Grundrechte für Europa

Der Grundrechts- und Grundfreiheitenschutz, den die Europäische Union bietet, muss auch in der Türkei angewandt werden. 
Ich sitze hier in einem kleinen Haus in Ankara, nahe der Stadthalle, in der der Kongress der CHP tagt, einer sozialdemokratischen Partei, die auf Grund der 10 % Hürde derzeit nicht im Parlament vertreten ist.

CHP-Kongress in Ankara

Anlass meines Besuches in der Türkei war der Kongress der CHP in Ankara. Ein Kongress, der durch Auseinandersetzungen um den Vorsitzenden gekennzeichnet war. Es sind vier Personen, die hier kandidieren und ihre für mich leider unverständlichen Bewerbungsreden im Kongresssaal halten: der gegenwärtige Vorsitzende, der frühere Vorsitzende und zwei weitere prominente Mitglieder der Partei bewerben sich um den CHP-Vorsitz. Es wird wahrscheinlich zweier Wahlvorgänge bedürfen, um zu einer endgültigen Entscheidung zu kommen. Ob dann Frieden in der Partei herrschen wird, ist eine andere Frage – das kann ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt sicherlich nicht beurteilen.
Ich habe den CHP-Kongress auch zum Anlass genommen, um bereits am gestrigen Tag Gespräche mit Vertretern aus dem Parlament, diplomatischen Vertretern, dem Außenministerium sowie natürlich mit der Vertreterin der EU-Kommission und einigen Journalisten in Ankara zu führen. Mein Eindruck ist, dass ein wenig mehr Bewegung in die Türkei gekommen ist, insbesondere seit Helsinki. Zumindest jene, die mit Herz und Seele für den Beitritt der Türkei, wenigstens für den Weg nach Europa und die entsprechenden Reformen eintreten, gehen einerseits von sich aus mit mehr Engagement an die Sache heran und können andererseits von den Gegnern oder Kritikern dieses Weges kaum wirklich behindert werden.

Spürbare, wenn auch langsame Veränderungen

Es ist in der Vergangenheit tatsächlich auch einiges geschehen. Ein Präsident wurde gewählt, der wirklich unabhängig zu sein scheint und den Buchstaben des Gesetzes getreu agiert. Die eine oder andere Menschenrechtskonvention wurde zumindest unterzeichnet. Man hat bisher das Verbot der Todesstrafe auch gegenüber Öcalan eingehalten. Natürlich ist das Reformglas noch ziemlich leer, aber es ist ein bisschen mehr Reforminhalt vorhanden, als das noch bei meinem letzen Besuch im Frühjahr der Fall war.
Die Veränderungen in der Türkei gehen langsam vor sich. Dass wir unbestritten mehr Impetus wollen und brauchen, ist klar. Auch diesmal habe ich mit vielen Gesprächspartnern, auch solchen, die nicht der Türkei angehören, festgestellt, dass es nicht wenige gibt, die so denken wie ich: der Weg in die Europäische Union ist sicherlich ein schwieriger, der seitens der Türkei vielleicht nicht einmal bis zum Ende gegangen wird. Dass wir aber jetzt die Tür aufmachen müssen, um die Türkei und ihre reformorientierte Kräfte überhaupt einmal auf diesen Weg bringen zu können, scheint mehr als deutlich.

Enge Partnerschaft EU-Türkei

Den weiterhin bestehenden Unterschied zwischen den Bewegungen in Europa und in der Türkei, was die Demokratiefestigung der Grundrechte betrifft, abzubauen, wird sicher nicht leicht sein. Und es wird sicher noch weiter dicke Luft bestehen bleiben, weil sich beide Partner maximal parallel zueinander bewegen, aber es bei einer solchen Parallelbewegung zu keinem Schließen der Kluft kommen wird.
Wenn die Türkei allerdings „bloß“ Partner der Europäischen Union sein wird – und zwar ein wichtiger Partner -, dann ist das auch schon ein großer Fortschritt.

Grundrechte und Grundwerte der Europäischen Union

Über viele Monate hindurch wurde eine europäische Grundrechtscharta erarbeitet. Unter schwierigen Bedingungen für die Sozialdemokraten, weil sie zumindest am Beginn nicht im Präsidium dieses Konvents, das aus den Vertretern der nationalen Parlamente, des EU-Parlaments, der Regierungen und der Kommission bestanden hat, vertreten waren. Aber dennoch konnte durch Anstrengung von Mitgliedern unserer Fraktion und durch eine gute Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein Entwurf erzielt werden, der sich sehen lassen kann.
Nicht alle Wünsche sind erfüllt, das wäre auch irreal. Aber dieser Entwurf, so wie er vorliegt, ist – vor allem auch, weil er von vielen als ein Beginn einer Verfassungswerdung in der Europäischen Union interpretiert wird – sicher ein Entwurf, mit dem man ganz gut leben kann. Man muss dabei berücksichtigen, dass die meisten Fortschritte in der Europäischen Union – ob einem das gefällt oder nicht – nicht mit einer großen Entscheidung begonnen haben, die sofort eine Vision erfüllt hat, sondern dass die Fortschritte immer schrittweise und unter Eingehen von Kompromissen erfolgt sind. Und man muss berücksichtigen, dass etwa am Beginn der Gründung der Europäischen Union die Gemeinschaft für Kohle und Stahl gestanden ist, also eine wirtschaftliche Gemeinschaft – wenngleich es das erklärte Ziel der EU-Gründung war, den Krieg zu verhindern, indem man die Grundlagen der Rüstungsindustrie vergemeinschaftet.

Mit kleinen Schritten zum Erfolg

Wenn man betrachtet, was schließlich heute aus dieser Gemeinschaft für Kohle und Stahl geworden ist, dann kann man nicht leugnen, dass die Methode des Schritt für Schritt-Gehens und dabei manchmal kleine, manchmal ein bisschen größere Schritte zu machen, zu durchaus guten Ergebnissen geführt hat. Ich bin natürlich einer, der sich wünscht, größere und schnellere Schritte zu machen. Aber gerade die Entscheidung in Dänemark, die vorgestern getroffen worden ist und die leider zu einer Ablehnung der Teilnahme Dänemarks an der Wirtschafts- und Währungsunion und am EURO geführt hat, zeigt, dass es sehr schwierig ist, immer alle mit zu nehmen.
Die Interpretation, die in diesem Zusammenhang gerade in Österreich immer wieder vorgebracht wird, zu sagen, das sei ein Verrat der Kleinen, ist Unsinn. Denn wie hätte man reagiert, wenn es in Großbritannien zu einer Ablehnung gekommen wäre? Es heißt, es war kein Überfahren der Kleinen, sondern der Widerstand eines Landes, dessen Bevölkerung den Integrationsprozess in Europa sehr misstrauisch und zögerlich betrachtet und man deshalb versucht hat, große europäische Themen außerhalb von Wahlen durch Referenden zu entscheiden.
Man kann jetzt für diese Vorgangsweise sein oder dagegen. Jedenfalls zeigt das weniger die Dominanz der Großen gegenüber der Kleinen, denn am EURO nehmen Große und Kleine gleichermaßen teil. Es zeigt vielmehr, dass ein Teil der europäischen Bevölkerung nicht überzeugt ist, dass eine stärkere Integration etwas Gutes und Vorteilhaftes ist.

Entscheidung in Nizza

Das führt mich auch wieder zurück zu dem, was EU-Kommissar Verheugen mit Recht vor kurzem gesagt hat: Gerade in der Frage der Erweiterung ist noch viel Knochen- und Überzeugungsarbeit seitens der Regierungen in den bestehenden Mitgliedsländern notwendig ist, um das Erweiterungsprojekt eben nicht nur als ein Projekt der Elite, sondern als ein Projekt zu präsentieren, das uns alle vorwärts bringt. Und in diesem Sinn ist die Grundrechtscharta, wenn sie ausführlich studiert wird und nicht damit endet, in Nizza als eine feierliche Deklaration präsentiert zu werden, sondern Überlegungen beginnen, wie sie in die Praxis umgesetzt werden und Rechtswirksamkeit erlangen kann, ein wichtiger europäischer Schritt, den die Europäische Union zur Festigung der Union unternimmt.
Natürlich wäre es mir und der Mehrheit im Europäischen Parlament lieb und recht, würde es in Nizza zu einer Vertragsaufnahme oder zumindest zu einer Entscheidung darüber kommen, die Grundrechtscharta ins Vertragswerk aufzunehmen. Es scheint aber so, dass einige Länder – und hier stehen wieder die Euro-skeptischen Länder Dänemark, Schweden und das Vereinigte Königreich an erster Stelle – damit überhaupt nicht einverstanden sind.
Die Alternative, die Grundrechtscharta überhaupt abzulehnen, halte ich für keine konstruktive und brauchbare Idee. Die Grundrechtscharta anzunehmen bedeutet ja nicht, sich mit einer feierlichen Deklaration zufrieden zu geben, sondern es bedeutet, diese Grundrechtscharta als Ausgangspunkt dafür zu nehmen, sie im Laufe der Zeit zu ergänzen -begleitet von einer politischen Auseinandersetzung darüber, welche Punkte ergänzt bzw. verstärkt werden – und sie schließlich ins Vertragswerk aufzunehmen und ihr Rechtsgültigkeit zu geben.

Grundrechtscharta vertraglich verankern

Das ist einerseits ein formeller, andererseits aber auch ein informeller Prozess. Und zwar insofern, als sich die Institutionen der Europäischen Union, wie z.B. das Europäische Parlament, aber auch der Europäische Gerichtshof, im Falle des Falles an diesem Dokument orientieren sollen. Und dann muss ich davon ausgehen können, dass dies einem breiten Willen der europäischen Bevölkerung entspricht. Noch dazu, weil diese Grundrechtscharta weder von Beamten noch von einigen wenigen Regierungsmitgliedern ausgearbeitet und beschlossen worden ist, sondern vor allem von europäischen und nationalen Parlamentariern.

Grundrechte auch für die Türkei

Vor meinem Besuch in der Türkei hat mich in Brüssel Kutan, der Vorsitzende der islamenistischen Türkenpartei FASILET besucht. Ich hatte Kutan und andere Vertreter, die ihn diesmal begleiteten, schon mehrmals getroffen. Immer mehr betont Kutan die pro-europäische Haltung seiner Partei und auch die Forderung, dass der Grundrecht- und Grundfreiheitenschutz, den die Europäische Union bietet, auch in der Türkei angewandt werden soll. Dabei geht es ihm vor allem um die Frage, inwieweit eine religiöse Kennzeichnung auch in der Öffentlichkeit getragen werden kann. Es ist ja bekannt, dass das Tragen des Kopftuches in öffentlichen Einrichtungen der Türkei, inklusive der Universitäten, verboten ist. Kürzlich wurde, so berichtete mir Kutan, auch das Tragen des Kopftuches in der Fahrschule, jedenfalls während der Prüfung untersagt.
Ich habe nur wenig Verständnis für den Islamismus und auch für die Symbole der Islamisten, vor allem dann, wenn sie den Frauen aufgedrängt werden. Auf der anderen Seite jedoch ist ein solches generelles Verbot wahrscheinlich schwer mit den Grundregeln und Grundnormen der Europäischen Union zu vereinbaren. Was ich aber noch klar und deutlich zum Ausdruck gebracht habe ist, dass ein Verbot der islamistischen Partei FASILET in der Europäischen Union sicher nicht als ein Zeichen besonderer Demokratie und der Vorbereitung zum Weg nach Europa aufgefasst werden würde.

Parteienverbot widerspricht Grundregeln der Demokratie

Den Kampf gegen den Islamismus teile ich, doch gerade in dieser Frage muss mit Vorsicht und nicht mit Zwangsmaßnahmen, sondern mit mehr Überzeugung gearbeitet werden. Denn wenn es jemanden betrifft, dann ist es die HADEP, die so genannte kurdische Partei, die besonders in den kurdischen Gebieten stark ist und immer wieder, so auch jetzt, von einem Verbot bedroht ist. Deshalb habe ich diesmal in der Türkei den Präsidenten der HADEP-Partei besucht, um auch jener Seite der Türkei eine Referenz zu erweisen bzw. ein Minimum an Unterstützung zu geben. Akin Birdal selbst, der vorige Woche aus dem Gefängnis entlassen worden ist, war leider nicht hier, weil er in Istanbul die Hochzeit seiner Tochter feierte.
Auch dem Präsidenten der HADEP gegenüber habe ich klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, dass ein Verbot der Partei in Europa als ein negatives Zeichen gesehen werden würde. Parteien, die bei einer Wahl antreten durften, die Mandate im Parlament und/oder Bürgermeister etc. gewählt bekommen haben, kann man nicht nachträglich, nach einem komplizierten Verfahren verbieten. Das widerspricht den Grundregeln der Demokratie.

Grundrechtsfrage als Maßstab für EU-Erweiterung

Es zeigt sich immer mehr, dass die Frage der Grundrechte und der Grundwerte etwas ist, das uns nicht nur im internen, inneren europäischen Verhältnis in der Europäischen Union dient – gerade auch Hinblick auf mögliche Wahlergebnisse und Regierungsbeteiligungen à la Österreich. Sie ist natürlich auch ein wertvoller Maßstab für die Gespräche und Diskussionen vor allem in jenen Ländern, die Kandidaten der Europäischen Union werden wollen. Man darf nämlich nicht vergessen, dass es nur der Kandidat des Staates ist, der uns jene Möglichkeiten gibt, uns gewissermaßen die internen Angelegenheiten eines Landes einzumischen und einzugreifen. Ohne eine solche Rechtsgrundlage bzw. politische Grundlage wäre uns dies großteils versagt.
Insofern ist sicherlich die Ebene des Gesprächs nach dem Bericht von Helsinki, wenn die Türkei der Kandidatenstatus zuerkannt wird, eine andere, als das heute der Fall ist. Und das merkt man schon in den jetzigen Gesprächen ziemlich deutlich.  
Ankara, 1.10.2000