In der Vojvodina

In der Vojvodina gibt es keine organisierte Hetze auf Minderheiten. Zum Teil herrscht allerdings ein Klima vor, in dem Angriffe auf Personen und Schmieraktionen von der serbischen Bevölkerungsgruppe toleriert und mit Nachsehen akzeptiert werden.
Im Spätherbst des vergangenen Jahres kam es zu einigen spektakulären Zwischenfällen in der Vojvodina, der Grenzregion Serbiens zu Ungarn. Opfer der Attacken waren vor allem – jugendliche – Vertreter der ungarischen Minderheit. Es gab aber auch Friedhofsschändungen, und in hasserfüllten Graffitis wurden verschiedene Minderheiten inklusive der Juden angegriffen.

Weder Staatsanwalt noch Richter

Unsere ungarischen ParlamentskollegInnen drängten uns, auf der Stelle in die Vojvodina zu reisen, um dort „Anklage gegen Serbien und dessen Politiker“ zu erheben. Doris Pack, die Vorsitzende der Süd-Osteuropa Delegation der EU-Parlaments und ich als ihr erster Stellvertreter wollten jedoch nicht Staatsanwalt und Untersuchungsrichter spielen, sondern den tieferen strukturellen Ursachen auf den Grund gehen, in der Folge mit den verantwortlichen Politikern sprechen und erst danach unsere Empfehlungen abgeben.
Ende Jänner war es dann soweit: Wir flogen nach Belgrad, um von dort mit dem Auto in die Vojvodina zu gelangen, zunächst nach Subotica. Im Rathaus – in ungarischem Stil gehalten – trafen wir die VertreterInnen aller Religionen, die lokalen PolitikerInnen mit dem ungarischsprechenden Bürgermeister an ihrer Spitze und im Anschluss die jüngsten Opfer der Angriffe.

Vor Ort

Die VertreterInnen der Religionsgemeinschaften waren sehr um Konsens bemüht und hatten erst kürzlich gemeinsame Aktionen gegen Hass und Intoleranz gesetzt. Die politischen VertreterInnen der ungarischen Volksgruppen sowie anderer Minderheiten – insbesondere der Kroaten – plädierten für eine vehemente Verbesserung, vor allem auf dem Gebiet der Erziehung und Ausbildung. So forderten sie eine eigene – ungarischsprachige – Universität in Subotica und nicht nur Dependancen der Universität von Novi Sad.
Die Jugendlichen wiederum schilderten die Vorfälle – aus ihrer Sicht selbstverständlich – und zeigten Fotos von durch serbische Jugendlichen verursachte Verletzungen – in erster Linie durch Banden. In mehreren Fällen kam es sogar zur Umkehrung der Schuld, und nicht die Angreifer, sondern die Angegriffenen wurden als Unruhestifter dargestellt.

Qualifizierung der Delikte

Bei der – ungarischsprachigen – Vorsitzenden des Distriktgerichtes wurde schließlich ein Grundproblem angesprochen: die Qualifizierung der Delikte. Im Falle der Qualifizierung als Delikt mit rassistischem Hintergrund und als Aufruf zum Hass auf Minderheiten oder Religionen müssten diese Delikte vor das Distriktgericht und würden entsprechend hart bestraft werden. Werden sie jedoch als primär normale kriminelle Handlungen qualifiziert, dann werden sie lediglich vor dem Ortsgericht abgehandelt. Genau um diese Frage ging es bei Gesprächen mit der Polizei in Subotica, in Temerin – unserem nächsten Besuchsort – und schließlich in Novi Sad.

Veränderung der Bewohnerstruktur

In Temerin trafen wir auch den Bürgermeister der Stadt, der für die Serbische Radikale Partei kandidiert hat. Dabei handelt es sich um eine stark nationalistische Partei mit dem Vorsitzenden Vojislav Seselj, der derzeit in Den Haag auf einen Kriegsverbrecherprozess wartet. Das Misstrauen des Bürgermeisters uns gegenüber, aber auch von uns ihm gegenüber, war deutlich spürbar, auch wenn er sich keine allzu große Blöße gab. Er war stolz, einen Polizeichef in seinem Ort zu haben, der aus der ungarischen Minderheit kommt – allerdings konnte dieser nur schwer Ungarisch verstehen oder wollte es vor dem Bürgermeister nicht zeigen.
Temerin hatte sich in der Vergangenheit durch mehrere Zwischenfälle „ausgezeichnet“. Ein Problem, auf das wir in diesem Ort stießen, war die Veränderung der Bewohnerstruktur. Die jungen Ungarn, die eine bessere Ausbildung und Chance auf einen Arbeitsplatz anstrebten, wanderten nach Ungarn aus. Serbische Flüchtlinge aus dem Kosovo und aus Kroatien wanderten hingegen zu. So sieht sich die ungarische Bevölkerungsgruppe durch selektive Ab- und Zuwanderung immer mehr in einer – kleiner werdenden – Minderheitsposition. Auch wenn die serbische Zuwanderung primär in serbisch dominierte Regionen und Städte erfolgt, verändert sich die Bevölkerungsstruktur merklich.

Aufbruch ins Unfassbare

In Novi Sad, der Hauptstadt der Region, sahen wir am nächsten Morgen zuallererst die junge Bürgermeisterin der Stadt, die auch fließend Deutsch spricht und Englisch gut versteht. Keinen Zugang hat sie allerdings zum Ungarischen. Auch sie hatte auf der Liste der Serbischen Radikalen Partei kandidiert, und sie soll über sehr gute Kontakte zu Vojislav Seselj verfügen. Dazu im Gegensatz standen ihr Charme und die Eloquenz, die sie versprühte. Hinter dieser Fassade dürfte sich aber durchaus eine starke serbisch nationalistische Haltung auch in ihrer Tagespolitik verstecken.
Nach einem sachlichen und korrekten Gespräch mit der Polizei besuchten wir eine Siedlung der Roma bzw. Aschkali, also jener Roma-Gruppe, die aufgrund der Behandlung durch die Albaner aus dem Kosovo vertrieben worden sind. Es war schrecklich anzusehen, wie tausende Menschen im tiefsten Winter in Hütten ohne Heizung und natürlich ohne Wasser hausen, die Kinder zum Teil barfuss. Die wenigen zentralen WC-Anlagen waren überdies kaputt. Dass solche Zustände in unserem Jahrhundert in der Mitte Europas möglich sind, ist unglaublich und ein riesengroßer Skandal.

Roma-Dekade

Hilflos und erschüttert fuhren wir zurück ins Zentrum der Stadt, wo ein Gespräch mit mehreren Nichtregierungsorganisationen stattfand. In wenigen Tagen sollte in Sofia durch mehrere süd-osteuropäische Politiker die Dekade der Roma-Politik ausgerufen werden. Ich hoffe, dass diese Initiative etwas hilft.
Ich jedenfalls werde meine Bemühungen, dieser vernachlässigten Bevölkerungsgruppe in Europa zu helfen, noch verstärken. Niemanden, der auch nur ein bisschen Herz hat, kann diese furchtbare, unmenschliche Situation, wie wir sie am Rande von Novi Sad in „Klein Belgrad“ erlebt haben, kalt lassen.

Erziehungs- und Bildungspolitik

Mit den VertreterInnen der „zivilen Gesellschaft“ diskutierten wir vor allem die Frage der Erziehungs- und Bildungspolitik. Einige von ihnen zeigten sich allerdings rückwärtsgewandt – ihnen ist die Rückgabe von Eigentum wichtiger als das zukünftige Zusammenleben. Recht haben sie, wenn sie betonten, dass die einseitige Geschichtsdarstellung der Serben ein friedliches Zusammenleben erschwert. Gleiches gilt aber für manche VertreterInnen der ungarischen Minderheit.
Richtig ist, dass etliche Ungarn mit faschistischen Kroaten viele Serben umgebracht haben. Und ebenso richtig ist, dass – 1944 – viele Ungarn wahllos und ohne konkrete Schuld aus Rache von den Serben umgebracht wurden. Die historischen Tatsachen sollten von beiden Seiten angesprochen und anerkannt werden. Daraus muss aber die Basis für ein friedliches Zusammenleben entstehen und nicht eine Grundlage für neuerlichen Streit und Hass.

Gemeinsame Lebenswelten

Was nun die Gestaltung des Erziehungssystems angeht bin ich sehr für eine Stärkung des ungarnsprachigen Elements, allerdings gegen eine allzu starke Trennung in ein serbisches und ein ungarisches Bildungssystem. Meiner Meinung nach bedarf es nicht weniger, sondern mehr Kontakte. Und es geht nicht um getrennte Lebenswelten, sondern um Differenzierungen in einer gemeinsamen Lebenswelt – um gemeinsame Schule, Universitäten, etc. Die Spitzenausbildung, beispielsweise in den Naturwissenschaften, müsste darüber hinaus ohnedies in Englisch erfolgen.
Sehr angenehm verliefen die Gespräche mit den gemischtsprachigen VertreterInnen der Regionalregierung der Vojvodina. Wir wünschten uns gemeinsam, dass eine erweiterte Autonomie den regionalen Verantwortlichen auch mehr Einflussmöglichkeiten einräumen würde.

Multikulturalität beachten

Den Abschluss unserer Reise bildeten die Gespräche in Belgrad, noch am Abend mit unserem Botschafter und am folgenden Tag mit dem Innen- und Justizminister sowie dem serbischen Präsidenten Boris Tadic sowie Ministerpräsident Vojislav Kostunica in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Minderheitenrates. Insgesamt waren sich die Politiker – am wenigsten der Innenminister, am meisten Präsident Tadic – bewusst, dass sich Serbien mehr bemühen muss, die Multikulturalität des Landes stärker zu beachten.
Will Serbien der EU beitreten bzw. die vorbereitenden Schritte tun und will es seine Minderheit im Kosovo geschützt sehen, dann muss es auch die eigenen Minderheiten schützen und fördern. Diese wiederum müssen auch Serbien als ihre Heimat anerkennen und gemeinsam mit allen Bevölkerungsgruppen an einer stabilen Zukunft im neuen Europa arbeiten. Allerdings wird ihnen das umso leichter fallen, je mehr sie nicht als Störenfriede, sondern als „Brücken“ zu den Nachbarn und zur EU insgesamt anerkannt werden. Ich glaube, dass die meisten Politiker Serbiens das verstanden haben. Aber nicht alle haben den Mut, eine solche Politik in die Tat umzusetzen.

Anfälliges Klima

Was nun die konkreten Vorfälle in der Vojvodina betrifft, so waren wir alle der Meinung, dass es keine organisierte Hetze auf die Minderheiten gibt. Zum Teil herrscht allerdings ein Klima vor, das solche Angriffe auf Personen und Schmieraktionen von der serbischen Bevölkerungsgruppe zumindest toleriert und mit Nachsehen akzeptiert werden. Und genau das dürfte nicht sein.
Ein korrektes Geschichtsbild, ein besseres Ausbildungssystem, mehr „Minderheitenvertreter“ in der Verwaltung, bei der Polizei und bei Gericht – all dies könnte dem friedlichen Zusammenleben und dem ohnedies schwierigen Weg Serbiens in die EU hilfreich sein.

Belgrad, 30.1.2005