Identitätssuche

Sollte es überhaupt zu einem EU-Beitritt der Türkei kommen, so kann dieser erst in etlichen Jahren funktionieren. Es gilt zu bewerten, ob und wie sich die Türkei verändert und ein besseres Image der Türkei in Europa zu verankern.
Die äußerst erfolgreiche türkische Zeitung Zaman hat mich über ihren Brüsseler Korrespondenten nach Istanbul eingeladen, die dortige Redaktion zu besuchen und einige Gespräche und Interviews zu führen. So bin ich am Freitag nach Istanbul geflogen.

Widersprüchliche Situation

Besagter Brüsseler Korrespondent hat mich terminlich voll eingeteilt. Ich hatte ihn darum gebeten, wenigstens am Sonntagvormittag die Stadt selbstständig besichtigen zu können. Zaman ist eine islamisch konservative Zeitung. Sie unterstützt im Grundsatz die Regierung in ihrem Bemühen, die Verhältnisse in der Türkei zu demokratisieren und europäische Standards zu erlangen, gleichzeitig aber auch die Religionsfreiheit,z.B das Tragen eines Kopftuches an den Universitäten insbesondere für die Muslime, entsprechend zu erhöhen.

In der Türkei besteht derzeit eine eigenartige Situation: Auf der einen Seite befürworten die Republikaner bzw. Kemalisten, also die Anhänger von Kemal Atatürk, die strenge Trennung zwischen Religion und Kirche, ja sogar eine gewisse Kontrolle der Religion, d.h. staatliche Ausbildung der Imame, etc. – mit dieser Betonung des sekulären Staates geht aber eine sehr autoritäre, nationalistische Orientierung einher. Auf der anderen Seite hat sich eine islamisch orientierte Partei gebildet, die allerdings kein politisches, islamisches Programm hat, sondern den Islam aus der Kontrolle durch den Staat herausnehmen möchte und zugleich auch den anderen Religionen beispielsweise die Ausbildung der Priester, der Religionslehrer im Grundsatz erlauben möchte.

Groteske ums Kopftuch

In diesem Sinn tritt die Partei der jetzigen Regierung, also die AKP unter Ministerpräsident Erdogan, für mehr Liberalität, mehr Öffnung und mehr Demokratie ein und lehnt auch grundsätzlich eine streng nationalistische Orientierung ab. Trotzdem muss sie sich in der Praxis zum Teil anpassen, weil eine strenge nationale Orientierung bekanntlich von den Militärs und auch von den Gerichten, allen voran dem Verfassungsgerichtshof, entsprechend gefördert wird. So hat etwa der Verfassungsgerichtshof am Tag vor meiner Ankunft in Istanbul die Regelung abgelehnt, dass Frauen in Zukunft auf den Universitäten Kopftücher tragen dürfen – eine Groteske.

Eine junge engagierte Journalistin, die selbst kein Kopftuch trägt, hat mich in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, dass in der Türkei vor allem Frauen aus ärmeren Schichten Kopftuch tragen. Jenen Schichten, denen die Möglichkeit offen steht, die Uni zu besuchen, ist jedenfalls ab dem Moment, wo sie auf die Uni betreten, untersagt, ein Kopftuch zu tragen. Das Ganze ist nicht durch ein Gesetz geregelt, sondern durch eine Direktive gewisser grundsätzlicher gesetzlicher Bestimmungen hinsichtlich der Kleidervorschriften an den Universitäten.

AKP-Verbot?

Es war nicht sehr geschickt – und das geben auch viele zu -, dass die neue Regierung sich auf diese Frage konzentriert und die Frage des Kopftuchs nicht in das Gesamtprogramm der verstärkten Liberalität eingebracht hat. Unabhängig davon handelt es sich aus meiner Sicht um eine politische Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes, der inzwischen auch die Klage zur Verhandlung zugelassen hat, mit der die AKP Partei insgesamt verboten werden soll.

Meine Gesprächspartner in Istanbul waren im Grundsatz einer Meinung: Das Erkenntnis über die Zulässigkeit, das Kopftuchverbot an den Unis aufzuheben, ist eigentlich ein Signal in Richtung eines Verbotes der AKP bzw. eines Funktionsverbotes für führende Kräfte, eventuell für Ministerpräsident Erdogan selbst. Ich habe in diesem Zusammenhang auch ein ausführliches Gespräch mit dem früheren Parlamentspräsidenten geführt, der jetzt vor allem im Bereich der Schwarzmeeraktivitäten im türkischen Parlament eingesetzt ist. Er meinte hingegen, er könne sich nicht vorstellen, dass es zu einem Verbot der AKP kommen wird.

Konservativ, aber offen

Mein Aufenthalt war gespickt von verschiedenen Interviews: Zwei jeweils halbstündige Interviews für zwei verschiedene Fernsehkanäle, natürlich ein ausführliches Interview mit der Zeitung Zaman selbst – der türkischen wie der der englischen Ausgabe – und Diskussionen mit dem Chefredakteur und zahlreichen JournalistInnen.

Interessant war dabei für mich, dass Zaman eine Konzeption vertritt, die, wie schon erwähnt, an den Grundwerten einer konservativen Gesellschaft orientiert ist, was die Familie, die geschlechtlichen Verhältnisse, etc. betrifft und den Islam als tragende Religion in der Türkei respektiert, dass es sich aber nicht um eine Islamisierung im Sinne eines Gottesstaats oder des Zwanges, Kopftücher zu tragen, handelt. In der Redaktion selbst tragen nur einige wenige Mitarbeiterinnen Kopftücher. Und alle Frauen, die mir von Zaman als Gesprächspartnerinnen vermittelt wurden, haben sich zwar vehement für das Recht eingesetzt, ein Kopftuch zu tragen, trugen aber selbst keines.

Kritische Vielfältigkeit

Besonders spannend war ein Abend, an dem wir gemeinsam mit den Chefredakteuren und einigen Journalisten eine Diskussion mit einer jungen Frau geführt haben. Sie ist Kommunikationschefin eines Unternehmenskonzerns der Bauwirtschaft, produziert aber auch Fernsehsendungen für einen Sender, der diesem Bauunternehmen gehört. An der Diskussion nahm außerdem eine junge kurdische, alevitische Schriftstellerin teil, die viele Kommentare für Zaman verfasst und die aus einer alten ursprünglich jüdischen Familie stammt, die schon vor langer Zeit zum Islam übergetreten ist. Es war offensichtlich, dass sich alle in diesem Kreis gut kannten.

Zweifellos wollte Zaman mir dadurch die Vielfältigkeit der Türkei und die Offenheit jener Gruppierungen, die kritisch, aber doch unterstützend der Regierung von Ministerpräsident Erdogan gegenüberstehen, demonstrieren. Die einzelnen VertreterInnen agieren natürlich fortschrittlicher als die Regierung – so zum Beispiel ein berühmter und äußerst interessanter Kommentator, der Armenier ist. Ich habe also in diesen wenigen Tagen auf Vermittlung von Zaman eine sehr differenzierte Türkei kennengelernt, mit ganz unterschiedlichen Vorstellungen, Ideen und ethnischer Vielfältigkeit. Und zwar nicht in der Person von „Alibikurden“ oder „Alibiarmeniern“, sondern durch Menschen, die in ihrer Sache unglaublich engagiert auftreten und agieren. Das gilt insbesondere für jene kurdische Schriftstellerin bzw. Dichterin, die sich sehr vehement für die Angelegenheit der Kurden eingesetzt hat. Etwas Vergleichbares habe ich in einer derartigen Konstellation eines von gemäßigt islamorientierten Medien organisierten Zusammentreffens in der Türkei bisher noch nicht erlebt.

Problem CHP

Ein großes Problem in der Türkei besteht aus meiner Sicht darin, dass die CHP – jene Partei, die nach wie vor der Sozialistischen Internationale angehört – keinen Zugang zu dieser Vielfältigkeit im Land findet und stattdessen in den vergangenen Monaten eine engstirnige, nationalistische Haltung an den Tag gelegt hat, wenn wir seitens unserer Fraktion, in erster Linie Jan Marinus Wiersma und ich selbst als politisch Verantwortliche, das Gespräch mit ihr gesucht haben. Diese Haltung hat unser Verhältnis zur CHP extrem getrübt bzw. eigentlich unterbrochen.

Zwar hat dieser Tage der langjährige Vorsitzende Deniz Baykal im kurdischen Gebiet in Südostanatolien einige positive Erklärungen abgegeben. Und sein Stellvertreter hat erst kürzlich bei einem Besuch im Europäischen Parlament Jan Marinus Wiersma und mir Dialogbereitschaft signalisiert. Trotzdem sind wir insgesamt zutiefst enttäuscht von der CHP, weil sie die Trennung von Religion und Staat dermaßen stur vertritt. Das ist heute nicht mehr zeitgemäß und bedeutet eigentlich eine Einschränkung der persönlichen Freiheit, die auch innerhalb der Türkei immer weniger Zustimmung bekommt.

Dialog beginnen

Wie gesagt: Das Kopftuch ist nicht grundsätzlich verboten. Es ist für gewisse Gesellschaftsschichten, für die Intellektuellen auf den Universitäten verboten, nicht aber für die Putzfrau oder nicht für eine Angestellte im Haus. Darin spiegelt sich schon ein bisschen eine elitäre Auffassung wider, die genau von jenen vertreten wird, die diese Regelung, die keineswegs auf Atatürk zurückgeht, sondern die relativ neu ist und nach einem Militärputsch eingeführt wurde, befürworten. Hier bedarf es eines neuen Zugangs. Selbst wenn es in großem Ausmaß dem Bedürfnis der türkischen Gesellschaft entsprechen würde, den Islam stärker zum Ausdruck zu bringen, so könnte man das nicht durch Sicherheitskräfte, das Militär oder gesetzliche Regelungen verbieten.

Viel wichtiger sind starke Argumentationen der säkularen Kräfte. Derzeit besteht eine große Kluft, ein fast nichtvorhandener Dialog zwischen den verschiedenen Kräften in der Türkei. Das schafft massive Probleme für die Türkei selbst und wirkt sich zugleich auch auf das Verhältnis zu Europa aus – insbesondere dann, wenn eine Regierungspartei verboten und damit allen WählerInnen nachträglich das Wahlrecht geraubt wird. Dennoch oder gerade deswegen wollen wir den Dialog mit der CHP wieder aufnehmen und sie dazu bewegen, sich kompromissbereiter und gemäßigter in das politische Geschehen einzubringen.

Verhältnis Türkei-Europa

Immer wieder kam bei meinem Besuch in Istanbul natürlich auch das Verhältnis der Türkei zu Europa zur Sprache. So sehr Europa überzeugt ist, dass vieles in der Türkei „schiefläuft“, so sehr ist die Türkei enttäuscht darüber, dass sie in Europa derart diskriminatorisch, derart negativ behandelt wird. In diesem Zusammenhang wurde allen voran Frankreich genannt, aber auch immer wieder Österreich.

Ich habe versucht zu vermitteln, dass die Türkei nur äußerst selektiv wahrgenommen wird. Einerseits über die ärmeren, weniger ausgebildeten Schichten, die in unseren Ländern arbeiten und andererseits über die Enklaven im Urlaub. Die Türkei in der Vielfältigkeit ihrer Gesellschaft wird für den durchschnittlichen Bürger nicht sichtbar. Gerade in Istanbul ist diese Vielfältigkeit viel stärker spürbar als in anderen Regionen. Ich habe auch versucht zu verdeutlichen, dass es sich um einen langfristigen Prozess handelt, der nicht von heute auf morgen erfolgen kann.

Nicht von heute auf morgen

Ein vehementer Verfechter des EU-Beitritts der Türkei, der auch etliche profunde Analysen über das Verhältnis der Türkei zu Europa verfasst hat, gab mir Recht. Er meinte, wichtig sei es, ein Zieldatum zu setzen und nannte das Jahr 2023 – 100 Jahre nach der Gründung der Republik Türkei. Dieser Zeitrahmen scheint mir einigermaßen realistisch zu sein. Sollte es überhaupt zu einem EU-Beitritt der Türkei kommen, so kann dieser erst in etlichen Jahren funktionieren. Es gilt zu bewerten, ob und wie sich die Türkei verändert und ein besseres Image der Türkei in Europa zu verankern.

Sowohl Europa als auch die Türkei sind auf der Suche nach ihrer Identität. Und eine solche Identität zu entwickeln, ist alles andere als eine leichte Aufgabe. Aber genau diese Entwicklung gilt es jetzt abzuwarten. In diesem Sinn war ich angenehm überrascht über den Realismus des türkischen Europaexperten, der einer meiner zahlreichen Gesprächspartner in Istanbul gewesen ist.

Istanbul, 7.6.2008