Grundsätze, Pragmatismus und Menschenverstand

Es wäre für Deutschland sowohl außen- als auch innenpolitisch gesehennicht gerade günstig, wenn es gerade während der deutschen Präsidentschaft zum großen „train clash“ mit der Türkei kommen würde.
Heute Nachmittag fanden noch weitere Referate bei der Konferenz der Sozialdemokraten in Berlin statt, denen ich allerdings nicht mehr folgen konnte. Ich habe an der parallel stattfindenden Sitzung des Vorstandes des Außenpolitischen Ausschuss mit der deutschen Ratspräsidentschaft teilgenommen.

Offen oder geschlossen?

Schon gestern Vormittag, bevor die Konferenz der Sozialdemokraten eröffnet worden war, hatte in diesem Rahmen eine Diskussion über die Integrationsfähigkeit der Europäischen Union stattgefunden, bei der einige ExpertInnen aus deutschen Forschungseinrichtungen referierten. Bei diesen Debatten ist klar geworden, dass es auch innerhalb eines Expertenkreises unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, ob Europa offen oder ob es unter Berücksichtigung der bestehenden Verpflichtungen, die insbesondere gegenüber dem Balkan und zum Teil auch gegenüber der Türkei übernommen worden sind, doch eher geschlossen bleiben soll.
Jene, die für strategische Sicherheit eintreten, die also Europa als einen wichtigen strategischen Faktor erachten, plädieren eher dafür, die Verbindungen zu unseren Nachbarn nicht zu kappen, sondern sie auszubauen und zu intensivieren – bis hin zu einer stufenweise erfolgenden Mitgliedschaft. Die Übrigen wollen zwar vielleicht keinen generellen Abschluss der Erweiterung heute oder in naher Zukunft. Aber sie legen ihren Schwerpunkt auf die innere Konsolidierung und nicht auf die Erweiterung der Europäischen Union. Für mich sind diese beiden Ansätze durchaus kompatibel. Es gibt zweifellos unterschiedliche zeitliche Prioritäten. So ist derzeit in erster Linie die Konsolidierung vorrangig und weniger die Aufnahme neuer Mitglieder. Wir müssen allerdings mit unseren Nachbarn Vereinbarungen treffen, wie wir sie stärker an die Europäische Union binden können, ohne dabei heute von einer Mitgliedschaft zu sprechen oder sie offiziell zu Kandidaten zu erklären. Das ist kein einfacher Weg, aber er muss aus meiner Sicht parallel beschritten werden.
Während der vergangenen beiden Tage in Berlin hatte ich zwei ganz besonders interessante Begegnungen. Zum einen mit dem deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier und zum anderen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Stringent pragmatischer Frank-Walter Steinmeier

Steinmeier hatte ich bereits unmittelbar nach den letzten Wahlen in Deutschland in einem Achtaugengespräch mit Martin Schulz und dem damaligen Noch-Bundeskanzler Gerhard Schröder persönlich kennen gelernt. Er zeigte sich damals noch sehr zurückhaltend, wohl nicht zuletzt aufgrund des Verlustes der SPD-Mehrheit in Deutschland.
Bei unserem gestern stattgefundenen Arbeitsmittagessens wie auch bei seiner Eröffnungsrede des Kongresses hat er einige äußerst interessante außenpolitische Bemerkungen gemacht. Und heute galt es, ein gemeinsames Resümee mit jenen neun EU-Abgeordneten zu ziehen, die nach Berlin gekommen waren, um Gespräche im Vorfeld der deutschen EU-Präsidentschaft zu führen. Alle – von den Grünen bis zu den Konservativen – waren von der Stringenz, der Exaktheit und der Grundsätzlichkeit bei gleichzeitigem Pragmatismus, die Steinmeier an den Tag gelegt hat, angetan.

Sensibilität in der Kosovo-Frage

Frank-Walter Steinmeier ist kein „geborener“ Außenpolitiker, er kommt aus der Innenpolitik. Er fungierte als Berater von Schröder und Minister im Bundeskanzleramt. Schröder hat aus meiner Sicht absolut richtig gehandelt, als er ihn als neuen Außenminister empfohlen hat. Von der Türkei über Russland bis zum Verhältnis zur USA vertritt Steinmeier keine verschwommenen, sondern vernünftige und pragmatische Ansätze. Das trifft auch für seine Position zum Kosovo zu.
Es war allerdings interessant, dass sowohl Steinmeier als auch Merkel in dieser Frage äußerst vorsichtig vorgehen wollen. Sie streben eine Lösung an, die die Stabilität in dieser Region nicht wieder über den Haufen wirft und die Situation in Serbien, in Bosnien-Herzegowina und in Mazedonien berücksichtigt. Diese Strategie ist aus meiner Sicht richtig. An der Unabhängigkeit des Kosovo führt kein Weg vorbei. Man muss dem Kosovo allerdings auch abverlangen, dass mit entsprechender Geduld, Vorsicht und Sensibilität vorgegangen wird. Ich bin sehr froh, dass die deutsche Präsidentschaft genau das entsprechend zum Ausdruck bringen wird und die Position auch schon während der Vorbereitungen bei zu treffenden Entscheidungen berücksichtigt.

Kein „train clash“ in der Türkei-Frage

Hinsichtlich der Türkeifrage bemerkten wir in dem im Anschluss stattgefundenen Gespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel selbstverständlich unterschiedliche Nuancen. Merkel hat sich klar dazu bekannt, dass sie eine Mitgliedschaft der Türkei nicht für die beste aller Lösungen hält. Ihr schwebt eher eine – noch nicht näher definierte – privilegierte Partnerschaft vor. Sie hat aber auch zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht auf den Abbruch von Verhandlungen drängen wird.
Es wäre für Deutschland sowohl außen- als auch innenpolitisch gesehen wohl auch nicht gerade günstig, wenn es gerade während der deutschen Präsidentschaft zum großen „train clash“ mit der Türkei kommen würde. Es wird sich zeigen, wie sich die Dinge in den kommenden Tagen entwickeln. Die deutsche Präsidentschaft wird sich dieser heiklen Frage aber voraussichtlich mit der notwendigen Vorsicht annähern.

Gesunder Menschenverstand

Auch Angela Merkel hat einen durchaus positiven Eindruck auf uns gemacht. Sie wirkt im direkten Kontakt attraktiver als auf dem Bildschirm. Auch sie ist keine Außenpolitikerin der ersten Stunde, sondern musste sich ihr diesbezügliches Know How im Laufe der Zeit aneignen. Inzwischen hat sie ein gutes Maß an Kenntnissen, auch wenn sich hier und da noch eine kleine Unsicherheit bemerkbar machen. Aber das ist keine unsympathische, mit Überheblichkeit gepaarte Unsicherheit.
Wir haben in diesem Sinn eine äußerst angenehme Stunde im deutschen Kanzleramt verbracht, mit einer Kanzlerin, die auch eine gute Portion gesunden Menschenverstandes in die Debatte eingebracht hat. Und wenn ich in der Türkeifrage nicht in allen Punkten übereinstimme, so glaube ich dennoch, dass sie in der nächsten Zeit auch in diesem Punkt eine vernünftige, moderate und pragmatische Position entwickelt werden wird.

Hoffnung auf gute Präsenz

Insgesamt waren die Gespräche und Begegnungen in Berlin von ganz hervorragender Qualität. Es ist zu hoffen, dass sich diese Qualität auch in der Präsidentschaft entsprechend niederschlagen wird – wenngleich große Länder oft Schwierigkeiten haben, eine gute Präsidentschaft zu absolvieren. Vielleicht auch deshalb, weil die Erwartungen in der Regel zu hoch gesteckt sind.
Wir als Vertreter des Europäischen Parlaments wünschen uns jedenfalls in erster Linie eine starke Präsenz der einzelnen MinisterInnen und der Bundeskanzlerin im Parlament. Leider respektieren große Länder das Parlament oft nicht in jenem Ausmaß wie kleinere Länder. Die österreichische Präsidentschaft hat in dieser Hinsicht einen hohen Level gesetzt. Wir werden sehen, ob die Deutschen hier Schritt halten können.

Berlin, 7.11.2006