In den kurdischen Gebieten

Das Recht auf eine eigenständige Identität der kurdischen Bevölkerung in der Türkei muss unterstützt und umgesetzt werden. 
Heute früh ging es nach Diyarbakir – in die Hauptstadt des kurdischen Gebietes. Nach einem kurzen Besuch bei der syrischen Kirche, einer sehr kleinen Kirchengemeinschaft im ehemaligen Sitz des Patriarchen der syrisch-orthodoxen Kirche, trafen wir den sogenannten Supergouverneur, der in jenen Gebieten, die sich im Ausnahmezustand befinden, die höchste Autorität besitzt.

In die Falle getappt

Besagter Priester wurde, manche erinnern sich vielleicht, vor kurzem angeklagt, nachdem ihn einige Journalisten in eine Falle gelockt haben: Zum Massaker an den Armeniern am Beginn des vorigen Jahrhunderts befragt, gab der Gouverneur die Antwort, dass Armenier bzw. Syrier damals unbestritten von den Türken massakriert worden sind – und das war natürlich den türkischen Behörden nicht angenehm. Aufgrund der Tatsache, dass es viele ausländische und vor allem EU-Beobachter bei diesem Prozess gegeben hat, wurde das Verfahren einstweilen vertagt. Aber das Beispiel zeigt doch sehr deutlich, wie leicht es einerseits ist, das armenische Massaker am grünen Tisch in Paris, Brüssel, Straßburg oder anderswo zu beraten, und wie schnell andererseits genau das dazu führt, dass in der Türkei Menschen in Schwierigkeiten geraten, vor Verfahren Angst haben müssen, etc.

Der Gouverneur residiert derzeit in einem Militärlager. Im Hof marschierten Militär und Militärmusiktruppen. Er begrüsste uns freundlich, war aber in seiner Argumentation eindeutig und bestimmt. In der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes gab er große Mängel zu und war auch sehr ausführlich in seiner Schilderung, was aus seiner Sicht zu geschehen habe, um das Land weiter zu entwickeln. Mit Recht beharrte er darauf, dass es nicht nur um einige große Projekte geht, sondern um viele kleine, um der Bevölkerung die Rückkehr und den wirtschaftlichen Aufschwung zu ermöglichen.

Englisch statt Kurdisch

Angesprochen auf die Möglichkeit, sich doch wenigstens in kurdischer Sprache ausdrücken zu können und vor allem auch Medien auf diesem Gebiet zuzulassen, meinte er allerdings: „Privat kann jeder sprechen, wie er will, das ist nicht das Problem. Aber insgesamt gibt es nur eine Sprache, und das ist die türkische Sprache. Die Menschen sollen lieber Englisch und Französisch lernen. Das braucht man heute im Leben. Aber nicht die kurdische Sprache.“ Abstrakt gesehen hatte er nicht einmal unrecht mit seiner Argumentation. Aber ob das angesichts der Situation, wie sie uns geschildert worden ist, eine befriedende Antwort ist, blieb offen.
Am Abend war diese Frage nicht mehr offen, sondern wurde beantwortet. Was der Gouverneur in seiner Rationalität und Härte argumentiert hat, wird von weiten Teilen der Bevölkerung und vor allem den Jüngeren nicht akzeptiert. Das was man derzeit macht, ist kein Beitrag zur Lösung des Problems. Das Problem existiert – man muss es zur Kenntnis nehmen und konkrete Lösungen anbieten.

Attentat auf den Polizeipräsidenten

Nach dem Besuch beim Supergouverneur ging es zu einem der Vizegouverneure, da der Gouverneur sich mit der Aufklärung eines furchtbaren Attentats auf den Polizeidirektor zu befassen hatte. Ich hatte natürlich schon in den letzten Tagen davon gehört. In Ankara war viel darüber gesprochen worden, und wir haben vom Weg in die Stadt auch jenen Ort gesehen, wo der Polizeidirektor ermordet wurde.
Nur 200 Meter von der Polizeidirektion entfernt, auf einer durchaus einsehbaren, nicht sehr belebten, aber auch nicht sehr versteckten Straße, haben 15 Schwerbewaffnete – und das in einer Region, in der der Ausnahmezustand herrscht! -, angeblich aus der Moschee kommend, den Polizeidirektor erschossen. Natürlich nimmt man an, dass das Attentat von der Hisbollah, also den Islamisten, verübt wurde. Viele meinen aber auch, die Hisbollah bekäme sehr wohl auch immer wieder Informationen und Anregungen von den Sicherheitskräften selbst. Ausserdem ist bekannt, dass der ermordete Polizeidirektor sehr beliebt und um einen zivilen Umgang mit der Bevölkerung bemüht war. Er hat jene Polizisten zurechtgewiesen, die herrschaftlich agiert haben. Er hat die kurdische Sprache gelernt, um auch zu diesem Teil der Bevölkerung sprechen zu können. Es konnte also kaum ein Zufall sein, dass gerade dieser Mann ermordet wird. Sein Tod scheint vielmehr eine ausgemachte Sache gewesen zu sein.

Medienrummel

Jedenfalls hat dieses Ereignis auch heute noch den Gouverneur beschäftigt, und so haben wir mit einem seiner Stellvertreter gesprochen, der sicherlich um einiges flexibler war. Er war jünger, war offener, aber sicherlich fehlten ihm die Kraft, der Mut und auch die Kompetenz, von der Grundlinie abzuweichen, die der Ausnahmezustands-Gouverneur vorgezeichnet hat. Anders war dies natürlich beim Bürgermeister.
Bei dem Gespräch mit dem Supergouverneur war keine Presse anwesend. Zum Vizegouverneur hingegen begleitete uns ein Fernsehteam und ein Journalist aus dem kurdischen Gebiet. Als wir schliesslich die Treppen zum Haus des Bürgermeisters hochstiegen, waren mindestens 20 bis 25 Fernsehteams und sonstige Reporter um uns, die mich beim Hineingehen und den ersten Minuten des Gespräches mit dem Bürgermeister aufgenommen haben – in Bild und Ton. Aus meiner Sicht war das ein Zeichen dafür, dass der Bürgermeister, der von der Kurdenpartei kommt, versucht, sich Rückhalt in der Öffentlichkeit zu verschaffen und ein gewisses Gegengewicht zur mehr oder weniger anonymen Staatsmacht zu schaffen.
Nach dem Treffen mit dem Bürgermeister besuchten wir ein Frauenprojekt, wo wir von der Kinderbetreuung bis zu der Betreuung geschlagener Frauen informiert wurden. Danach ging es weiter zur Rechtsanwaltskammer, zu Mitarbeitern bei einem wirtschaftlichen Entwicklungsprojekt und am Schluss zu den Menschenrechtsorganisationen.

Auf dem Markt

Dazwischen blieb uns aber ein bisschen Zeit, einige Punkte der Stadt zu besichtigen. So kletterten wir zum Beispiel auf die sehr groß angelegte Stadtmauer, die die ganze Stadt wie ein Ring umgibt und wirklich sehr eindrucksvoll ist. Von diesem Punkt hatten wir einen Blick in die Landschaft, auf die Siedlungen außerhalb der Stadt und auch auf die Altstadt. Wir schlenderten auch über den Markt, an Ständen mit Unmengen von Fischen aus den Flüssen und Seen der Umgebung vorbei durch einen engen Gang, wo unzählige Schafe hingen und Schafsköpfe in den Regalen lagen. Auch den Obstmarkt sahen wir, der weiter angelegt und offener war.
Natürlich erregten die Fernsehkameras, die uns verfolgten, Aufsehen und ich wurde auch animiert, mit einigen Menschen zu sprechen – mittels einer Dolmetscherin, die uns begleitete. Plötzlich war ich umringt von 40 bis 60 Kindern und jungen Erwachsenen, die davon gehört hatten, dass hier ein Europaabgeordneter zu Besuch ist und einfach neugierig waren. Meine Frage, ob sie in die Europäische Union wollen, hat eine Welle von Stimmen und Stimmungen ausgelöst. Natürlich wollten sie das, meinten sie. Aber zuerst müsse die Kurdenfrage gelöst werden.

Das Recht auf Eigenständigkeit

Sie wünschten sich, dass Europa durchsetzt, dass es hier möglich ist, kurdisches Fernsehen zu konsumieren und Zeitungen in kurdischer Sprache zu publizieren. Und sie wollen, dass sich die türkischen Truppen vom kurdischen Gebiet im nördlichen Irak zurückziehen.
Auf meine Nachfrage, ob sie gerne offizielles kurdisches Fernsehen haben würden, meinten sie, meine Frage missverstehend, sie würden schon kurdisches Fernsehen sehen – jenes kurdische Fernsehen, das von privaten Fernsehgesellschaften produziert wird -, aber sie wollten eben nicht nur dieses Fernsehen, sondern auch in der Türkei selbst produziertes Fernsehen in kurdischer Sprache.
Diese Begegnung war nicht organisiert, da niemand wusste, dass ich auf den Markt kommen würde. Mein Besuch hier war völlig spontan, und genauso spontan war die Reaktion. Und genau diese Reaktion hat gezeigt, dass die Machthaber – vom Notstandsgouverneur angefangen – nicht wirklich wissen, was los ist. Und dass es nicht viel Sinn macht, kurdisches Fernsehen nach wie vor zu untersagen, weil trotzdem kurdisches Fernsehen gesehen wird. Aber natürlich jenes, das die Türkei massiv kritisiert. Wie dieses Vorgehen ein Beitrag zu einem einheitlichen Staat und zum türkischen Bewusstsein der Bevölkerung sein soll, bleibt mir weiterhin ein Rätsel.

Europa unterstützt kurdische Identität

Für mich war es sehr bewegend, wie die kleine Straßendemonstration, wie dieses freundliche Entgegenkommen, aber auch das Einfordern auf Hilfe und Unterstützung durch Europa am Markt von Diyarbakir erfolgt ist.
Und ich habe versprochen und auch klar gemacht, dass wir das Recht auf eigene Identität unterstützen wollen und werden. Und dass das zugleich die Linie der Europäischen Union und speziell des Europäischen Parlaments und nicht nur einzelner Funktionäre ist.
Diese Forderung, die mitten aus dem Volk kam, diesen Eindruck, werde ich sicherlich nie vergessen und sehe ich als Verpflichtung an. Damit nicht allzu große Unruhen und Konflikte entstehen konnten, gab ich schliesslich vor, gehen zu müssen, da ich noch weitere Termine wahrzunehmen hätte. Aber die vielen Jugendlichen in meinem Rücken, die mich zu unserem Wagen begleiteten, haben gewissermassen diese Pflicht in mir selbst verankert.

Ein weiter Weg

Die Gespräche mit den Vertretern der Menschenrechtsorganisationen, der Ärztevereinigung etc. waren nicht gerade aufbauend. Zumeist herrschte Übereinstimmung, dass es keine Verbesserung gibt. Das Jahr 2000 war kein gutes Jahr. Und das Jahr 2001, im ersten Monat, lässt sich auch nicht viel besser an. Nach wie vor gibt es Verhaftungen, und nach wie vor gibt es viele Folterfälle. Europa muss hart daran arbeiten, dass die Türkei die notwendigen Veränderungen auch wirklich durchführt und nicht nur Gesetze beschließt.
Ich habe mich bei dieser Gelegenheit an einen Beamten im Justizministerium erinnert, der beim Gespräch mit dem Justizminister dabei war und zu uns – dem Botschafter und mir – gemeint hat, er formuliere neue Gesetze, das sei sicherlich wichtig, aber schon die bestehenden Gesetze würden ausreichen, wenn die Richter sie nur so interpretieren und anwenden würden, wie sie es selbst gerne wollten. Aber sie stehen unter Druck, eine ganz bestimmte Richtung einzuschlagen. Und genau das ist das größte Problem: nicht die Gesetzestexte, sondern die Anwendung und Auslegung dieser Gesetze unter Druck, zumeist gewisser Kreise aus dem Militär.

Schlussfolgerungen

Wenn ich jetzt zurückfliege nach Istanbul und danach nach Brüssel, gibt es zwei mögliche Schlussfolgerungen. Die eine ist die, dass die Türkei noch lange nicht reif ist, Mitglied der Europäischen Union zu werden und wir das ganze Unterfangen abbrechen und uns ausschliesslich auf jene Länder konzentrieren, die knapp vor einer möglichen Mitgliedschaft stehen.
Das wäre das Einfachste, und viele in Europa würden diesen Weg gut heißen. Für mich allerdings wäre es ein Verrat an all jenen, die in der Türkei auf Europa hoffen. Und ein Sieg jener Gruppierungen in der Türkei, die Türkei nicht in Europa sehen wollen.
Die Alternative dazu allerdings ist der Weg, den ich weiterhin bestreiten möchte.
Gestärkt durch die positiven, aber auch die vielen negativen Eindrücke in diesem Land: Es gibt in der Türkei viele, die auf die Europäische Union hoffen, die Veränderungen herbeiführen würden – hinsichtlich der Menschenrechtssituation, des Zusammenlebens verschiedener Kulturen und Ethnien, sicher auch hinsichtlich der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes. Ich sehe das nicht geteilt, denn beides ist gleichermaßen notwendig.

Produktive Partnerschaft

Ich weiß nicht, ob diese Strategie jemals zu einer Mitgliedschaft der Türkei in der EU führen wird. Aber all das, was wir in den nächsten Jahren tun können, um die Situation in der Türkei zu verbessern und die Demokratie und die autonomen Widerstandskräfte gegen den radikalen Idealismus und gegen faschistoide Tendenzen zu stärken, das sollten wir tun. Dieses Vorhaben ist verbunden mit der Zusage, die Türkei, wenn sie die Kriterien erfüllt, auch in die Europäische Union aufzunehmen. Sollte die Türkei tatsächlich die Kriterien erfüllen, dann muss für sie aus meiner Sicht dieser Weg offen sein. Aber es wird ein sehr langer Weg sein.
In der Zwischenzeit gibt es vielleicht andere Möglichkeiten, zu einer verstärkten Partnerschaft zwischen EU und Türkei zu kommen. Das sollten wir zu jenem Zeitpunkt – und zwar gemeinsam – ausloten, zu dem klar ist, dass der direkte Weg in die EU nicht machbar ist bzw. von der Türkei einfach nicht begangen wird. Ein Überlegungszeitraum von vier bis sechs Jahren scheint dabei durchaus vernünftig zu sein.

Spezialfall Zypern

Und man darf nicht vergessen: Es gibt die ersten Kandidaten, die in Mitteleuropa schon fest angemeldet sind. Es gibt Kandidaten, wie Rumänien und Bulgarien, bei denen es sicher noch einige Zeit dauert. Inzwischen wollen aber Kroatien und Mazedonien aufschließen. Und es gibt – und das steht in engem Zusammenhang mit der Türkei – den Kandidaten Zypern. Ein Kandidat, der die Kriterien erfüllt, bei dem aber eine schwierige politische Situation besteht.
Natürlich war auch Zypern, wie jedes Mal, wenn ich in der Türkei bin, diesmal vielleicht sogar etwas mehr, Gegenstand von Gesprächen – vor allem in Ankara. Meine Gesprächspartner meinten in diesem Zusammenhang sehr wohl, dass die Türkei Interesse an einer gemeinsamen Lösung in Zypern hätte. Aber sie meinten auch, und das nicht ganz zu Unrecht, dass die Signale an den griechischen Teil zur Mitgliedschaft so stark seien, dass vielleicht der griechische Teil kein so starkes Interesse daran hat, noch vor der Mitgliedschaft eine Einigung zu erzielen.
Natürlich ist es auch dem griechischen Teil am liebsten, die gesamte Insel in die Europäische Union zu bringen. Inwieweit man bereit ist in diesem Punkt Kompromisse mit dem türkischen Teil zu finden, bleibt eine offene Frage. 
Diyarbakir, 31.1.2001