Gewinner und Verlierer der Globalisierung

Globalisierung und die Betonung einer offenen Volkswirtschaft dürfen nicht bedeuten, dass wir jeglicher Art von unfairer Handelspraxis das Wort reden.
Ende August war ich eingeladen worden, die Firma Kapsch zu besuchen, zu der ich schon seit längerem besondere Kontakte pflege. Das Unternehmen mit seinen Betrieben ist in meinem politischen Heimatbezirk in Wien-Meidling angesiedelt. Nicht zuletzt deshalb bin ich dieser Einladung gerne gefolgt.

Technologieoffenheit

Das spezifische Anliegen der Firma für einen Betriebsbesuch war die Bitte, bei der europäischen Gesetzgebung hinsichtlich der Mautsysteme technologieoffen vorzugehen. Demnach sollten nicht bestimmte Technologien vorgeschrieben werden, sondern es sollte den Firmen, aber vor allem auch den Nachfragern, also den Städten und Ländern, überlassen sein, welche Technologien jeweils zur Anwendung gelangen.
Nun, ich bin im Prinzip dafür, dass auch über die europäische Gesetzgebung Druck in Richtung modernerer Technologien ausgeübt wird. Und zweifellos ist insbesondere die Satellitentechnologie gegenüber der Mikrowellentechnologie, die eine Unzahl von fixen Installationen im Straßensystem benötigt, flexibler einsetzbar. Es hat sich allerdings erwiesen, dass die Technologie der Mikrowelle – zumindest auf kürzere bis mittlere Frist – den Vorteil hat, dass sie ausgereift, rasch einsetzbar und derzeit kostengünstiger ist.

Satelittentechnologie

Dennoch bin ich überzeugt davon, dass die Forschung und Entwicklung in erster Linie in Richtung Satellitentechnologie gehen sollte: Mit Satelliten sind Lkws, in Zukunft vielleicht auch Pkws, in jedem Fall zu orten. Und man braucht keine oder weniger fixe Installationen. So können Lkws, selbst wenn sie Ausweichrouten verwenden, um Mauten zu übergehen, „aufgespürt“ werden.
Allerdings gilt es, bei dieser Technologieform noch einige Schritte des Reifeprozesses vorzunehmen. So gesehen ist es sicherlich möglich, auch die europäische Gesetzgebung auf diesem Gebiet technologieneutral zu machen und es der sich entwickelnden Nachfrage in den einzelnen Ländern zu überlassen, welche Richtung sie gehen wollen – unter der Voraussetzung, dass ein sehr großes Ausmaß an Interoperabilität herrscht. Die Systeme müssen miteinander vereinbar sein und ein Lkw muss ohne große Nachrüstungen und besonderen Aufwand durch Europa fahren und von den unterschiedlichen Systemen erfasst werden können.

Interoperabilität

Dafür ist es aber auch notwendig, sich innerhalb der Mikrowellentechnologie auf Standards zu einigen – was mehr oder weniger bereits geschehen ist bzw. gerade geschieht. Das italienische System beispielsweise war ja nicht interoperabel mit anderen europäischen Systemen. Nur so wird es einerseits für den Güterverkehr, zum späteren Zeitpunkt auch für den Pkw-Verkehr, leichter sein, erfasst zu werden, und andererseits auch für die Fahrer und Eigentümer leichter sein, sich ohne allzu großen Investitionsaufwand durch Europa zu bewegen.
Die Firma Kapsch steht, wie andere Technologieunternehmen in Österreich, unter ständigem Druck von Unternehmungen aus dem Ausland – hinsichtlich der Forschung und Entwicklung, aber auch hinsichtlich der Kosten für die Produktion. Dennoch: Viele österreichische Firmen haben sich deshalb gut gehalten, weil sie viel in die Forschung und Entwicklung investiert haben und sich parallel dazu von vornherein an der regionalen Entwicklung orientiert haben, also Angebote insbesondere an die Nachbarländer, aber in gewissen Sektoren auch weltweite Angebote gemacht haben. Auch Firmen wie das Familienunternehmen Kapsch müssen sich an internationalen Märkten orientieren und am Prozess der Globalisierung teilnehmen, wollen sie sich selbst in Österreich halten. Aber immer mit dem Ziel vor Augen, sich auf ausgewählte Sektoren zu konzentrieren.

Die Auswirkungen der Globalisierung

Unmittelbar nach dem Betriebsbesuch nahm ich eine Studie zur Hand, die die Europäische Kommission in Auftrag gegeben hat und die sich mit der Globalisierung und den Trends, den Problemen und den makroökonomischen Auswirkungen für die EU beschäftigt. Die Studie wurde in diesem Sommer veröffentlicht.
Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Auswirkungen der Globalisierung für die europäischen Wirtschaften im letzten Jahrzehnt nicht so positiv sind, wie sie sein könnten und sollten. Das hängt damit zusammen, dass zwar die Auswirkungen auf den Konsum – gesunkene Preise einerseits, eine größere Vielfalt von Konsumgütern andererseits – positiv sind. Die Auswirkungen hinsichtlich der Produktion – also der Auslagerungen und der Verlagerungen – kompensieren diese Effekte aber zum Teil. Auch die starke Konzentration Europas auf Produkte der mittleren Technologie macht uns angesichts einer zunehmenden Konkurrenz, insbesondere von China und Indien, verwundbar. Und zwar bei jenen Gütern und Leistungen, die in Europa produziert werden. Europa konzentriert sich zudem zuwenig auf Hochtechnologiebereiche sowie Forschung und Entwicklung – zumindest im Vergleich zu den USA. Hier müssen wir einen Vorsprung ausbauen, bevor sich auch China und Indien in eine ähnliche Richtung entwickeln.

Teilverlagerungen

Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten: Es gibt eine Reihe von Vorteilen der Globalisierung für KonsumentInnen. Diese werden allerdings zunehmend durch Verlagerungen von Produktionen aus europäischen Ländern, zumindest aus den Ländern der EU in andere Länder, kompensiert. Es gibt dabei zwei Arten von Verlagerungen. Zum einen sind das Auslagerungen von Teilen der Produktion.
Derartige Auslagerungen helfen oft kurz- oder mittelfristig, weil sie die Produktion rationell, aber vor allem billiger machen und damit weiterhin das Beliefern der internationalen Märkte durch europäische Produkte ermöglichen. Nicht jede Auslagerung ist so gesehen schlecht. Gerade Auslagerungen von Teilen der Produktion, die eher einfacherer Produktionsnatur sind und wo kostengünstigere Produktionsmöglichkeiten im Ausland bestehen, helfen, die Produkte insgesamt billiger zu machen und tragen dazu bei, dass auch jene Produktionsteile, die in den europäischen Ländern verbleiben, entsprechend abgesichert werden können.

Gesamtverlagerungen

Die Alternative wäre in vielen Fällen die Gesamtverlagerung der Produktion. Auch diese Phänomene sind zu beobachten. Gesamtverlagerungen sind vor allem dann unvermeidlich, wenn es um die Suche nach größeren Märkten geht. In Relation zu Neuinvestitionen in den europäischen Ländern sind sie allerdings zu groß. Und der Zufluss von Investitionen nach Europa ist in Relation zu den Verlagerungen aus Europa zu gering. Dieses Verhältnis hat sich vor allem in den vergangenen Jahren verschlechtert – insbesondere im Vergleich zu den Vereinigten Staaten von Amerika, die nach wie vor eine große Anziehungskraft auf Investitionen haben.
Es ist interessant, dass viele europäische Unternehmen vor allem in Amerika investieren, und zwar primär in den Bereichen Forschung und Entwicklung. Das ist eine absolut problematische Entwicklung. Europa und die Mitgliedsländer der Europäischen Union müssten alles unternehmen, um diesen Trend Einhalt zu gebieten. Auch die Forschung ist ihrerseits international tätig und kann nicht durch Barrieren auf Europa oder einzelne Länder begrenzt werden. Aber das Verhältnis zwischen Abfluss von Mitteln, die in die amerikanische Forschung gehen und dem Zufluss von Mitteln und damit auch der Schaffung von Forschungs- und Entwicklungsarbeitsplätzen in Europa gegenüber der Schaffung von Forschungs- und Entwicklungsarbeitsplätzen in Amerika stimmt einfach nicht. Es besteht ein großes Defizit auf der europäischen Seite.

Konkurrenzkampf

Auch dieser Aspekt hängt mit der Frage zusammen, wie wir uns gegenüber China und Indien verhalten sollten. Aber auch hier ist ziemlich klar, dass insbesondere China, aber auch Indien, in niedere und mittlere Technologiebereiche eindringen – in Bereiche also, in die Europa gerade in den vergangenen Jahren und Jahrzehenten sehr stark investiert hat. Wir sehen uns also zunehmend mit Konkurrenz konfrontiert, ohne sie durch Hochtechnologiebereiche, wie sie eher in den USA ausgeprägt sind, kompensieren zu können.
Wir wissen aber auch genau, dass China und Indien nicht nur in den Bereichen der niedrigen und mittleren Technologie bleiben werden, sondern sich durch forcierte Anstrengungen und vermehrte Investitionsmittel im Laufe der nächsten Jahre in Richtung Hochtechnologie entwickeln und damit Europa auch auf diesem Gebiet Konkurrenz machen werden.

Aufholjagd

Dabei ist zu betonen, dass diese Entwicklung für China und auch für Indien einen durchaus bemerkenswerten Aufholprozess darstellt. Im Jahr 1820 haben beide Länder zusammen etwa 50% der Weltproduktion erzeugt. Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte danach ist es allerdings zu einem Aufholprozess Europas und in der Folge auch Amerikas gekommen. Mit einem heutigen Anteil Chinas und Indiens an der Weltbevölkerung von ca. 40% und an der Weltproduktion von etwa 20% sehen wir uns zwischenzeitlich einem neuen Aufholprozess ausgesetzt.

In Forschung und Entwicklung investieren

All das sind keine besonders positiven Aussichten für Europa, die europäische Wirtschaftsstruktur und insbesondere die Beschäftigungslage. Daher muss die Europäische Union – und das sind im konkreten Fall vor allem die einzelnen Länder, die ja die wirtschafts- und beschäftigungspolitische Kompetenz haben – große Anstrengungen unternehmen, diesen Aufholprozess mitzumachen.
Es gibt keinen Zweifel daran, dass wir insbesondere in Forschung und Entwicklung investieren müssen. Aus diesem Grund waren wir im Europäischen Parlament auch so enttäuscht, dass trotz Steigerungsraten in der kommenden Budgetvorschauperiode von den Regierungschefs einfach zuwenig Forschungsmittel beschlossen worden sind. Das entspricht nicht der Forderung Tony Blairs und einiger anderer, die sich lautstark für wesentlich höhere Investitionen in die Forschung und Entwicklung ausgesprochen haben.

Schein und Sein

Die Tatsache, dass Amerika einen Vorsprung hat, bedeutet natürlich nicht, dass in Amerika alles „paletti“ ist. Wie schon bei anderer Gelegenheit erwähnt ist die wirtschaftliche und vor allem die soziale Situation trotz des Wachstums im vergangenen Jahr keinesfalls positiv. Zwar schreiben gerade dieser Tage die Zeitungen, dass zum ersten Mal seit dem Regierungsantritt von George Bush die Armut in Amerika nicht gestiegen ist. Sie ist allerdings auch nicht wirklich gesunken. Die Fachleute haben diesen äußerst geringen Rückgang als statistisch nicht signifikant eingestuft. Die Armut von Familien mit weiblichem Haushaltsvorstand ist zudem nahezu unverändert geblieben. Und nach wie vor ist festzuhalten, dass die Armutsquote mit 12,6% um 1,2% höher liegt als im Jahr 2000, dem letzten Jahr der Amtszeit Bill Clintons.
Ohne die Clinton´sche Wirtschaftspolitik über den grünen Klee zu loben ist doch festzuhalten, dass die heutige Wirtschaftspolitik – was die Bekämpfung von Armut betrifft – nicht erfolgreich gewesen ist. Und das war wahrscheinlich auch gar nicht das Ziel der Regierung von George Bush. Ihm geht es nicht um die Armen, sondern um die höheren Einkommensschichten und um die wirtschaftspolitische Ideologie, die mit Sozialpolitik wenig zu tun hat.

Gewinner und Verlierer

Gerade dieser Tage hat der neue Präsident der Federal Reserve Bank, also der amerikanischen Nationalbank, klar festgehalten, dass er es angesichts der ungleichen Verteilung der Globalisierungsgewinne durchaus versteht, dass der psychologische und politische Widerstand gegen die Globalisierung so groß bzw. im Wachsen begriffen ist. Derartige Aussagen würde ich auch gerne verstärkt seitens der EU-Kommission hören.
Ich vermisse den Appell an die einzelnen Länder, dafür Sorge zu tragen, dass selbst bei einer insgesamt positiven Auswirkung der Globalisierung – was für Europa wie dargestellt in Zweifel zu ziehen ist – deutlich gemacht wird, dass den Gewinnern auch viele Verlierer gegenüberstehen. Und wenn es Gewinner gibt oder die Globalisierung eine Gewinnerstrategie ist, muss man auf der anderen Seite dafür sorgen, dass auch jenen etwas zu Gute kommt, die auf der Verliererseite stehen. Dabei geht es nicht nur um soziale Hilfe und Unterstützung, sondern vor allem auch um eine aktive Arbeitsmarktpolitik im Sinne der Weiterbildung angesichts drohender Arbeitslosigkeit. Man muss den Menschen in jenen Bereichen neue Chance eröffnen, die von der Globalisierung eher positiv erfasst werden.

Positive Erweiterungseffekte

Ein positives Zeichen für Europa ist zweifellos gerade die Entwicklung in Mittel- und Osteuropa. Wir wissen, dass es in dieser Frage viel Kritik gab und gibt, insbesondere im Rahmen des Erweiterungsprozesses. Umso positiver ist vor diesem Hintergrund zu vermerken, dass der Beitritt und der erwartete voraussichtliche Beitritt mitgeholfen haben, dass sich unsere Nachbarländer gut entwickeln. Das ist nicht nur ein Vorteil für diese Länder selbst, sondern gerade auch für die wirtschaftliche Entwicklung in Österreich.
Unsere Unternehmungen profitieren von der Erweiterung, was für die Gewinnsituation unserer Unternehmungen und damit für die Beschäftigung in Österreich Vorteile bringt. Viele dieser Unternehmungen, besonders im Bereich der Banken und Versicherungen, aber auch Firmen wie die OMV, verlagern im Zuge der Integration und der Erweiterung ihres Geschäftsbereiches in diese Länder nicht Arbeitskräfte, sondern sichern insbesondere in den zentralen Bereichen Arbeitskräfte in Österreich selbst. Das gilt ja auch für die Bereiche Forschung und Entwicklung, aber auch für Finanzierung und Administration, etc.

Überholtes Gedankengut

Nichts davon ist gesichert. Die Alternative wäre allerdings, dass nicht österreichische Unternehmungen diese Geschäfte betreiben, sondern französische, britische oder deutsche Unternehmungen. Und das schafft ganz sicher weniger Chancen für Beschäftigungen in Österreich selbst. Es handelt sich jedenfalls um eine Integration, die auch in Zukunft voranschreiten wird. Sie kann weder verhindert werden noch soll sie verhindert werden. Stattdessen müssen wir versuchen, die größtmöglichen Chancen herauszuholen.
Gerade die besonders aktuelle Debatte um die Pflege und die große Anzahl an betroffenen Arbeitskräften – man spricht von etwa 40.000 Beschäftigten aus unseren Nachbarländern, die versuchen, den Pflegenotstand in Österreich zu mildern und abzufedern – zeigt, dass ein Denken in engen Grenzen nach dem Motto „Die sollen dort bleiben, wo sie herkommen und wir lösen unsere Probleme selbst“ oder „Österreich zuerst“, nicht länger funktioniert. Dabei handelt es sich um altmodische Gedanken, die zweifellos bei einem Teil der Bevölkerung auf Zustimmung stoßen. Allerdings bei jenem Teil, der nicht nachdenkt und nicht unmittelbar von den positiven Effekten einer solchen Integration auf dem Arbeitsmarkt betroffen ist. Daher ist es richtig, dass es Regelungen im Sinne von Zugangsbeschränkungen in einer Übergangsphase gibt. Ebenso richtig ist, dass man diese Beschränkungen sehr locker und flexibel handhaben muss – schon im eigenen Interesse. Und wir müssen uns darauf vorbereiten, dass es einen gemeinsamen Arbeitsmarkt geben wird und innerhalb der einzelnen Länder dafür sorgen, einen Ausgleich zwischen den Gewinnern und den Verlierern sicherzustellen, vor allem durch eine aktive Arbeitsmarkt- und Weiterbildungspolitik.

Abschottungsgefahr

Die von mir bereits erwähnte Studie im Auftrag der Europäischen Kommission belegt an Hand einiger Berechnungen, dass eine Abschottungspolitik der Europäischen Union nicht nützen würde. Sie würde die positiven Effekte für die KonsumentInnen vermindern, aber die negativen Effekte nach außen nicht auf Dauer bewerkstelligen können. Auch wenn der Außenhandel Europas in Relation zur Wirtschaftsstruktur im Prinzip insgesamt gering ist, so ist er ist insbesondere im Bereich der Industrie, die vom Export abhängt, viel größer.
Viele Dienstleistungen sind eher lokal- und personenbezogen statt internationalisiert und können schwer in den Export gebracht werden. Und in vielen anderen Bereichen ist die Vernetzung einfach schon zu groß. Da könnte eine Abschottungsstrategie schädlich sein. Denn es sind ja gerade unsere Unternehmungen, die in Indien oder China investieren. Aufgrund dieser Wirtschaftsverflechtung ist „Mein“ und „Dein“ nicht so leicht zu unterscheiden. Das heißt aber nicht, dass dort, wo es zu heiklen Situationen und zu unfairen Handelsbeziehungen kommt, die Europäische Union auch entsprechend handeln muss, wie das etwa bei den Textilien der Fall war oder derzeit hinsichtlich der Schuhexporte aus China diskutiert wird.

Fairness sicherstellen

Globalisierung und die Betonung einer offenen Volkswirtschaft dürfen nicht bedeuten, dass wir jeglicher Art von unfairer Handelspraxis das Wort reden. Auch hier muss die Europäische Union mithelfen, Übergangsprozesse so zu gestalten, dass sie nicht zu Lasten der europäischen ArbeitnehmerInnen gehen. Dieses Thema wird uns in den nächsten Wochen im Europäischen Parlament intensiv beschäftigen.

Wien, 31. August 2006