Herausforderung Kosovo

Die Frage, ob der Kosovo unabhängig wird oder nicht, ist äußerst heikel.
Gestern Abend bin ich nach Belgrad geflogen. Wozu diese Reise?

Ahtisaari-Vorschläge

In den vergangenen Tagen wurden von Martti Ahtisaari die Pläne für den Kosovo veröffentlicht. Sie beinhalten verschiedene Vorschläge darüber, wie die zukünftige Struktur im Kosovo gestaltet sein sollte. Einerseits soll der Mehrheit die Möglichkeit gegeben werden, die wesentlichen Entscheidungen zu treffen. Andererseits soll aber auch sichergestellt sein, dass die Minderheit ihre lokalen und regionalen Angelegenheiten weitgehend autonom verwalten kann und auch ein deutliches Mitspracherecht hinsichtlich der politischen Entwicklung des Landes hat.
Die Vorschläge von Ahtisaari vermeiden den Begriff Unabhängigkeit. Und das ist richtig so. Die Frage, ob ein Land unabhängig wird oder nicht ist ja nicht Angelegenheit eines Sonderbeauftragten. Niemand kann von außen Unabhängigkeit bewirken. Der Kosovo ist keine Kolonie, sondern rechtlich nach wie vor ein Teil Serbiens – wenngleich diese Kontrolle Serbiens über den Kosovo durch einen UNO-Beschluss de facto aufgehoben und der Internationalen Gemeinschaft, vertreten eben durch die UNO, übertragen worden ist.

Meinungsverschiedenheiten

Die Frage, ob der Kosovo jetzt unabhängig wird oder nicht, ist äußerst heikel. Jedenfalls ist dies weder durch den UNO-Sonderbeauftragten Ahtisaari noch durch die Europäische Union oder die UNO selbst zu klären. Sollte der sich der Kosovo für unabhängig erklären, dann erst stellt sich die Frage, ob das von der Internationalen Gemeinschaft und der Europäischen Union anerkannt wird.
Vor diesem Hintergrund ist es im Rahmen einer parlamentarischen Diskussion im außenpolitischen Ausschuss auch zu entsprechenden Meinungsverschiedenheiten gekommen. Der Berichterstatter für den Kosovo und von mir durchaus geschätzte grüne Abgeordnete Joost Lagendijk hat gleich am Anfang seines Berichtes festgestellt, dass wir beschließen sollten, dass das Europäische Parlament die Auffassung unterstützt, dem Kosovo die Unabhängigkeit zu gewähren, dass dabei aber für einen gewissen Zeitraum gleichzeitig seine Souveränität durch eine internationale Präsenz begrenzt werden sollte.

Das „U-Wort“

In Lagendijks Bericht war also das sogenannte U-Wort, nämlich die Unabhängigkeit, gleich als erster Punkt angeführt, bevor noch über andere Dinge gesprochen worden ist. Ich persönlich bin der Meinung, dass an der Unabhängigkeit des Kosovo kein Weg vorbei führt. Gleichzeitig bin ich aber auch davon überzeugt, dass man mit hoher Sensibilität an diese Frage herangehen und danach trachten muss, die Gefühle der Serben im Kosovo selbst, aber auch in Serbien, zumindest zu berücksichtigen.
Es ist schwierig, einem Land einen Teil seines Territoriums wegzunehmen. Wenn wir von der Minderheit der Serben im Kosovo sprechen, dann setzen wir eigentlich bereits voraus, dass der Kosovo unabhängig ist. Tatsächlich sind ja die Kosovo-Albaner eine Minderheit in Serbien. Aufgrund der Geschehnisse in der Vergangenheit, insbesondere unter Milosevic, ist es aber kaum vorstellbar und wäre auch für Serbien nicht wirklich von Vorteil, würde der Kosovo bei Serbien bleiben. De facto würde es permanent zu Problemen, Zwistigkeiten und Streitereien kommen und es wäre nicht damit zu rechnen, dass der Frieden in dieser Region wiederhergestellt werden kann.

Stimmenzuwachs für die Demokratische Partei

Trotzdem muss man erkennen, dass es nicht ohne weiteres möglich ist, einem Land eine seiner Regionen wegzunehmen – selbst wenn dieses Land bzw. seine politischen Führer in der Vergangenheit Fehler begangen haben. Genau das war auch der Grund, warum wir mit den serbischen Vertretern persönlich sprechen und herausfinden wollten, wie wir ihnen helfen können, in diesem Prozess zu bestehen. Wir haben unsere Freunde von der Demokratischen Partei angerufen und um entsprechende Treffen gebeten, nicht zuletzt mit Präsident Boris Tadic, der nach wie vor auch Vorsitzender der Demokratischen Partei ist.
Die Demokratische Partei hat bei den letzten Wahlen deutlich zugelegt. Die stärkste Partei stellen aber noch immer die Radikalen unter Vorsitz von Vojislav Seselj, der ja selbst im Internationalen Strafgerichtshof einsitzt. Trotzdem ist es sehr erfreulich, dass die Demokratische Partei klare Stimmenzuwächse verzeichnen konnte.

Nach den Wahlen

Die zweitstärkste Gruppierung besteht aus der DSS von Vojislav Kostunica und einer weiteren Partei, die sich ihr angeschlossen hat. Dieses Bündnis hat weniger Stimmen erhalten als das letzte Mal, obwohl es aus zwei Parteien zusammengesetzt war. Erfreulich ist, dass auch die Partei G17 Plus von Mladan Dinkic wieder ins Parlament gekommen ist. Es handelt sich zwar um eine wirtschaftliberale, aber weitgehend fortschrittliche Gruppierung, die an einem europäischen Serbien interessiert ist. Außerdem sind noch einige Minderheitenvertreter im Parlament vertreten, unabhängig von der Größe ihrer Partei. Auch eine liberaldemokratische Partei, die sich unmissverständlich zur Unabhängigkeit des Kosovo bekennt, sitzt im Parlament. Ebenso wie die ehemaligen und auch jetzigen Milosevic-Anhänger, die sogenannte Sozialistische Partei Serbiens.
Im Wesentlichen gibt es aufgrund dieses Wahlergebnisses zwei Koalitionsvarianten: Zum einen kann die Demokratische Partei mit der Partei von Kostunica sowie mit G17 Plus und eventuell kleinen Minderheitsvertretungsparteien eine Regierung bilden. Zum anderen kann aber auch die Partei von Kostunica mit der serbischen Radikalen Partei von Vojislav Seselj zusammengehen. Letztere Gruppierung darf allerdings auf keinerlei Unterstützung in Europa hoffen. Ihr Zustandekommen würde eine Unterbrechung der Annäherung Serbiens an die Europäische Union bedeuten.

Willkommener Besuch

Der Hintergrund unserer Reise nach Belgrad sind also die Wahlen, die am 21. Jänner stattgefunden haben, der Vorschlag von Ahtisaari, der zu Beginn dieser Woche in Belgrad übergeben worden ist und die aktuelle Diskussion über den sogenannten Lagendijk-Bericht zum Kosovo. Vor allem die Tatsache, dass der vorliegende Berichtsentwurf des Kollegen Lagendijk bereits für Unruhe gesorgt hat, hat dazu geführt, dass wir in Belgrad willkommen waren. So haben sich nicht nur die serbischen Vertreter, sondern zum Teil auch aktive EU-Diplomaten mit uns in Verbindung gesetzt. Ich traf den österreichischen Botschafter gleich heute Früh, und mit dem holländischen Botschafter haben wir nachmittags ein Gespräch geführt.
Selbstverständlich haben wir auch den äußerst versierten und entgegenkommenden Vertreter der Europäischen Kommission, Josep Loveras, getroffen. Er berichtete uns über den gestern stattgefundenen Besuch der Troika – Javier Solana, Außenminister Steinmeier und EU-Kommissar Oli Rehn. Nicht zuletzt sprachen wir auch mit einem Vertreter der deutschen Botschaft, die derzeit die Präsidentschaft vertritt. Die Berichte waren durchwegs positiv. Wir erfuhren, dass die Parteien beschlossen haben, nach dem Zusammentreten des Parlaments hoffentlich kommende Woche auch eine Delegation mit Mandat nach Wien zu schicken, um über Details der Vorschläge von Ahtisaari zu sprechen.

Bei Präsident Boris Tadic

Zu Mittag trafen wir dann Boris Tadic, den Präsidenten der Republik Serbien, den ich seit vielen Jahren gut kenne. Tadic schilderte einerseits die schwierige politische Situation für Serbien, eine Regierung zu bilden, weil Kostunica unter allen Umständen Premierminister bleiben möchte, obwohl er eigentlich zu den Wahlverlierern zählt. Das wäre für Tadic aber durchaus akzeptabel.
Andererseits ist Kostunica in seiner Partei wie bei den WählerInnen extrem unbeliebt. Er gilt als Verräter der Modernisierung und des Fortschritts Serbiens in unzähligen Fragen, nicht zuletzt hinsichtlich der Zusammenarbeit mit Den Haag. Diese Situation hat mich sehr an Österreich und die äußerst negative Stimmung in SPÖ-Kreisen gegenüber dem früheren Bundeskanzler Schüssel erinnert.

Schwierige Ausgangslage

Hinzu kommt, dass die G17 Plus in erster Linie den Finanzminister anstrebt. Dinkic hat ja dieses Amt ausgeübt. Eine Regierung unter Führung der Demokratischen Partei zu gründen, bei der weder der Premier- noch der Finanzminister dieser Partei angehören, wird allerdings nahezu unmöglich sein. Vor diesem Hintergrund ist es für Tadic mehr als fraglich, wie eine Koalition zustande kommen soll – auch wenn er als Präsident und Chef des Landes die Demokratische Partei sehr stark nach außen vertreten kann.
Hinsichtlich des Kosovo meinte Tadic, dass er als Präsident des Landes gar nicht anders kann als die Integrität Serbiens zu verteidigen und er deshalb die Unabhängigkeit des Kosovo nicht akzeptieren könne. Dennoch drängte er darauf, dass über gewisse Details, nicht zuletzt auch über die Rolle der Serben in Mitrovica, gesprochen wird. Außerdem bestätigte Tadic nochmals, dass es eine Delegation zu den Verhandlungen in Wien geben wird.

Pro-europäische Regierung

Am Nachmittag hatte der Botschafter der Niederlande in einem Gespräch mit uns gemeint, wir müssten in erster Linie Rücksicht auf Serbien nehmen und darauf drängen, dass eine Regierung zustande kommt, auf deren Prioritätenliste die europäische Agenda ganz oben stünde und die vor allem auch die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof fördert. Das ist eine Voraussetzung für die Wiederaufnahme von Verhandlungen bezüglich des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens.
Der Botschafter mahnte zu größerer Vorsicht in der Kosovofrage und sprach sich für ein langsames Herantasten aus. Nur so kann aus seiner Sicht sichergestellt werden, dass in Serbien eine pro-europäische Regierung zustande kommt, mit deren Kooperation auch der vermeintliche Kriegsverbrecher Mladic nach Den Haag ausgeliefert werden kann.

Gründungsmythos

Die Klärung der Kosovofrage ist in der Europäischen Union in der Tat nicht ganz unbestritten. Einige Länder – von Spanien bis Rumänien – fürchten, dass es zu Abspaltungstendenzen in ihren eigenen Ländern kommen könnte. Andere wieder meinen, die Russen würden dies als Argument heranziehen, um ihre separatistischen Bewegungen in Transnistrien und Georgien, im Konkreten in Abchasien und Südosetien, zu fördern.
Es muss nochmals betont werden: Einem Land de facto eine derart große Region wie den Kosovo wegzunehmen, ist keine leichte Aufgabe. Noch dazu, wenn es sich um eine Region handelt, die mit der Schlacht am Amselfeld den Gründungsmythos für Serbien selbst beinhaltet und in der zentrale orthodoxe Klöster und Heiligtümer liegen.

Verfahrene Situation

Am Abend führten wir ein ausführliches informelles Gespräch mit zwei Abgeordneten der Demokratischen Partei, Milos Zevcic und Oliver Dulic. Dulic stellte dabei die Frage, warum eigentlich auf der einen Seite dem Kosovo nicht der Norden, insbesondere der von Serben bewohnte Teil Mitrovica, weggenommen werden kann, wenn auf der anderen Seiten Serbien der gesamte Kosovo weggenommen werden kann. Ich antwortete ihm, dass in diesem Fall die Serben in der Republika Srpska in Bosnien-Herzegowina fragen werden, warum nicht auch sie weggehen können, wenn sich der Kosovo abtrennen darf.
Ingesamt ist die Situation ziemlich verfahren. Und es gibt keine klare und eindeutige Regel, nach der man eine Veränderung bzw. Abspaltung zulässt und eine andere verweigert. Realpolitisch gibt es aus meiner Sicht keine andere Möglichkeit, als dem Kosovo die Möglichkeit zu geben, unter den im Ahtisaari-Plan angeführten Voraussetzungen, ergänzt um einige Verbesserungen für die Serben, wegzugehen. Das darf aber keinesfalls eine heillos chaotische Situation in der Region selbst nach sich ziehen, bei der die Integrität von Bosnien-Herzegowina in Frage gestellt wird und möglicherweise bestimmte Kräfte in Mazedonien den "albanischen Teil" aus Mazedonien abspalten wollen. Es bedarf in diesem Sinn immenser Sorgfalt und Einmütigkeit, um eine neue unkontrollierbare Entwicklung zu verhindern.

Belgrad, 8.2.2007