Im hohen Norden

Mit 1. Jänner 2001 übernimmt Schweden den Ratsvorsitz der Europäischen Union. Auf dem Arbeitsplan steht u.a. die EU-Erweiterung, bei der die Schweden auf einem sehr positiven Kurs sind.
Heute früh landete ich fast pünktlich in Stockholm. Meine Kolleginnen und Kollegen vom aussenpolitischen Ausschuss waren schon gestern gekommen und haben mit den Vertretern der zukünftigen schwedischen Präsidentschaft bereits ein erstes Gespräch geführt.
Ich kam gerade zurecht zum Treffen mit der schwedischen Außenministern Anna Lindh. Sie ist jung, durchaus sympathisch und gesprächsbereit – wenn auch manche ihrer Antworten vielleicht etwas zu allgemein und zu kurz gefasst ausfielen. Ich weiß aber, dass sie eine engagierte Aussenpolitikerin ist. Und ich hoffe, dass sie diese schwedische Präsidentschaft gut erfüllen wird.

Auf Erweiterungskurs

Die Themen, die wir diskutierten, reichten vom Balkan über den Nahen Osten bis zur Erweiterung der Europäischen Union. Was die Erweiterung betrifft, sind die Schweden auf einem sehr positiven Kurs. Sie kritisieren sogar zum Teil die Kommission als zu zögerlich und zu langsam. Manchmal sind sie allerdings etwas zu blauäugig. Aber dahinter steckt auch ein wenig die Bereitschaft, auf manche Vertiefung und Stärkung der Europäischen Union zu verzichten, um die Erweiterung voranzutreiben bzw. vielleicht sogar die Idee, die Erweiterung deshalb voranzutreiben, um eine Vertiefung und Stärkung der Europäischen Union zu verhindern. Auch die restriktive Haltung betreffend die Verankerung der Grundrechtscharta ist etwas, womit ich nicht übereinstimmen kann. Dass die Schweden hingegen verfassungsskeptisch sind, versteht sich von selbst, und das würde ich auch, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, akzeptieren.
Zu Mittag trafen wir Lena Hjelm-Wallen, die stellvertretende schwedische Ministerpräsidentin. Sie ist die Vorgängerin von Anna Lindh, und ich kenne sie von Besuchen in Schweden, von der gemeinsamen Teilnahme an den Vorstandssitzungen der Europäischen Sozialdemokratie und von so mancher Reise an den Balkan. Im Anschluss ging es zu Björn von Sydow, dem Verteidigungsminister. Auch ihn habe ich schon in Wien kennen gelernt, als er eine Delegation der Sozialdemokraten leitete, mit der wir über die Erweiterung sprachen.

Verteidigung für Europa

Das Thema Verteidigung war zum Zeitpunkt unseres Besuches in Schweden sehr aktuell. In dieser Woche hatten sich die Verteidigungsminister der Europäischen Union geeinigt, das Ziel für die Truppenaufstellung der EU auch umzusetzen. Österreich wird für die gemeinsame Truppe 2 000 Mann stellen. Spätestens mit dem Jahr 2003 soll es dann möglich sein, die Truppe kurzfristig einsatzfähig zu machen. Björn von Sydow meinte sogar, dass man versuchen werde, dieses Ziel früher zu erreichen. Angestrebt wird, bereits zum Ende der schwedischen Präsidentschaft eine provisorische Einsatzfähigkeit zu erzielen.

Multinationale nordische Brigade

Sydow bekannte sich klar zu den Zielsetzungen der militärischen Kooperation im Rahmen der Europäischen Union. Die Schweden selbst wollen vor allem in einer multinationalen nordischen Brigade ihren Beitrag leisten. Da die Dänen aber in diesem Fall nicht mitmachen, wollen sie das gemeinsam mit den Engländern tun. Es ist schon interessant zu sehen, wie rasch in den letzten Wochen und Monaten in diesem Punkt eine Einigung zu Stande gekommen ist.
Über diese Einigung hatten einige von uns auch am Dienstag Abend mit dem hohen Beauftragten für Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Solana, gesprochen. Im Rahmen eines Abendessens, das Solana im Ratsgebäude in Brüssel gab, berichtete er über die durchaus zufrieden stellende Bereitschaft aller Mitgliedsländer, aber auch jener Länder, die noch nicht Mitglied der EU bzw. der NATO sind, wie zum Beispiel Polen, die Tschechische Republik und Ungarn. Ein kleines Problem gibt es noch mit der Türkei, die ihre Kooperation mit der Europäischen Union im Rahmen der NATO-Einsatztruppe natürlich auch dazu verwenden möchte, stärkeren Druck für ihre Mitgliedschaft in der Europäischen Union auszuüben. Solana gegenüber hat sich der türkische Minister sehr kooperativ gezeigt. Aber sicher hat auch die Tatsache, dass im Rahmen der Beitrittspartnerschaft die Frage Zypern und Ägäis in Zusammenhang mit den Forderungen der Griechen stärker betont und erwähnt wird, zu einer gewissen Unsicherheit der EU geführt, ob letztendlich die Türkei bereit sein wird, die volle Kooperation zwischen der EU-Eingreiftruppe und der NATO auch sicherzustellen.

Stärkung der nicht-militärischen Komponente

Ich persönlich würde mir jedenfalls wünschen, und darüber sprach ich auch mit dem schwedischen Verteidigungsminister, dass die neue Konzeption der Sicherheits- und Verteidigungspolitik auch dazu führt, dass man die nicht-militärische Komponente, insbesondere die Polizei und die Krisenverhütung, ausreichend in den Vordergrund rückt. Daran sind die Schweden sicherlich sehr interessiert und ich hoffe, dass sie während ihrer Präsidentschaft danach trachten, eine Parallelität zwischen dieser Verteidigungsstruktur und einer vorbeugenden zivilen Krisenpolitik herzustellen.

Zivile Krisenbekämpfung

Nach dieser Diskussion ging es weiter in den ehemaligen Plenarsaal des schwedischen Reichstages, in dem wir mit den Abgeordneten des außenpolitischen und des Verteidigungsausschusses diskutierten. Mein Thema, das ich vorbringen sollte, war eben genau jene Frage, wie eine zivile Krisenbekämpfungspolitik in den Vordergrund gerückt werden kann. Dabei geht es nicht nur um den Einsatz von Polizei, sobald sich eine Krise abzeichnet bzw. schon begonnen hat, sondern natürlich um Informationen über potenzielle Krisenherde und die Entwicklung in kritischen Regionen. In diesem Fall müssten die gesamten Informationen, die die EU über die Vertreter der EU-Kommission, über die Botschafter der einzelnen Mitgliedsländer, über Analyseinstitute etc. erlangen kann, gesammelt und analysiert werden. Und es müssten alternative Strategien entwickelt werden, um bei Krisen auch wirklich rechtzeitig eingreifen zu können. All das geschieht derzeit zu wenig.
Es ist gut, dass wir Truppen aufstellen können und dass diese auch rasch einsatzfähig sind. Aber eigentlich sollte es diese Truppen geben, um nicht eingesetzt zu werden. Sie sollten vielmehr eine letzte Instanz sein, deren Einsatz durch eine entsprechende Politik vermieden werden sollte. Bei der EU-Erweiterung ist die Lage ziemlich eindeutig und es gibt klare Angebote. In anderen Bereichen und Krisenherden ist die Situation nicht so eindeutig, und eine zivile Krisenbekämpfung sollte zumindest an jenen Krisenherden in unserer Umgebung im Sinne der Vorbeugung angewendet werden.

Europäische Krisenherde

Wo befinden sich solche Krisenherde? Wenn wir heute die Situation in Bosnien-Herzegowina betrachten, dann hat sich gerade bei den letzten Wahlen gezeigt, dass der Weg weg vom Nationalismus und der ethnischen Übersteigerung in Richtung einer multiethnischen, toleranten demokratischen Gesellschaft eben in diesem Neuland noch nicht sehr weit fortgeschritten ist. Im Kosovo gibt es tagtäglich Morde an Serben und Albanern. Die Lage in Jugoslawien ist nach wie vor fragil. Mazedonien ist zwar stabil, aber nicht ohne gewisse Spannungen zwischen der albanischen und der mazedonisch-slawischen Gesellschaft. In Albanien selbst ist die Verfügbarkeit über das Waffenarsenal aus einer der letzten Krisen sehr stark, das Einsammeln der Waffen durch staatliche Organe geht sehr langsam und nur unvollständig vor sich. Im Balkanbereich kann man heute also noch nicht davon sprechen, dass die Probleme gelöst sind und alles seinen besten Weg geht.

Krisenpotenziale Nordafrika, Naher Osten und Kurden

Auch in Nordafrika gibt es verschiedene Krisenherde – ich denke beispielsweise an die Spannungen zwischen Marokko und Algerien, auch wenn gerade ein Treffen von algerischen und marokkanischen Ministern stattfindet. Aber gerade im Zusammenhang mit der Westsahara gibt es nach wie vor ein nicht zu unterschätzendes Krisenpotenzial. Vom Nahen Osten ganz zu schweigen. Ebenso wie von der Frage der kurdischen Bevölkerung. Es mag, wenn es sich auch eher um eine Hoffnung handelt, einmal sein, dass es auf Einladung der Türken zu einem zivilen Einsatz in kurdischen Gebieten kommt, um dort eine gewisse Stabilisierung zu erzielen.

Beide Seiten einbeziehen

In all diesen Fällen geht es mir nicht um ein Eingreifen von außen, ohne die Interessen und Wünsche und Vorstellungen der Betroffenen zu berücksichtigen. Das Ziel muss immer sein, dass selbst bei vorbeugenden Maßnahmen die verschiedenen Seiten in einem Konfliktfall einverstanden sind. Aber es kann auch zu Szenarien kommen, in denen man ohne deren Einverständnis eingreifen muss, weil sonst beträchtlicher Schaden für die Betroffenen selbst, aber auch für Europa entstehen würde. Jedenfalls gibt es genug Ursachen und Hintergründe für die Stärkung der zivilen und vorbeugenden Komponente im Rahmen einer europäischen Sicherheitspolitik.

Am Ende unserer politischen Diskussionen und des anschliessenden Buffetabends mit unseren schwedischen Kolleginnen und Kollegen ergab sich für mich noch eine kurze Gelegenheit für einen Spaziergang durch das keinesfalls winterliche, sondern viel zu warme Stockholm. Die Altstadt ist sehr schön renoviert worden. Viele neue Geschäfte, Restaurants mit Kerzen vor und innerhalb der Lokale vermittelten eine sehr stimmungsvolle, trotz des warmen Wetters weihnachtliche Atmosphäre und erweckten den Eindruck einer sehr friedlichen Gesellschaft, die die Phasen der Internationalisierung und Globalisierung mit sehr viel Anstand und Geschmack durchlebt.
Der schwedischen Präsidentschaft ist jedenfalls viel Erfolg bei ihrer schwierigen Aufgabe zu wünschen. 
Stockholm, 23.11.2000