neue Zukunft hineinstrahlt. Und so ist es unterm Strich wichtig, auch bei kleinen Einzelschritten eine Vorstellung darüber zu haben, wohin man überhaupt gehen möchte. In der Architektur wie in der europäischen Politik! 
Hannover, 28.6.2001