Grundwerte sind nicht verhandelbar

Die Grundwerte eines laizistischen, europäischen Staates sind eine der Grundvoraussetzungen für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union.
Nach den Gesprächen mit den Gewerkschaften und dem Unternehmerverband in Istanbul sind wir gestern Mittag nach Ankara weitergereist.

rg Kretschmer, bisherigen Vertreter der EU-Kommission

Wir trafen hier zunächst den Vertreter der Europäischen Kommission, ebenso wie die BotschafterInnen der europäischen Mitgliedsländer. Am Flughafen von Ankara sind wir zuvor noch dem bisherigen Vertreter der Europäischen Kommission in der Türkei, Hansjörg Kretschmer, begegnet. Er war gerade auf dem Weg zu seiner neuen Position in Afghanistan.
Kretschmer hat in der Türkei gute und seriöse Arbeit geleistet und ist auch kritisch gegenüber vielen Gegebenheiten im Land aufgetreten, wenngleich er stets bemüht gewesen ist, die Entwicklungen positiv zu sehen. Es gab umgekehrt eine Reihe von scharfen, kritischen und beleidigenden Äußerungen an seiner Personen, gerade in den vergangenen Wochen, allen voran seitens des Militärs. Aber das spricht nicht gegen, sondern wohl eher für ihn.

Erdogans AK Partei

Am Abend waren wir von einigen Abgeordneten der regierenden AK Partei zu einem Arbeitsessen eingeladen worden. Es handelt sich dabei um die Partei von Ministerpräsident Erdogan, die oft als islamische, manchmal sogar als islamistische Partei bezeichnet wird. Es wird immer wieder darüber diskutiert, inwieweit die Partei eine Veränderung der Gesellschaft in Richtung islamischer Werte vornehmen möchte.
Es ist schade, dass unsere Schwester- bzw. Bruderpartei, die Republikanische Partei CHP, die auch Mitglied der Sozialistischen Internationale ist, eine extrem nationalistische Linie verfolgt – ob es sich nun um Zypern, um die Abschaffung des §301, der Delikte gegen die Meinungsfreiheit oder die Verunglimpfung des Türkentums ahnden soll oder um die Kurdenfrage handelt. In der Frage der Weiterführung eines laizistisch sekulären Staates, sind wir uns mit der CHP weitgehend einig. Aber dann hört sich unsere Einigkeit auch schon wieder auf.

Interpretationen des sekulären Staates

Auf die Dauer kann es jedoch nicht Aufgabe des Militärs sein, im Sinne der Werte und der öffentlichen Ordnung eine islamische Orientierung der Türkei zu verhindern. Es müssen stattdessen ganz eindeutig zivile Autoritäten und Institutionen – das Parlament und die Gerichte – stark genug sein, um die Werte der Trennung zwischen Staat und Religion und die Religionsfreiheit durchzusetzen.
Es war interessant, dass beim Gespräch mit den Abgeordneten der AK Partei der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses eingestanden hat, dass das Militär durchaus eine Rolle spielt. Also auch die Vertreter der islamischen Gruppierung, zumindest jene, die realistische Standpunkte einnehmen und nicht an einer zu starken Islamisierung interessiert sind, stehen dazu, dass sie die Rolle des Militärs und damit die Trennung von Staat und Religion respektieren. Die Kritik von europäischer Seite sollte vor diesem Hintergrund etwas zurückgenommen werden.

EU-Hauptverhandler Babacan

Unterm Strich ist dieses Gespräch mit den türkischen KollegInnen sehr angenehm verlaufen. Sie waren von Premierminister Erdogan nominiert worden, mit uns in Straßburg oder Brüssel immer wieder in einen Dialog über die Türkei zu treten und dabei auch ihre Vorstellungen und Wünsche einzubringen. Zumeist tun sie dies in einer zwar starken, aber keineswegs überheblichen Form. In diesem Sinn ist eine Fortsetzung dieser Gesprächsbasis zweifellos gegeben.
Wir hatten allerdings darauf gedrängt, dass im Rahmen unseres Besuches einige zusätzliche Termine stattfinden sollten. Gerade wir als Repräsentanten einer Fraktion, die an einem offenen Dialog mit der Türkei und der Möglichkeit der Türkei, ihren Weg nach Europa zu beschreiten, interessiert sind, wollten eine entsprechende Anerkennung durch die Regierungsseite finden. In diesem Sinn sind heute einige Besuche für uns organisiert worden, allen voran jener mit dem bereits erwähnten Wirtschaftsminister und EU-Hauptverhandler Babacan. Babacan ist ein junger, pro-europäischer, aber auch realistischer Politiker. Er meinte, dass man sich in Europa – abgesehen von den technischen Details – erst an die Idee gewöhnen müsste, dass die Türkei Mitglied der Europäischen Union sein kann. Ebenso wie man sich in der Türkei erst daran gewöhnen müsste, den europäischen Weg zu gehen. Ausschlaggebend ist aus Babacans Sicht, dass die einzelnen Reformen auch die notwendige Unterstützung bekommen, um den Prozess der Modernisierung und Europäisierung in der Türkei entsprechend vorantreiben zu können.

Minister für die Beziehungen zu den religiösen Institutionen des Islam

Wir haben außerdem ein äußerst interessantes Gespräch mit dem Minister für die Beziehungen zu den religiösen Institutionen des Islam geführt. Er ist kein „finsterer“, reaktionärer Muslim, sondern erwies sich für uns ganz im Gegenteil als ein sehr offener, weltgewandter Diskussionspartner. Es war interessant, dass dieser Minister die Meinung von Jack Straw, die in Großbritannien zu großen Unmutsäußerungen geführt hat – dass nämlich die Tradition jener Frauen, die ihr Gesicht zur Gänze bedecken, nicht akzeptabel ist – geteilt hat.
Er meinte, dass das Gesicht Ausdruck eines Menschen sei und im Dialog mit einem anderen Menschen auch sichtbar sein müsse. Das habe nichts mit der islamischen Religion zu tun. Es handle sich vielmehr um eine Tradition, die allerdings mit den heutigen Werten des gesellschaftlichen Dialoges nicht vereinbar sei. Er selbst würde nicht unbedingt ein Verbot aussprechen wollen. Aber vom Grundsatz her sollte sich der Islam zumindest für jene Menschen, die in europäischen Ländern leben, von dieser Vorgangsweise distanzieren.

Freie Entscheidung übers Kopftuch

Etwas anderes sei das Kopftuch. Es sei islamische Tradition, die Haare zu bedecken, und der Minister sprach sich für eine individuelle freie Wahlmöglichkeit aus. Er plädierte dafür, dass sich die Türkei als langfristiges Ziel setzen sollte, jenen Frauen, die das Kopftuch tragen möchten, auch ein Universitätsstudium zu ermöglichen – was derzeit nicht der Fall ist – und das Tragen des Kopftuches im öffentlichen Leben zu akzeptieren. Denn, so der Minister, das Kopftuch ist nicht immer Ausdruck engstirniger Religiosität, sondern es ist auch Ausdruck eines Glaubens im Sinne einer persönlichen Entscheidung, die den Frauen offen stehen muss.
Er meinte, dass es im Übrigen sehr unterschiedliche religiöse Interpretationen des Islam gäbe. In diesem Sinn gäbe es nicht nur einen Islam, sondern viele verschiedene islamische Traditionen. Das Spektrum reiche von der völlig liberalen über die reformorientierte Auffassung, ein Zugang, den er selbst am ehesten vertritt, bis hin zu einer strikt traditionellen Auffassung oder einem „Revival“, also das Wiederbeleben alter, bereits in Vergessenheit geratener Formen. Auch jene Auffassung, die den Islam als politischen Faktor sieht und nach der der Islam die politischen Strukturen beherrschen sollte, sei zu finden.

Islam-Bild überdenken

Diese Begegnung war äußerst interessant. Besagter Minister ist nicht nur formal für die administrativen Beziehungen zum Islam zuständig – sein Ministerium bestellt und bezahlt alle Imame. Er ist darüber hinaus ausgebildeter Religionswissenschaftler und vertritt den Islam sehr offen und, wie er selbst formuliert hat, reformorientiert. Ob er lediglich ein Aushängeschild ist, um zu demonstrieren, dass der Islam, wie ihn die Partei von Ministerpräsident Erdogan repräsentiert, zukunftsorientiert ist und ob er gewissermaßen verdecken soll, was dennoch eine versteckte Botschaft dieser Partei ist, kann schwer beurteilt werden.
Sein Auftreten als „Renewalist“, als Erneuerer, zeigt jedenfalls, dass unser Bild des Islam zweifellos ein völlig falsches ist. Es zeigt, wie notwendig und wichtig es ist, einen Dialog mit jenen Menschen zu führen, die für einen Reformprozess im Islam eintreten. Und es zeigt einmal mehr, wie wichtig die Türkei für uns als Partnerland ist – in wirtschaftlicher Hinsicht, aber vor allem auch in der Frage, wie wir im Dialog mit dem Islam eine Interpretation begünstigen können, die dialogbereit ist, die den Menschen Freiheit gibt und die vor allem ein friedliches Zusammenleben in Europa, in unserer unmittelbaren Umgebung, aber auch global ermöglicht.

Bei Ministerpräsident Erdogan

Heute Abend fand schließlich noch ein Treffen mit Ministerpräsident Erdogan in dessen Residenz statt. Ich habe ihn bisher immer nur im Ministerpräsidentenamt getroffen. Heute war es letztendlich ein sehr lockeres Gespräch. Erdogan ist kein Intellektueller oder ein ad personam besonders charismatischer Politiker. Er dürfte es aber äußerst gut verstehen, seine Partei dahingehend zu bewegen, die notwendigen Reformen, vor allem im europäischen Interesse, umzusetzen und den Eindruck zu erwecken, dass die Türkei tatsächlich daran arbeitet, Islam und Demokratie zu verbinden.
Man bemüht sich zu zeigen, dass es nicht darum geht, die Türkei zu islamisieren, sondern der Trennung zwischen Religion und Staat eine flexiblere Orientierung zu geben. Das Kopftuch soll eben nicht Anathema sein wie für das Militärs und die harten Vertreter von Atatürk. Nein, die Trennung von Staat und Religion wird weitergeführt. Aber die Ausübung, das Sichtbarmachen der eigenen Religion wird stärker als bisher ermöglicht. Diese Strategie wird aus meiner Sicht von Erdogan und seiner Mannschaft verfolgt.

Fazit

Einige mögen wesentlich weitergehende Ziele vor Augen haben. Aber es ist eben auch ein Test für die Demokratie in der Türkei, ob es zu einer neuen Interpretation, aber letztendlich zu einer breiten Akzeptanz des sekulären Staates in der Türkei kommt oder ob an den Grundfesten, der Trennung von Staat und Religion, geknabbert wird. In diesem Fall wäre der Weg in die Europäische Union unmöglich.
So ergibt sich auch nach diesem Besuch einmal mehr das Fazit: Die Beibehaltung des Atatürkschen Systems im Detail und in seinen konkreten Ausprägungen, bei dem letztendlich das Militär kontrolliert, ob Religion und Staat getrennt sind und Demokratie gewährleistet ist, verschließt der Türkei auf der einen Seite ihren Weg in die Europäische Union. Würde es aber auf der anderen Seite in der Türkei zu einer schleichenden Islamisierung kommen, würde also die Trennung zwischen Staat und Religion aufgehoben und die islamische Religion immer mehr die Entwicklung in der Türkei prägen und andere Religionen eher weniger als mehr Entfaltungsmöglichkeiten im eigenen Land haben sowie heute bestehende Freiheiten, insbesondere der Frauen eingeschränkt, dann wäre der Türkei der Weg in die Europäische Union ebenfalls versperrt.

Zwischenweg muss gefunden werden

Es gilt also einen Weg dazwischen zu finden, sollte die Türkei auch weiterhin den Wunsch haben, in die Europäische Union einzutreten. Dieser Punkt muss in den kommenden Jahren zweifellos am stärksten herausgearbeitet werden. Alle anderen Fragen sind zugegebenermaßen schwierig, aber zweitrangig. So wird es beispielsweise nicht einfach sein, die Zypernfrage zu lösen. Aber diese Lösungen sind technisch machbar, sie können verhandelt werden. Die Grundwerte eines laizistischen, europäischen Staates sind hingegen nicht verhandelbar. Sie sind eine der Grundvoraussetzungen für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Ankara, 31.10.2006