Im größten Gebäude der Welt

Das rumänische Parlament ist das größte Gebäude der Welt, ein Symbol für den Größenwahn des früheren Diktators Ceaucescu. Sein Erbe ist für Rumänien noch heute eine schwere Bürde.
Ich befinde mich in jenem Gebäude, das die letzte „Großtat“ des Diktators Ceausescu darstellt.
Das rumänische Parlament ist das größte Gebäude der Welt – größer als das Pentagon, wie rumänische Politiker in einer Mischung aus Abscheu und Ehrfurcht, aus Grauen und Stolz nicht unterlassen zu betonen. Es ist wirklich groß und großmannsüchtig, vor allem die Gänge und Hallen vor den Versammlungsräumen und den Räumen der Parlamentarier. Es wurden teure und teuerste Materialien verwendet, wenngleich ausschließlich aus Rumänien, und es wurden viele – natürlich ebenso ausschließlich rumänische – Zwangsarbeiter eingesetzt.
Das Parlament thront wie eine Burg auf einem Hügel, rundherum neue Häuserzeilen mit Büros und Wohnungen, die ebenfalls erst nach der Zerstörung einer bestehenden städtischen Struktur errichtet werden konnten: Städtebau in einem Guß, von einem Diktator ohne Geschmack und Sensibilität erzwungen.

Anlaß meiner Reise war das „Mitteleuropakommitee“ der Sozialistischen Internationale, das in eben diesem Parlamentsgebäude tagte. Aber für mich ergab sich außerdem die Gelegenheit, Gespräche mit einigen rumänischen Parlamentariern und Spitzenbeamten zu führen – vor allem auch in Hinblick auf die angestrebte Mitgliedschaft in der EU. Die Rumänen haben nämlich das Ziel der EU-Mitgliedschaft nicht aufgegeben. Aber Gott sei Dank sie sind ein wenig realistischer geworden.
Die jüngsten Probleme haben ihnen die Schwierigkeiten im eigenen Land drastisch vor Augen geführt, insbesondere der Streik der Bergarbeiter. Zwar konnte er „beigelegt“ werden. Aber niemand weiß zum jetzigen Zeitpunkt, was vereinbart wurde und damit ist auch unbekannt, um welchen Preis die Vereinbarung mit den Bergarbeitern getroffen worden ist. Beunruhigend ist außerdem die Tatsache, daß Miru Cozma, der Anführer der Bergarbeiter, aus dem weit rechts stehenden großrumänischen Lager kommt. Genau so wie das Faktum, daß die „Ex-Kommunisten“ unter dem ehemaligen Präsidenten Iliescu zumindest für längere Zeit den Streik unterstützt haben.
So wie in anderen Kandidatenländern ist jedenfalls offensichtlich, daß die soziale Frage unterschätzt wurde – von der Regierung, vom Internationalen Währungsfonds, aber auch von der EU-Kommission.

Zu Mittag erzählte mir der rumänsiche Verkehrsminister, daß seit 1990 120.000 Eisenbahner entlassen worden sind, zuletzt 26.000 auf einen Schlag. Nur haben die Eisenbahner verschiedene Fertigkeiten, und sie sind auf ganz Rumänien verteilt. Die Stahlarbeiter und insbesondere die Bergarbeiter hingegen sind meist mit weniger breiten Fertigkeiten ausgestattet und leben vor allem regional stärker konzentriert. Daher auch ihr besonderer Unmut und die politische Ausnutzbarkeit!
Erst jetzt überlegt auch der Internationale Währungsfonds, soziale Programme zu gestatten bzw. anzuregen. Es geht sicher nicht darum, die Reformen der Wirtschaft zu stoppen, aber es ist eine Frage des Tempos und eine Frage der sozialen Begleitprogramme. Ich bin auch sehr froh, daß unsere Bruder- bzw. Schwesterpartei – die Demokratische Partei unter dem Senatspräsidenten Petre Roman – jetzt stärker die sozialen Aspekte in den Vordergrund rückt.

Die Demokratische Partei ist die stärkste Reformkraft im Lande – das wird von vielen so gesehen und anerkannt. Aber verschiedene Kräfte im Land – vor allem an den Rändern – nützen natürlich die klare Reformorientierung dieser Partei aus. Der rechte Rand, die „Großrumänen“, dürften bereits 20 Prozent der Wähler ausmachen. Nicht zuletzt betrifft diese Aussage auch die Partei des großen Rivalen von Petre Roman, Ion Iliescu.

Ich wurde im Rahmen meines Besuches eingeladen, Ion Iliescu in seinem Hauptquartier zu besuchen. Zuerst habe ich etwas gezögert, da ich die Freunde von der Demokratischen Partei nicht kränken wollte. Nachdem mir Vertraulichkeit – also keine Informationen über meinen Besuch bei Iliescu an die Medien – zugesichert worden war, nahm ich die Einladung an.
Iliescu war freundlich, aber auch hart in seiner Kritik an der Sozialistischen Internationale, die seine Partei nicht als Bruder- bzw. Schwesterpartei anerkennt, sondern der Demokratischen Partei und einer kleinen Sozialdemokratischen Partei den Vorzug gibt. Aber es wurde vor allem deutlich – ebenso wie in den Gesprächen mit Petre Roman – daß eine Verständigung zwischen diesen beiden Personen der Nach- Ceausescu-Zeit nicht möglich sein wird. Vor allem deshalb, weil Petre Roman den damaligen Präsidenten für seinen Sturz als Premierminister verantwortlich macht. Es ist die Ansicht vieler, daß Ion Iliescu die damaligen Streiks der Bergarbeiter dafür ausgenützt hat.
Was sicherlich schade ist, denn eine starke sozialdemokratische Bewegung in Rumänien, die Reformen durchführt, aber sich auch um die Opfer der Reformen und der Modernisierung kümmert, wäre sicherlich gut für dieses Land. Aber neben den persönlichen Hindernissen besteht sicherlich auch die Frage, ob die Anhängerschaft von Iliescu bereit ist, den grundsätzlichen Reformkurs mitzutragen. Es wäre jedenfalls einen Versuch wert, das herauszufinden.

Petre Roman war in seinen Reden und Gesprächen am Rande der Tagung ehrlich genug, die großen Schwierigkeiten auf dem Weg nach „Europa“ zu schildern. Vor allem drei Entwicklungen bereiten ihm besondere Sorgen: die wachsende Differenz zwischen der Produktivitätsentwicklung in Rumänien und der EU, die Fragmentierung der Gesellschaft, insbesondere die Zerstörung der Mittelklassen und die Entfremdung auch im kulturellen Bereich zu den Entwicklungen in Europa. Petre Roman hat offen und eindeutig die Probleme seines Landes angeschnitten und kritisiert sowie entsprechende soziale Reformen gefordert.
Auch meine anderen Gesprächspartner waren durchaus selbstkritisch. So wurde darauf hingewiesen, daß ein nicht zu unterschätzender Unterschied zwischen der Anpassung der rumänischen Gesetze an den EU-Standard und der tatsächlichen Anwendung bestehe. Dabei ist die Situation in den Gebieten, die zur ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie gehören, eindeutig besser. Sie sind an eine „modernen“ Rechts- und Verwaltungspraxis gewöhnt, und vor allem gibt es dort ein Grundbuch!

Die Ehrlichkeit und Offenheit, die mir meine Gesprächspartner entgegengebracht haben, habe ich jedenfalls durchaus geschätzt. Was den meisten meiner Gesprächspartnern gemeinsam war, war allerdings nicht nur ihre Offenheit, sondern auch die Kritik an der Visapflicht für jene Rumänen, die in die EU einreisen wollen.
Ich konnte ihnen keine Hoffnung machen, wenngleich eine flexiblere Handhabung vor allem bei Wirtschaftsvertretern, Journalisten, Wissenschaftlern etc. durchaus angebracht wäre. Gerade auch, um jene wachsende Kluft zwischen Rumänien und der EU, die Petre Roman beklagte, zu vermeiden.
Der starke Einwanderungsdruck nach Europa macht leider eine generelle Lockerung der Visapflicht nicht möglich – dennoch wäre eine vernünftige Handhabung durch die EU-Mitgliedsländer vertretbar und zielführend und würde ein akzeptables Entgegenkommen an Rumänien darstellen.

P.S.: Nur wenige Tage nach meinem Aufenthalt in Rumänien stand die Aufhebung der Visumspflicht für Rumänen und Bulgaren im Europäischen Parlament zur Diskussion. Bei der Abstiummung votierte ich demgemäß – schweren Herzens, aber mit Überzeugung – gegen die Abschaffung der Visumspflicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Man muß realist bleiben, auch wenn ich die Zeiten ohne Visumspflicht in Europa herbeisehne.

Bukarest, 5. Februar 1999