Heikle Mission

Noch vor dem Gipfel von Helsinki stattete das Präsidium der Türkei-Delegation des Europaparlaments der Türkei einen Besuch ab.
Ich hatte nicht die Absicht, schon wieder in die Türkei zu fahren, aber das Präsidium der Türkei-Delegation des Europaparlaments wollte unbedingt noch vor dem Gipfel von Helsinki und der dort zu fällenden Entscheidung über die Kandidatur der Türkei für die EU seitens des Europäischen Rates in die Türkei kommen.

Ich bin ja Präsidiumsmitglied der Süd-Ost-Europa Delegation, wurde aber, da es sich doch um eine sehr heikle Mission handelte, von unserem Vertreter der SPE-Fraktion in der Türkei-Delegation – ein Deutscher, der durch den SPD-Parteitag verhindert war – gebeten, ihn zu vertreten. Obwohl die Reise sich für mich zeitlich nicht optimal ausging, habe ich von der Sache her dem Drängen letztlich nachgegeben und es schließlich gerne gemacht.
Der heutige Tag war anstrengend, aber interessant zugleich. Wir haben mit mehreren Parteivorsitzenden gesprochen, mit dem Chef des Appellationsgerichtshofes und mit jenem Minister, der interessanterweise gleichzeitig für Europafragen und für Menschenrechtsfragen zuständig ist, sowie Gespräche mit Parlamentariern, Botschaftern und der Vertreterin der Europäischen Kommission in Ankara geführt.

Parteiengespräche

Unser erster türkischer Gesprächspartner war Devlet Bahceli. Er ist stellvertretender Ministerpräsident und Vorsitzender der nationalistischen Partei, die zumindest vor nicht allzu langer Zeit als rechtsextrem galt, die sich aber vor allem unter dem Vorsitzenden Barcelli, der relativ neu ist und sich in einer Koalition mit der sogenannten linken Partei von Premierminister Ecevit und anderen Parteien befindet.

Das hat Bahceli gemäßigt und ihn zu einem pro-europäischen Vertreter gemacht. Und obwohl er erst vor kurzem darauf bestanden hat, daß der Kurdenführer Öcalan hingerichtet werden muß, ist er kein vehementer Befürworter der Todesstrafe, sondern hat sich in unserem Gespräch auch diesbezüglich sehr gemäßigt geäußert.

Unsere zweite Gesprächspartnerin ist eine sehr schillernde Figur: Tansu Ciller. Sie war Ministerpräsidentin, und ist – kürzlich wiedergewählte – Vorsitzende der Partei des aufrichtigen Weges – eine von ihrem Auftreten und Erscheinen her durchaus beeindruckende Persönlichkeit.

Ciller ist in Wirklichkeit jünger und hübscher, als sie über die Medien erscheint. Man kann sich durchaus vorstellen, daß sie manchen Regierungschef, Präsidenten und Außenminister beeindruckt hat, als sie die führende politische Figur der Türkei war und etwa die Zollunion vermittelt, wenn man so will verkauft, hat und generell viel versprochen hat. Gehalten hat sie leider wenig. Als Vorwürfe laut wurden, daß sie doch in mafiöse Machenschaften verstrickt sei, ist sie schließlich immer mehr von der politischen Bühne verschwunden. Aber sie hat es – wie auch immer – geschafft, den Vorsitz ihrer Partei, wenn auch jetzt in Opposition, zu halten.

Auch sie wußte nicht wirklich zu sagen, wie es weitergehen soll, falls die Europäische Union eine positive Entscheidung hinsichtlich der Kandidatur der Türkei treffen sollte. Auf meine Frage hin, ob sie der Regierung empfehlen würde, mit anderen Kandidatenländern besser zu kooperieren, zu beobachten, wie diese Länder – ob die Slowakei, Polen oder welches Land auch immer – den Weg in die EU vorbereiten, hat sie bezeichnenderweise geantwortet: „Wir sprechen gerne auch mit den anderen über unsere Erfahrungen, über unseren Weg.“ Und erst in einem Nebensatz hat Ciller bemerkt: „Aber wir sind auch bereit, den anderen zuzuhören.“

Gebesserte Voraussetzungen

Mittags gab es ein großes Essen von TÜSIAD, dem sehr bekannten, sehr fortschrittlichen und europaorientierten Unternehmerverband anläßlich der Jahrestagung dieses Verbandes. Als Redner waren Außenminister Ismail Cem, als Gäste wir Europaabgeordnete eingeladen.
Die Rede von Cem war konstruktiv und hoffnungsvoll, wobei er durchaus darauf hinwies, daß die Verhältnisse in der Türkei heute andere sind als noch vor drei, vier oder fünf Jahren: Die Regierung hat eine klare Mehrheit im Parlament, die Kurdenproblematik wiegt weitaus weniger schwer als zuvor, mit Syrien gibt es heute nicht Konfrontotaion, sondern Zusammenarbeit, es konnte verhindert werden, daß russische Raketen auf Zypern stationiert werden und die wirtschaftliche Lage insgesamt hat sich deutlich verbessert.

Darüber hinaus gab es ja vor kurzem eine Grundsatzvereinbarung unter Beteiligung der Amerikaner, die Pipeline zum türkischen Hafen Cehan zu bauen, obwohl diese Pipeline weitaus höhere Kosten verursacht als die andere Linie, die den Russen besser gefallen hätte, die allerdings das schwarze Meer und den Bosporus durch den Schiffsverkehr weitaus stärker belasten würde.

„Moderner“ Islam

Nach dem Mittagessen ging es wieder ins Parlament zurück, wo uns Recai Kutan, der Vorsitzende der islamistischen Partei FASILET, erwartete.

Kutan versucht, soweit es geht, die islamistische Partei zu modernisieren, sie mit dem Gebot der Trennung von Staat und Religion vertraut zu machen und sie zu verändern, wobei er allerdings auch keinen übermäßigen Einfluß des Staates auf die Religion und das individuelle Verhalten der einzelnen Bürger – seien sie streng gläubig oder nicht – will. Seine Partei möchte das Individuum, den einzelnen Menschen stärken, und auch seine Rechte – zum Beispiel das Recht, ein Kopftuch zu tragen, auf der Universität oder in öffentlichen Gebäuden. Interventionen des Staates, die das verbieten, lehnt Kutan ab.

Von der Europäischen Union erwartet er sich in diesem Sinn eine Garantie dieser individuellen Rechte, eine generelle Durchsetzung der Menschenrechte – auch des Menschenrechts auf religiöse Praxis und die Ausübung der Religionsfreiheit.
Die FASILET-Partei ist außerdem die erste Partei, die auch einen umfassenden Verfassungsvorschlag ausgearbeitet hat: gemäß europäischen Normen, mit einer modernisierten Rolle der Gerichte und des Militärs. Und sie versucht, mit anderen Parteien darüber Gespräche zu führen – falls sie nicht per Gerichtsbeschluß zwischenzeitlich verboten wird als eine Partei, die gegen die Verfassung verstößt.

Yilmaz for president?

Nach Kutan, der von einigen Parlamentariern und Persönlichkeiten begleitet wurde, die ich schon aus früheren Begegnungen kannte, ging es zu Mesut Yilmaz, dem früheren Parteivorsitzenden und jetzigen Vorsitzenden der Mutterlandspartei. Yilmaz war derjenige, der sehr stark auf die Anerkennung der Europäischen Union der Kandidatur der Türkei in Luxemburg gehofft hatte und extrem von der formellen Nicht-Anerkennung enttäuscht war. Und Yilmaz war derjenige, der Kohl heftig beschimpft hat und der die Türkei in eine gewisse Isolation bzw. Distanz von der EU geführt hat, aber schließlich auch nicht die Wahlen gewinnen konnte.

Yilmaz machte in unserem Gespräch, das auf Deutsch geführt wurde, einen sehr klaren, bestimmten Eindruck. Seine Sprache war sehr gemäßigt und kooperativ. Und man merkte ihm an, daß er durchaus noch weitere politische Schritte vorhat – auch, was ihn persönlich betrifft. Auf meine Frage, ob er Präsident des Landes werden wolle, wie es in den Zeitungen zuletzt kolportiert wurde, meinte er einfach nur: No comment.

Aber nach all seinen Worten schien es eine klare Strategie zu geben: Anerkennung der Türkei als Kandidat, Reformen in der Türkei inklusive der politischen Lösung der Kurdenfrage und eventuell die Verlängerung der Präsidentschaft Demirels auf einige Jahre per Parlamentsbeschluß, schließlich die Kandidatur von Yilmaz, um der neue Präsident zu werden. Wenn er das hält, was er uns an Visionen für die Türkei vermittelt hat, könnte er ein durchaus erfolgreicher Präsident werden. Aber da steht noch vieles in den Sternen.

Modernisierung des Rechtssystems

Von Yilmaz ging es direkt zum Präsidenten des Appellationsgerichtshofes, Sami Selcuk. Selcuk ist durch eine Rede bekannt geworden, dir er vor kurzem vor den höchsten Repräsentanten des Staates gehalten hat. In dieser Rede hat er die groben und großen Mängel der Demokratie in der Türkei kritisiert und aufgerufen, wesentliche Veränderungen im demokratischen Gefüge und Aufbau der Türkei vorzunehmen.

Selcuk ist ein überaus sympathischer Mann, der es versteht, sich gut öffentlich zu präsentieren. Bei dem Treffen mit ihm waren so wie bei allen anderen Gesprächen Dutzende von Fernsehkameras und Medienvertretern anwesend, was zeigt, daß auch Selcuk an einer entsprechenden Öffentlichkeit interessiert ist.

Selcuk geht es um die Modernisierung des gesamten Rechtssystems, um mehr Freiheitsrechte und um die Abschaffung der Todesstrafe. Er meinte in diesem Zusammenhang, daß auch innerhalb des Militärs viele an den notwendigen Veränderungen in der Türkei interessiert wären und diese gar nicht verhindern wollen.
Selcuk scheint auch gute Beziehungen zur islamistischen Partei zu haben, denn er verwies auf den Verfassungsentwurf dieser Partei und hat die Gefahr einer islamistischen Radikalisierung zurückgewiesen. Die Partei bekam selbst in ihren besten Zeiten nie mehr als 21 Prozent, und diese Unterstützung erhielt sie primär nicht aus religiösen, sondern aus sozialen Gründen.

Veränderung im Inneren

Unser letzter Gesprächspartner – abgesehen von den Parlamentariern, die wir am Abend bei einem Essen im Parlament trafen – war Mehmet Ali Irtemcelik. Er ist, wie eingangs schon erwähnt, sowohl Minister für europäische Fragen als auch für Menschenrechte.
Irtemcelik hat klare Vorstellungen vom Ausbau der Menschenrechte und möchte eine entsprechende Institution im Büro des Ministerpräsidenten schaffen. Er ist bereits für seine Haltung gegen die Todesstrafe bekannt geworden. Darüber hinaus hat er als erster Minister die Menschenrechtsorganisationen zu Gesprächen und auch zur Mitarbeit eingeladen.
Aber so eindeutig er für die Menschenrechte eintrat, so klar vermittelte er, daß nur dann ein Angebot der EU auf Anerkennung der Kandidatur für die Türkei akzeptabel sei, wenn es keine unangemessenen Forderungen, zum Beispiel hinsichtlich Zypern, gäbe.

Irtemcelik drückte klar aus, daß die Türkei im Inneren Veränderungen durchführen muß – ob mit oder ohne die Europäische Union. Aber so wie eigentlich alle vor ihm, machte er uns klar, daß es mit der EU weitaus leichter und schneller gehen würde als ohne sie. Wobei die Europäische Union in diesem Zusammenhang als Partner im Zuge einer Vorbeitrittsstrategie gemeint war und nicht schon als eine Europäische Union, die die Türkei als Mitglied hat.

Jetzt ist die Türkei am Zug

Die Gespräche, die wir heute geführt haben, haben doch ein ziemlich deutliches Bild ergeben: Eine politische Regierung, die viel gelernt, die stark europaorientiert ist, die weiß, daß es viele Veränderungen geben muß, die weiß, daß der Weg nach Europa lange und mühsam sein wird, und die im wesentlichen auch weiß, daß die Europäische Union bei der Erfüllung auch helfen kann, aber die Türkei aus eigener Überzeugung, aus eigenem Interesse handeln muß. Sie gab aber auch ein Bild, das noch sehr in groben Konturen gemalt war, wo eigentlich niemand so recht wußte, wie die nächsten Schritte im Fall einer positiven Entscheidung in Brüssel seitens der Türkei aussehen könnten.

Denn es ist allen klar geworden, daß meine ursprüngliche Idee aus meinem Türkei-Bericht für das Europaparlament – ein schrittweiser, gemeinsamer Prozeß zwischen EU und Türkei, bei dem auf den einen Schritt des einen jeweils ein Schritt des anderen folgt – ein sinnvoller Weg ist. Auch wenn die Europäische Union durch den Europäischen Rat in Helsinki morgen und übermorgen den ersten Schritt zur Anerkennung der Türkei als Kandidat setzen würde, muß die Türkei die nächsten Schritte tun – gemeinsam mit der EU, in Absprache mit der EU, mit Unterstützung der EU. Aber es ist eben die Türkei, die jetzt am Zug ist. Und es ist auch die Türkei, die hier noch zu wenig Ahnung hat, was zu tun ist.

Der frühere Ministerpräsident Yilmaz meinte in seinem Gespräch mit uns: „50% der Bevölkerung sagen inzwischen, es gibt ein Kurdenproblem. Aber der Staat, die politischen Instanzen und Persönlichkeiten, können das noch nicht deutlich sagen und können auch keine Lösungen anpeilen.“ Aber so wie in der Kurdenproblematik wird es auch in anderen heiklen Bereichen notwendig sein, daß die Türkei über die Dinge spricht, über sie diskutiert, gesetzliche Lösungen findet und die Gesetze auch umsetzt. Nicht nur, um sich Europa zu nähern, sondern auch um eine tragfähige und moderne Grundlage für die Gesellschaft in der Türkei zu schaffen.

Am zweiten Tag unseres Türkei-Aufenthaltes hatten wir Gespräche mit Vertretern der Menschenrechtsorganisationen, unter ihnen war auch der mir schon gut bekannte Akin Birdal. Wir fragten sie nach der Lage in der Türkei und nach ihren Hoffnungen, und sie waren nicht sehr optimistisch, daß sich die Dinge unmittelbar verbessern würden.

Aber auch sie waren der Meinung, die Türkei sollte den Status eines Kandidaten bekommen, um auf dieser Basis Verbesserungen in der Menschenrechtslage zu erzielen. Wir diskutierten lange und ausführlich über Möglichkeiten der Amnestie für politische Gefangene. Wobei die Frage, wer ein politisch Gefangener ist und wer ein Gefangener, der aufgrund einer bloßen kriminellen Handlung im Gefängnis sitzt, ist, natürlich sehr unterschiedlich ausgelegt werden kann – vor allem in der Türkei.

Berechtigte Hoffnung

Viele setzen Hoffnungen in unsere Arbeit und insbesondere in die Arbeit von Daniel Cohn-Bendit, der natürlich als alter Revolutionär der 68er Jahre und jetzt als Vorsitzender der Türkei-Delegation des Europaparlaments entsprechend bekannt ist, von den Fernsehkameras auch hier verfolgt wird und dessen Wort jedenfalls in der Welt der Medien – ein großes Gewicht hat. Man merkte das übrigens auch bei den Pressekonferenzen, die gut besucht waren und bei denen Cohn-Bendit natürlich im Mittelpunkt stand. Aber es diente letztlich der Sache – der Sache, daß sich Europa für die Türkei, für die Menschen in der Türkei, für die Menschenrechte in der Türkei engagiert.

Ich hoffe sehr, daß alle diese Botschaft auch verstanden haben: die Parlamentarier, mit denen wir an diesem zweiten Tag einen Meinungsaustausch hatten und wo die zukünftige Arbeit vorprogrammiert wurde, aber natürlich auch die Beamten, die Medienvertreter und die Bevölkerung allgemein. Es wird nicht leicht werden, selbst wenn es eine positive Entscheidung für die Türkei geben wird. Niemand weiß es heute, ob sie kommen wird. Die nächsten Tage werden es zeigen. Aber noch nie hat es so viel Hoffnung in der Türkei gegeben, daß es gut gehen kann.

Ankara, 8. bis 9.12.1999