In den türkischen Gefängnissen

Eine der dringendsten Notwendigkeiten ist, die Strafgesetze so zu ändern, dass es zu einer drastischen Reduzierung der politischen Gefangenen kommt. 
Es ist ein herrlich schöner und warmer Tag in Istanbul, der türkischen Metropole an der – jedenfalls geografischen – Grenze von Europa und Asien. Istanbul ist eine sehr lebendige Stadt, in der das Leben nur so sprüht. Und dennoch: Die potenziellen Konflikte in der Türkei sind auch hier bemerkbar.
Ich befinde mich auf dem Flughafen, und mir bleibt noch etwas Zeit, da mein Flugzeug nach Wien Verspätung hat. So kann ich meine Gedanken am Ende eines dreitägigen Aufenthalts Revue passieren lassen.

Menschen zweiter Klasse

Zum Flughafen hat mich ein Taxifahrer gebracht – ein sehr netter, liebenswürdiger, gut Englisch sprechender Kurde, der nicht versteht, warum die Regierung die Anwendung der kurdischen Sprache im Fernsehen und im Rundfunk noch immer nicht erlaubt. Er selbst erzählte mir, dass er ab 1981 für 10 Jahre im Gefängnis gewesen sei, weil die Polizei in seiner Wohnung ein Buch eines kurdischen Journalisten in kurdischer Sprache gefunden hat. Diese Tatsache reichte aus, ihn zum Terroristen abzustempeln und hinter Gitter zu bringen…
Auch heute noch, so meinte jener Taxifahrer, hätten es Kurden im täglichen Umgang mit der Polizei schwerer als Türken, sei es bei Verkehrsunfällen oder ähnlichen Konflikten, in die sich die Polizei einschaltet.
Die Polizei ist in diesem Land tatsächlich eine jener Mächte, die sich am stärksten gegen den Fortschritt, gegen die Aufklärung und gegen ein liberales, menschenwürdiges Verhalten gegenüber den Kurden wehrt. Es wurde uns im Zuge unsere Aufenthaltes auch berichtet, dass die weitaus überwiegende Anzahl von Folterungen in den Reihen der Polizei vorkommt, und nicht in den Gefängnissen.

Lokalaugenschein

Die Gefängnisse waren der eigentliche Grund für meinen Besuch in der Türkei. Unter der Leitung des grünen Abgeordneten Daniel Cohn-Bendit wurde vom Europäischen Parlament eine neunköpfige Delegation in die Türkei entsandt, um die Situation in den Gefängnissen, vor allem in Zusammenhang mit den Hungerstreiks und dem Todesfasten, zu untersuchen.
Cohn-Bendit übernahm eine Gruppe und besuchte mit ihr ein „altes“ Gefängnis in der Nähe von Istanbul und anschliessend einen neuen so genannten F-Typ in Chiandera, der besonderer Kritik ausgesetzt wurde. Die Delegation erzählte Horrorgeschichten vom alten Gefängnis, der dort herrschenden Unmenschlichkeit und der Tatsache, dass die Gefängnisleitung viel Macht an die Kapos unter den Gefangenen abgegeben habe und man sich nur mit Geld Vergünstigungen erkaufen könne.
In Summe wurde all das aufgezählt, was man sich generell unter Gefängnissen in der Türkei vorstellt. Vom neuen F-Typ dagegen hatte die Delegation dagegen einen weitaus besseren Eindruck – aber dazu komme ich noch.

In den F-Typen

Ich selbst übernahm eine zweite Gruppe, bestehend aus dem ehemaligen französischen Europaminister Lamassour sowie einem belgischen und holländischen Abgeordneten und besuchte mit ihnen zwei Gefängnisse in der Nähe von Ankara. Ein Haus war ein Jugendstrafgefängnis, das ungewöhnlich offen und liberal geführt wird und sicherlich ein „Herzeigeobjekt“ für ausländische Gäste ist. Das zweite war das Gefängnis in Sinchan, ebenfalls ein F-Typ, also ein Hochsicherheitsgefängnis.
Aufgrund der Zwischenfälle im Dezember, zusammen mit dem Hungerstreik und den gewaltsamen Überführungen der Gefangenen in die F-Typ-Gefängnisse, waren manche Gefangenen zu früh in die noch nicht fertig gestellten Gefängnisse überführt worden. Natürlich gab es auch schon davor viel Kritik, und von dieser grundsätzlichen Kritik möchte ich auch nichts entkräften. Trotzdem muss ich zugeben, dass sich mein Eindruck durch den Besuch vor Ort doch sehr verändert hat. Cohn-Bendit und einigen Abgeordnete, inklusive der Abgeordneten der kommunistischen Fraktion im Europäischen Parlament, erging es ähnlich.

Gespräche nach dem Zufallsprinzip

Zum einen war ich sehr überrascht, dass die Beamten des Ministeriums, die uns begleiteten, von vornherein gestatteten, dass wir alle Teile des Gefängnisses untersuchen und mit jedem Gefangenen sprechen konnten. Die einzige Ausnahme bestand darin, dass man uns nicht zu bestimmten auserwählten Gefangenen führen konnte, sondern wir nach dem „Zufallsprinzip“ handeln mussten. Man wollte dadurch vermeiden, dass wir den „führenden Köpfen“ in diesem Gefängnis eine besondere Referenz erweisen und sie gewissermaßen als eine legale bzw. zumindest legitime Organisation anerkennen würden. Nach einigem Herumfragen sind wir aber trotzdem zu jenen vorgedrungen, die sich als Führer bezeichnen bzw. als solche anerkannt werden.
Wir gingen also durch das Gefängnis und führten, so wie wir es vorgehabt hatten, in verschiedenen Zellen jene Gespräche, die wir wollten. Wir zeigten auf eine Tür, die Wärter öffneten diese Tür und wir sprachen in zurückhaltender Anwesenheit der Wärter, des Gefängnisdirektors und der Vertreter des Ministeriums mit den Gefangenen. Diese waren in ihrer Kritik und in ihrer Meinungsäußerung durchaus frei und offen.

Kommunikationsflüsse

Während dieser Gespräche schickten andere Gefangene aus benachbarten Zellen bzw. aus den Hofbereichen immer wieder kleine Bälle mit Informationen, Fragen und Aufforderungen – wahrscheinlich nicht wissend, dass der betreffende Gefangene gerade Besuch hatte. Aber weder der Direktor noch die Vertreter des Ministeriums oder die Aufseher des Gefängnisses griffen ein, sondern wiesen uns lediglich darauf hin, dass dies eine übliche Kommunikationsform zwischen den relativ isolierten Gefangenen sei.
Apropos Isolierung: Es gab nur wenige Fälle von extremer Isolierung, also von Einzelzellen mit einem Gefangenen und einem kleinen Hof als „Auslauf“. Und natürlich bestand auch für diese Gefangenen die Möglichkeit, Besuche durch die Anwälte oder Familienangehörigen zu empfangen. Andere Gefangene waren entweder in Dreierzellen untergebracht oder in drei einzelnen, nebeneinander liegenden Zellen aber mit einem gemeinsamen Hof.

Schikanen, aber keine Folter

Über Folter wurde im Allgemeinen nur im Zusammenhang mit Übergriffen durch die Polizei oder Gendarmerie gesprochen, nicht aber im Gefängnis selbst. Nichts desto trotz wurden natürlich auch einige Schikanen erwähnt, etwa die Vernichtung von Unterlagen, die die Gefangenen aufgesetzt hatten, unter anderem ihre Verteidigung betreffend. Wahrscheinlich wurde argumentiert, dass sie versteckte Botschaften oder Aufforderungen für weitere Gewalttaten beinhalteten – und mit diesen Argumenten kann natürlich jede Verteidigung erschwert werden. Konkrete Hinweise auf Folterungen, beispielsweise durch Verletzungen am Körper, konnten wir dagegen nicht feststellen.

Der politische Führer

Wie schon erwähnt: Nach mehreren Umwegen erreichten wir auch den Anführer der Hungerstreiks. Er selbst war nicht am Hungerstreik beteiligt, weil er schon 1996 einen Hungerstreik begonnen hatte und all diejenigen, die damals bereits beteiligt waren, haben aus gesundheitlichen Gründen verzichtet, wieder an diesem erneuten Hungerstreik teilzunehmen. Im Übrigen wechselt man sich bei den Hungerstreiks ab. Doch jene, die wirklich auf den Tod hin fasteten, fanden wir nicht im Gefängnis – sie waren im Spital. Dort wurden sie zum Teil, jedenfalls dann, wenn ihre Familien eingewilligt haben, zwangsernährt.
Der politische Anführer argumentierte mir gegenüber, dass es darum gehe, das System zu ändern, gegen die Zusammenarbeit mit dem Währungsfond zu kämpfen und an der Revolution festzuhalten. Ich entgegnete darauf, dass ich nicht gekommen sei, um mit ihm über die Revolution zu diskutieren, sondern um ganz konkret über die Bedingungen in den Gefängnissen und die entsprechenden Beschwerden darüber zu sprechen. Als Einwand wurde entgegnet, dass die Wärter den hungerstreikenden Gefangenen immer wieder Zucker aus der Hand nehmen, sie also jener Nahrungselemente berauben, die gerade für den Hungerstreik sehr wichtig sind. Ich glaube schon, dass das öfters vorkommt. Aber genau diese Beschwerden sollen über Beschwerden an entsprechende Kommissionen, die nun eingesetzt werden, abgestellt werden.

Hungerstreik als politisches Instrument von aussen

Ich hatte, wie gesagt, nicht den Eindruck, dass es in diesem Gefängnis systematisch zu Folterungen kommt. Einige Gefangene meinten in dieser Frage, es habe gar keinen Sinn, mit ihnen zu sprechen und verwiesen uns an den politischen Führer, der dafür verantwortlich sei. Ich habe in diesen Gefangenen einerseits einen fast fremd geleiteten Blick gesehen, aber ihr Verhalten zeugte auch von Angst, sich all zu sehr in Details der politischen Argumentation einzulassen.
In gewisser Hinsicht bestätigte es auch ein Argument, das uns gegenüber immer wieder von der Regierung geäußert wurde: demnach leiten aus politischen Gründen den Hungerstreik Organisationen, die in Brüssel oder Amsterdam beheimatet sind bzw. regionale und lokale Führer, die in den Gefängnissen agieren – wie hier im Gefängnis in Sinchan. Der Hungerstreik hätte vor diesem Hintergrund weniger mit den konkreten Bedingungen in den Gefängnissen und der Isolation, die dort zugegebnermassen auch stattfindet, zu tun, sondern würde vielmehr als politisches Instrument eingesetzt. Es käme dabei oft nicht auf den Willen der einzelnen Gefangenen an, sondern auf die Entscheidungen der jeweiligen politischen Strategen, die sich selbst nicht am Hungerstreik beteiligen.

Extremismus im Dienste der Revolution

Interessant war in diesem Zusammenhang, dass ein Mitarbeiter des Justizministeriums, der die Gruppe von Cohn Bendit begleitete, zugegeben hat, selbst einmal Anhänger einer dieser linken Organisationen gewesen zu sein. Ich persönlich würde links in diesem Fall eher durch extremistisch ersetzen, und auch der Justizbeamte selbst meinte, diese Gruppierungen seien weniger links als vielmehr faschistisch.
Aus seiner Sicht sind diese Organisationen etwa am Drogenhandel beteiligt, würden um das Geld Grundstücke kaufen bzw. es an bestimmte Familien weitergeben und dafür verlangen, dass deren Kinder am revolutionären Kampf teilnehmen. Und dieser revolutionäre Kampf beinhaltet eben auch, dass sie sich, wenn sie gefangen sind, von Zeit zu Zeit am Hungerstreik und im Extremfall sogar am Todesfasten beteiligen.

Sektenhaftes Verhalten

Es ist meiner Meinung nach ein fast sektenhaftes Verhalten, das hier an den Tag gelegt wird, und dieses Verhalten hat mit dem Protest gegen negative Haftbedingungen wenig zu tun. Diesen Eindruck, der sich im Wesentlichen mit den Eindrücken der anderen Kolleginnen und Kollegen, auch aus der Gruppe von Cohn-Bendit, gedeckt hat, haben wir schliesslcih auch dem Justizminister und der Presse übermittelt.

Die Bedingungen in den Gefängnissen sind keineswegs dramatisch schlecht, aber es gibt natürlich Formen der Isolation, die gar nicht notwendig wären. So könnte sollte und müsste man etwa die Gefangenen – das habe ich angeregt – zumindest eine Mahlzeit pro Tag in größeren Gruppen gemeinsam einnehmen lassen. Es geht nicht darum, alle Gefangenen auf einmal in einen Saal zu lassen, aber man könnte im vorhandenen Speisesaal und in den Gängen etc. durchaus Tische aufstellen und die Gefangenen in Gruppen miteinander sprechen lassen. So ist etwa auch vorgesehen, dass der Turnsaal, wenn er fertig eingerichtet ist, ebenso wie andere Einrichtungen, etwa der Sportplatz, entsprechend verwendet werden können.

Gemeinschaftsleben muss Normalität werden

Die Tatsache, dass sich zum jetzigen Zeitpunkt wenige Gefangene dazu bereit erklären, die Gemeinschaftsräume zu nutzen, weil sie gewissermaßen von den politischen Führern dazu angehalten werden, sollte nicht verhindern, dass man Zug um Zug diese Einrichtungen und damit Möglichkeiten des gemeinsamen sozialen Lebens schafft und Zug um Zug auch die Gefangenen überredet, diese Einrichtungen zu benützen.
Dass das Gemeinschaftsleben eher als eine Ausnahme gesehen wird oder einer Begründung bzw. Befürwortung durch eine entsprechende Kommission bedarf, muss ins Gegenteil gekehrt werden. Das Gemeinschaftsleben muss etwas Normales und Selbstverständliches sein. Und nur wenn es unbedingt notwendig ist, kann als disziplinäre Maßnahme vorgesehen werden, die Teilnahme am Gemeinschaftsleben teilweise zu unterbrechen.

Maulkorberlässe einstellen

Natürlich würde ich mir wünschen, es gäbe eine Gesellschaft ohne Gefängnisse, wie sie einmal der frühere österreichische Justizminister Christian Broda postuliert hat. Und ebenso würde ich mir wünschen, die Gefängnisse würden noch humaner gestaltet werden. Aber die Tatsache, dass hier Gefangene einsitzen, die – bei allem Verständnis für die Kritik an der Türkei – Maßnahmen gesetzt haben , die in jedem Staat ebenfalls zur Gefangennahme führen würden, muss ich zur Kenntnis nehmen.
Was ich nicht zur Kenntnis nehmen bzw. akzeptieren möchte und kann, sind die speziellen Gesetze in der Türkei, wo es viele politische Gefangenen gibt, die weder gemordet noch Häuser oder Strommasten in die Luft gesprengt haben, sondern die einfach politische Meinungsdelikte begangen haben. Die einen Artikel verfasst, ein Buch geschrieben, eine Rede gehalten haben. Und die, unter dem Hinweis, sie förderten den Terrorismus oder die Lostrennung von bestimmten Teilen von der Türkei, etwa Kurdistan, eingesperrt werden – das ist für mich nicht akzeptabel.

Justizreform dringend notwendig

Aus meiner Sicht ist es eine der dringendsten Notwendigkeiten, die Strafgesetze so zu ändern, dass es zu einer drastischen Reduzierung der politischen Gefangenen kommt. Die Änderung der Strafgesetze müsste natürlich auch mit einer politischen Amnestie verbunden werden, bei der all jene, die keine konkrete strafbare Handlung gesetzt haben, sondern nach absoluten Strafbestimmungen bestraft wurden, freigelassen werden.
Das zu vermitteln, versuchten wir natürlich zum wiederholten Male beim Justizminister. Und diese Frage haben wir auch am Abend davor mit einigen Abgeordneten des türkischen Parlaments diskutiert. Bei diesem Gespräch waren Vertreter der rechtsnationalistischen CHP ebenso anwesend wie Vertreter der Fazilet, der islamistischen orientierten Partei, die selbst immer wieder von der Auflösung bedroht ist. Aber auch hier ist noch keine Entscheidung gefällt worden. Und genau diese unklare Rechtssituation gibt den Sicherheitsbehörden und dem Militär immer wieder eine Chance, dann „zuzugreifen“, wann sie wollen, und diese Tatsache ist völlig inakzeptabel und mit dem Rechtsstaat nach europäischen Muster nicht vereinbar.

Umstrittener Innenminister

Der derzeit schwelende Konflikt in der Türkei ist nach wie vor ungeklärt, ein brandaktuelles Thema ist der harte Kampf gegen die Korruption. Wir sind just zu jenem Zeitpunkt in die Türkei gekommen, als der Innenminister abgesetzt wurde. Er wurde von seiner eigenen Partei desavouiert, weil er unter anderem die Gendarmerie herangezogen hat, um in der Frage der Korruptionsbekämpfung einige jener Fragen aufzuklären, in die vielleicht sein eigener Parteivorsitzender Mesut Yilmaz verwickelt war. Aber auch das ist nicht ganz sicher und durchschaubar.
Personen, die ich durchaus schätze, wie etwa ein Abgeordneter aus dem kurdischen Gebiet, der ursprünglich mit der Partei von Yilmaz verbunden war, meinte ganz im Gegenteil, der Innenminister, der letztendlich auch für das Massaker an den Gefangenen im Dezember vorigen Jahres verantwortlich ist, sei als Kämpfer gegen die Korruption keineswegs so beispielhaft, wie es oft dargestellt wird. Jedenfalls was die Kurden betrifft, stand er keineswegs an der Spitze der freiheitsliebenden Avantgarde, sondern agierte im Gegenteil sehr konservativ und reaktionär.

Einmal positiv, einmal negativ

Genau das macht die Beurteilung der Türkei so schwierig: Ein und dieselbe Person wird von unterschiedlichen Menschen aus verschiedenen politischen Spektren ganz unterschiedlich beurteilt – einmal positiv und einmal negativ.
Und vielleicht gibt es tatsächlich viele unterschiedliche Seiten, so wie das beim Militär der Fall ist. Dieses zeigt sich einerseits sehr repressiv, was die Frage der Freiheitsrechte und der Minoritäten betrifft, wirkt aber andererseits, insbesondere bei den Wirtschaftsreformen und vielleicht auch beim Kampf gegen die Korruption, durchaus progressiv. Möglicherweise auch deshalb, weil man beweisen möchte, dass es des Militärs bedarf, solange zumindest die politischen Kräfte nicht reformfähig sind.
Und da gibt es von vielen in der Türkei, aber auch außerhalb, eine große Hoffnung in der Person von Kemal Dervisch, dem neuen Wirtschaftssuperminister, der in den letzten Umfragen der einzig wirklich beliebte Politiker ist, dem man in Politik und Wirtschaft Vertrauen entgegenbringt. Er käme sicherlich dafür in Frage, eine neue, offene Sozialdemokratie zu gründen und damit auch bei den nächsten Wahlen einen starken Vertrauenszuschuss zu erringen.

Bremsklotz Ecevit

Dass das seinem ursprünglichen Mentor Ecevit nicht Recht sein wird, liegt auf der Hand. Aber Ecevit ist ein Politiker der Vergangenheit und viele hoffen doch, dass er sich bald zurückziehen wird, um den Weg für Personen mit offeneren Ideen und mehr Reformbereitschaft frei zu machen.
Insbesondere in der Zypern-Frage ist Ecevit ein unumgänglicher Bremsblock, hat er doch Zypern damals – je nach Sichtweise – befreit bzw. besetzt. Ecevit legt in der Zypernfrage eine besondere Hartnäckigkeit an den Tag und ist nicht bereit, an einer gemeinsamen Lösung auf Zypern zwischen der türkischen und griechischen Volksgruppe mitzuarbeiten. Genau das wäre aber auch die Voraussetzung dafür, dass sich die Türkei wirklich an die Europäische Union annähern kann.
Offen ist ausserdem die Zusammenarbeit und die Bereitschaft, der Türkei zuzugestehen, dass sich die Europäische Union im Fall des Falles der Instrumente der NATO bedienen darf. Ich verstehe, dass die Türkei im Regionalbereich ein gewisses Recht der Involvierung, der Information und der Beteiligung am Entscheidungsprozess bedarf. Eine Art Vetorecht kann es allerdings sicher nicht geben.
Bleibt die Hoffnung auf eine Einigung. Man hat sich auch fast schon geeinigt, aber das Militär dürfte einmal mehr die Zustimmung, die Aussenminister Cem und Premierminister Ecevit bereits gegeben haben, blockiert haben. Was wieder einmal darauf hinweist, wo die wirkliche Macht in ganz entscheidenden Fragen in diesem Land liegt.  
Istanbul, 19.6.2001