In der Mitte Europas

Wie weit soll die Erweiterung gehen? Welche Etappen folgen noch? Und wann hört sie auf?
Die vergangenen Tage, die ich in Mitteleuropa verbracht habe – von Udine über Bratislava und Prag bis nach Sofia – haben mir deutlich vor Augen geführt, wie nahe heute unterschiedliche Welten liegen, die vor einiger Zeit noch sehr weit voneinander entfernt waren.

Eine gemeinsame Region

In Udine erlebt man die Mischung von italienischen, slowenischen und österreichischen Einflüssen, unter anderem an den Namen und an der Sprache. Bratislava, knapp vor Wien liegend, war fast 200 Jahre lang die ungarische Hauptstadt, und Kaiserin Maria Theresia ist hier zur ungarischen Königin gekrönt worden. Auch Prag blickt auf eine lange mitteleuropäische Geschichte zurück. Hier ist die erste deutsche Universität gegründet worden, und in Monarchie-Zeiten sprach man hier das beste und reinste Deutsch. In Sofia wurden wir schließlich während einer kurzen Stadtführung darüber informiert, dass es Kaiser Franz Josef war, der der bulgarischen Hauptstadt jene gelben Pflastersteine geschenkt hat, die man überall im Zentrum der Stadt sieht.
Menschen, die nicht aus dieser Region kommen, können sie vielleicht auch nicht so gut verstehen. Die leise Ironie über die österreichisch-ungarische Monarchie oder den Balkan sind ihnen fremd. Wenn man allerdings die Entfernungen innerhalb dieser Region – insbesondere von Wien aus – betrachtet, dann eröffnen sich einem auch ihre Besonderheiten.

Destinationen

Ich habe dies im Bordmagazin der AUA getan und mir die einzelnen Flugentfernungen im Detail angesehen. Salzburg beispielsweise liegt demnach 267 Kilometer von Wien entfernt. Innerhalb der gleichen Distanz liegen die Städte Laibach, Zagreb, das ungarische Pécs, Budapest, Bratislava, Prag und Udine. Möchte man in den äußersten Westens Österreichs kommen, dann fliegt man nach Altenrhein. Innerhalb dieser Strecke, die 528 Kilometer beträgt, liegen Städte wie Belgrad, das ostslowakische Kosice, Krakau und Sarajewo, aber auch Split und Timisiora im Westen Rumäniens, wo deutsche, ungarische und rumänische Bevölkerungsteile aufeinander treffen.
Nimmt man nun die Entfernung von Wien zur europäischen Hauptstadt Brüssel – 924 Kilometer – dann fallen in diesen Radius Städte wie Warschau, Bukarest, Iasi im Norden Rumäniens, Chisinau, die Hauptstadt Moldawiens, L´viv, also Lemberg, Odessa und Kiew in der Ukraine, Minsk, die Hauptstadt Weißrusslands und Städte der Balkanregion wie Ohrid, Podgorica, Pristina, Skopje und Tirana, und schließlich Sofia, die Hauptstadt Bulgariens.

Völkergemisch

Zieht man diese Städte als Symbole für die Völkermischung heran, so erkennt man, dass sehr viele Völker, Kulturen und Religionen innerhalb dieses Kreises gelegen sind. Manche herausragenden kulturellen Eigenschaften, die sich in dieser Region herausgebildet haben, hängen zweifellos mit dieser Vielfältigkeit zusammen. Ebenso wie verschiedene mächtige Einflüsse aus Österreich-Ungarn über Russland bis hin zur Türkei, aber auch aus den Westmächten, die zu Kriegen geführt haben.
Erst langsam konnten sich unabhängige, freie und demokratische Staaten entwickeln. Und in diesen nunmehr demokratischen Staaten muss jetzt in der Folge ein neues europäisches Bewusstsein entstehen. Die Menschen sollen sich nicht nur als Europäer fühlen, sondern auch europäische Standards und Werte anerkennen und sich in eine europäische Wirtschafts-, aber auch Politische- und Rechtsgemeinschaft einfügen. Das ist ein äußerst langwieriger, aber umso notwendigerer Prozess.

Verschiebungen auf der Landkarte

Wir haben in diesen vergangenen Tagen immer wieder darüber gesprochen, wie weit die Erweiterung gehen soll. Welche Etappen folgen noch? Und wann hört sie auf? Für mich steht fest, dass die Entwicklung mit der Aufnahme Rumäniens und Bulgariens noch nicht zu Ende ist. Ich habe erst kürzlich einen Beitrag von David Albahari, einem in Kanda lebenden serbischen Schriftsteller, in der Neuen Züricher Zeitung gelesen. Albahari meinte, dass sich in den letzten Jahren die Landkarte Europas sehr verändert hat und sich die einzelnen Regionen verschoben haben.
In seinem literarischen Beitrag ist folgendes zu lesen: „Als ich eines Tages in Calgary einen Bekannten besuchte, hing in seiner Wohnung eine Landkarte. Ich identifizierte sie nicht sofort als die Karte Europas, weil mir vieles auf ihr falsch schien. Die ehemaligen osteuropäischen Staaten befanden sich fast in der Mitte. Westeuropa war nach links gerückt. Die baltischen Staaten lagen nicht mehr so weit im Osten. Die Balkanhalbinsel befand sich nicht im zentralen südlichen Teil, sondern war nach unten gerutscht in Richtung Türkei und Asien.“

Gemeinsame Mitte

David Albahari will damit zum Ausdruck, dass durch die Veränderungen und Entwicklungen der letzten Jahre Osteuropa und die baltischen Staaten mehr in die Mitte Europa gerückt sind, aber umgekehrt die Balkanhalbinsel vom eigentlichen Europa in Richtung Türkei und Asien weg gerückt ist. Das darf aber aus meiner Sicht nicht sein.
Die Veränderung der Landkarte muss so erfolgen, dass sich alle in der Mitte wieder finden und ein gemeinsames Europa bilden – und das ist auch die große Chance Östererichs und vor allem Wiens. Eine Verschiebung, bei der beispielsweise Rumänien und Bulgarien – bildlich gesprochen – in die Mitte rücken und dadurch zugleich der Balkan und Süd-Osteuropa von Europa weg gerückt werden, ist jedenfalls nicht akzeptabel.

Balkan nicht wegrücken

Das Wegrücken geschieht in gewissem Ausmaß ohnehin automatisch, etwa durch die Visaverpflichtungen, die jetzt beispielsweise die Mazedonier gegenüber den ihnen sehr nahe stehenden Bulgaren hinnehmen müssen. Genau aus diesem Grund setze ich mich massiv für eine vernünftige, stufenweise Aufhebung der Visaverpflichtungen ein, soweit die Länder selbst ihren Verpflichtungen nach Grenzkontrollen und Rücknahme illegaler Flüchtlinge, etc. nachkommen.
Wir sollten das Wegrücken des Balkans nicht akzeptieren. Das wäre schon deshalb extrem unfair, weil sich zum Beispiel Kroatien sehr positiv entwickelt hat und in vielen Bereichen besser da steht als Rumänien und Bulgarien. Wir müssen daher darauf achten, dass der Balkan nicht zum dunklen Fleck wird, der sich von Europa entfernt, sondern durch verschiedene gezielte Schritte weiter an Europa herangeführt und gebunden wird.

Erweitern und vertiefen

Langfristig gilt diese Perspektive auch für die Ukraine. Hier wird es allerdings noch unzähliger Zwischenschritte bedürfen. Überdies bleibe ich bei meiner Überzeugung, dass es notwendig sein wird, an diesem Europa noch etliche Veränderungen vorzunehmen. Nur so kann die Entscheidungsfähigkeit Europas aufrechterhalten werden. Und nur so können wir Europa durch die Erweiterung stärken und nicht schwächen.
In meinem Beitrag zur Diskussion, die wir in Prag im Rahmen des „Zivilen Forums“ geführt haben, habe ich festgehalten, dass die Europäische Union durch eine Verhinderung der Erweiterung keinesfalls stärker wird. Eine Erweiterung ohne gleichzeitige Vertiefung und Ertüchtigung der Europäischen Union allerdings würde die EU zweifellos schwächen. Aufgrund dieses asymetrischen Verhältnisses genügt es nicht, mit der Erweiterung zuzuwarten. Es gilt vielmehr, die Vertiefung vorzunehmen und die Entscheidungsfähigkeit der Europäischen Union zu stärken. Im Anschluss müssen die anstehenden Erweiterungen vorgenommen und in diese stärke Union eingefügt werden.

Mut und Vision

Das ist der einzige Weg, der mir fruchtbar und vernünftig erscheint. Ich hoffe, dass die derzeit herrschende Müdigkeit – und diese betrifft die Erweiterung und die Vertiefung gleichermaßen – überwunden werden kann und wir kräftiger und mit mehr Mut und Vision in die Zukunft gehen werden.

Sofia, 1.4.2006