Im Land des Ben Ali

 Tunesien spielt eine nicht unbedeutende Rolle im Nahen Osten sowie in den Beziehungen zwischen Europa und den arabischen Ländern. Was fehlt, ist allerdings eine deutlich demokratische Entwicklung.
Tunesien, das kleine arabische Land im Norden Afrikas ist in vielerlei Hinsicht ein Musterland. Die Wirtschaft hat sich gut entwickelt, nicht zuletzt durch den Tourismus. Man findet eine durchaus entwickelte Gleichberechtigung der Frauen. Und auch soziale Fragen werden sehr ernst genommen, der Staat kümmert sich um die sozialen Probleme wesentlich intensiver als in anderen arabischen Ländern.

Getrübt wird dieses Bild durch die Tatsache, dass der Präsident des Landes, Zine el-Abidine Ben Ali, die politische und rechtliche Situation zur Gänze in seine Hände genommen hat. Viele sprechen von einer Diktatur, die er errichtet hat, als er am 7. November 1987 seinen Vorgänger, den Gründungsvater des Landes, Habib Burgiba, gestürzt hatte. Damals hatte Ben Ali allerdings noch nicht offiziell angekündigt, dass er seine Präsidentschaft viele Male verlängern wird. Zuletzt hat er durch ein Referendum eine weitere Verlängerung, die ihm verfassungsmäßig nicht zustehen würde, herbeigeführt.

Führung mit eiserner Hand

Ben Ali kommt ursprünglich aus dem Militär. Als Präsident führt er sein Land mit eiserner Hand. De facto gibt es nur eine große, entscheidende Partei, die RCD, die auch alle wesentlichen Posten besetzt. RCD bedeutet Rassemblement Constitutionnel Démocratique, es ist allerdings weder von „Constitutionnel“ noch von „Démocratique“ viel die Rede. Zwar wird der Opposition in homöopathischen Dosen ein begrenztes Leben zuerkannt. So erhält sie eine bestimmte Anzahl an Sitzen im Landesparlament und in regionalen Versammlungen. Aber die Herrschaft der RCD ist trotzdem ganz unzweifelhaft. Unter dem Deckmantel eines unermüdlichen Kampfes gegen den Terrorismus und den Fundamentalismus wird jegliche Art von Opposition außerhalb der begrenzt zulässigen parlamentarischen Opposition untersagt.

Diese Form des politischen Systems wird von den Einen als eine schlimme Diktatur, als Polizeistaat gebrandmarkt, von den Anderen mit etwas Nachsicht als eine autoritäre Regierungsform bezeichnet. Tatsache ist, dass man nicht von einer gesicherten Demokratie sprechen kann. Und trotzdem sind sicher viele Menschen in Tunesien froh, in diesem arabisch-islamischen Land zu leben, etwa, weil Möderbanden wie in Algerien hier keine Chance haben oder die unmittelbare Gefahr einer fundamentalistisch orientierten Diktatur nicht gegeben ist; nicht zuletzt auch deshalb, weil die Emanzipation der Frauen weit fortgeschritten ist.

Der Leuchtpfad Tunesiens

In Tunesien gibt es sehr viele ausgezeichnete Repräsentanten des öffentlichen Lebens, was in autoritär gelenkten Systemen sonst selten der Fall ist. Die Minister, die ich hier getroffen habe, die Gouverneure, die Bürgermeister – sie alle zeichnen sich durch grosses Engagement und hohes Wissen aus. In jedem Gespräch, das man hier führt, kommt allerdings zumindest einmal der Name Ben Ali vor, und zwar nie kritisch, es sei denn, man ist zu zweit im Auto oder auf der Strasse unterwegs. Ben Ali ist stets derjenige, der den Weg vorgibt, wie Tunesien sich entwickeln kann und soll. Er ist der Leuchtpfad des gesamten Landes.

Man findet in Tunesien eine ungemein abwechslungsreiche Landschaft vor – von den Wüstengebieten im Süden bis zu bewaldeten Küstenstreifen im Norden. Mein jüngster Besuch galt ausschliesslich der nordwestlichen Region, den Städten Tunis, Bizerta und Tabarka. Die Lage dieser Städte an der Küste, die Geschichte, die diese Städte hinter sich gebracht haben – aus der Zeit von Carthago und der Römer, der arabischen Inbesitznahme, der französischen Besatzung und vielem mehr – wird in diesem Land geschätzt und gepflegt. Die andernorts, vor allem im westlichen Nachbarland Algerien zu findende unbewältigte Situation gegenüber der ehemaligen französischen Kolonialmacht, ist hier kaum zu finden. Man muss allerdings eingestehen, dass die Franzosen Tunesien toleranter und rücksichtsvoller behandelt haben als Algerien, das sie als einen festen Bestandteil ihrer Nation sahen und sich lange Zeit hindurch nicht als ein eigenständiges, unabhängiges Land vorstellen konnten.

Vermittlerrolle

Tunesien spielt insbesondere im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt eine sehr wichtige vermittelnde Rolle. Es hat lange Zeit PLO-Führer Arafat beherbergt. Es hat genügend Kontakte zu den führenden westlichen Nationen, um auch von dieser Seite her über eine Vermittlerfunktion zu verfügen. So ist Tunesien derzeit der Sprecher der arabischen Länder in diesem Zusammenhang und hat beim jüngsten Gipfel in Beirut, wo es um die Annahme des saudischen Planes ging, eine bedeutende Rolle gespielt. Dieser Plan sieht die gemeinsame Anerkennung Israels durch die arabischen Länder vor, wenn Israel bereit ist, einen lebensfähigen palästinensischen Staat zuzulassen und anzuerkennen. Dennoch wären auch dann noch eine Reihe von Problemen wie die Flüchtlingsfrage oder die Golanhöhen zu lösen. Und trotzdem wäre dieser Plan eine große Chance, Frieden zu schaffen.

Das kleine Tunesien mit seinen vielen Sehenswürdigkeiten und seinen verschiedenen touristischen Attraktionen spielt also eine nicht unbedeutende Rolle im Nahen Osten sowie in den Beziehungen zwischen Europa und den arabischen Ländern. Ich würde mir aber wünschen, dass dieses Land auch eine Möglichkeit findet, zu dem, was es bereits erreicht hat, auch eine demokratischere Entwicklung zu erlangen. Eine demokratische Entwicklung, die nicht von der Wachsamkeit gegenüber dem Fundamentalismus lassen, aber bedenken sollte, dass langfristig nur eine Demokratie genügend Abwehrkräfte gegen fundamentalistisch autoritäre Tendenzen hat! 
Tunis, 4.5.2002