In der Warteschleife

Bulgarien muss die Schritte einer Anpassung an die EU konsequent fortsetzen – auch wenn es nicht in der ersten Erweiterungsrunde dabei sein wird.
Gestern und heute war ich wieder einmal in Sofia, der Hauptstadt Bulgariens. Diesmal nahm ich an einer grösseren Delegation teil, einer Art „fact finding Mission“, die vor allem das Ziel hatte, die Entwicklung der grossen sozialdemokratischen Partei, der BSP, zu bewerten und die Einigungs- bzw. Nichteinigungstendenzen mit den verschiedenen anderen linken Gruppierungen einzuschätzen.

Vom Parteivorsitzenden zum Präsident

Der erste Besuch galt allerdings dem Präsidenten des Landes, Georgi Parvanov. Bisher habe ich Parvanov immer nur als Parteivorsitzenden getroffen, als einen noch etwas unsicheren, sehr sympathischen und wahrscheinlich von einigen Selbstzweifeln geprägten Vorsitzenden der BSP. Jetzt ist er Präsident von Bulgarien geworden, was niemand für möglich gehalten hatte, nachdem Parvanov kurz zuvor die Parlamentswahlen verloren hatte. Er ist wesentlich selbstsicherer geworden und versucht ernsthaft, ein Präsident für das ganze Land zu sein. Zweifellos ist die Zusammenarbeit, die Cohabitation, wie es im Französischen heisst, mit der Regierung, der zumindest formal keine Sozialisten angehören, nicht leicht.

Der „König“

Die bulgarische Regierung wird von Simeon II gebildet, jenem bulgarischen Thronfolger, der nach dem Krieg als Kind seine Heimat verlassen hat, der im Wahlkampf nur sehr partiell des Bulgarischen mächtig war und mittlerweile einiges dazu gelernt hat.
Dieser Simeon II, der oft nur als der „König“ bezeichnet wird, ist ein Mann, der einer Sammlungsbewegung vorsteht, die gerade in diesen Tagen in Schwierigkeiten geraten ist und einige Misstrauensanträge zu verzeichnen hat. Er hat Bulgarien Verbesserungen innerhalb von 800 Tagen versprochen, was es ganz einfach nicht geben kann. Im Gegenteil: gerade die vom AMF vorgeschriebenen Reformen sind etwas, was der Verbesserung der sozialen Lage, der Pensionen etc. zumindest kurzfristig entgegensteht.
Simeon II bestätigte alles, was ich über ihn gehört hatte: seine populistisches Auftreten, seine Unerfahrenheit in politischen Dingen, seine holprige Sprechweise in der offiziellen Sprache des Landes. Wir trafen ihn unmittelbar nach dem Besuch bei Präsident Parvanov. In dieser persönlichen Begegnung erschien er mir dennoch durchaus umgänglich und offen. Dies wird auch allgemein anerkannt. Trotzdem sind das nicht unbedingt jene Eigenschaften, die Bulgarien an der Spitze seiner Regierung braucht, wenn es gilt, dringend notwendige Reformen durchzuführen.
Es wäre zweifellos ideal, würden der Präsident des Landes, Parvanov, und der Regierungschef, Simeon, die Plätze tauschen. Der eine wäre wahrscheinlich der perfekte Präsident, und der andere der optimale Ministerpräsident. Das geht allerdings nicht, und so muss Bulgarien auf absehbare Zeit mit dieser eigenartigen Kombination leben.

Das Zünglein an der Waage

Wir trafen in der Folge den Präsidenten des Parlament und seine Stellvertreter und konnten bei dieser Gelegenheit einen umfassenden Einblick in die politische Lage nehmen. Auch die Vorsitzenden und wichtigsten Frauen und Männer jener Partei, die in Bulgarien lange Zeit das Zünglein an der Waage war – sowohl bei der Regierungsbildung, als sie Simeon, als auch bei der Präsidentschaftswahl, als sie den sozialistischen Kandidaten unterstützt haben, standen auf unserem Besuchsprogramm. Es handelt sich um die türkische Partei, die sich als „Partei der Menschenrechte“ bezeichnet, eine Partei, die vor allem die Moslems von Bulgarien, insbesondere jene türkischer Herkunft, repräsentiert.
Ich stehe bereits seit längerem mit dieser Partei in Kontakt, weil es mir besonders wichtig erscheint, dass die türkische Partei im Sinne der Integration und des Respekts der Minderheitenrechte gerade auch von den Sozialisten mit ins Boot genommen wird. Zudem waren bisher die Vorgänger der Sozialisten, die Kommunisten, jene, die mit den Rechten und Chancen der Moslems eindeutig am schlimmsten umgegangen sind. Sie haben sie zum Teil vertrieben und haben sie gezwungen, ihre Namen zu ändern, um sie zu „bulgarisieren“. Es galt und gilt daher, diese kommunistische Vorgangsweise durch ein gutes Verhältnis mit jener Partei, die von vielen Türken als ihre Partei angesehen wird, zu korrigieren.

Keine doppelte Zurückweisung

Die übrigen Gespräche am Abend und am heutigen Morgen drehten sich vor allem um den Versuch, von europäischer Ebene aus alle linken Gruppierungen dazu zu bewegen, gemeinsam mit der BSP eine grosse und einheitliche sozialdemokratische Partei zu bilden und so eine tragfähige, pro-europäische und konstruktive Linke in Bulgarien sicherzustellen. Ein Problem, das alle Gespräche gekennzeichnet hat, war das, was die Bulgaren fälschlicherweise als die doppelte Zurückweisung bezeichnen: die Ablehnung der Mitgliedschaft Bulgariens in der NATO beim NATO-Rat in Prag im Herbst und die Ablehnung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union gegen Ende des Jahres. Beides sind allerdings keine Ablehnungen. Was jedenfalls die EU betrifft, so war von Anfang an klar und wurde auch von Bulgarien und Rumänien so gesehen, dass diese beiden Länder nicht bei der ersten Runde dabei sein werden. Der wirtschaftliche Abstand, die massiven Umsetzungsprobleme oder Mängel im Bereich der Gerichtsbarkeit sind doch deutliche Argumente dafür, dass sich Bulgarien und Rumänien noch Zeit nehmen sollten, sich an europäische Entwicklungen anzunähern.
Die extrem unglückliche Äußerung in der Erklärung der europäischen Aussenminister, dass man daran denken könnte, alle Länder gleichzeitig aufzunehmen, wurde nachträglich so interpretiert, dass zwar alle gleichzeitig, aber zu einem späteren Zeitpunkt, als ursprünglich vorgesehen, aufgenommen werden sollten. Sie hat in Bulgarien und Rumänien zu Hoffnungen geführt, die aus meiner Sicht nicht begründet sind.

Orientierungsdatum wäre sinnvoll

Bei einer Verschiebung der NATO hinsichtlich Bulgariens und einer aus heutiger auszuschließenden Teilnahme Bulgariens und Rumäniens an der ersten Erweiterungsrunde könnten sich zweifellos psychologische Probleme ergeben. Für diesen Fall scheint es jedenfalls sinnvoll zu sein, ein Orientierungsdatum anzugeben, wann die nächsten Erweiterungsschritte stattfinden könnte.
Aus meiner Sicht sollte übrigens auch Kroatien bei dieser nächsten Erweiterungsrunde dabei sein. Kroatien steht wirtschaftlich etwas besser da als Rumänien und Bulgarien, es hat sehr viel unternommen, um seinen wirtschaftlichen Rückstand aufzuholen. Auch wenn die Flüchtlingsrückkehr noch nicht optimal geregelt ist, glaube ich trotzdem, dass Kroatien jedenfalls gleichwertig mit Rumänien und Bulgarien zu behandeln ist. Ein weiteres Land aus der Balkanregion, das ebenfalls bei dieser Erweiterungswelle dabei sein könnte, sehe ich nicht.

Notwendige Reformen weiterverfolgen

Die Bulgaren fürchten – nicht ganz zu Unrecht – dass mögliche Schwierigkeiten der kommenden Erweiterungsrunde, falls tatsächlich 10 Mitglieder beitreten, dazu führen werden, dass man sich vor einer weiteren Erweiterungsrunde entsprechend Zeit lassen möchte. Hier müssen in der Tat die richtigen Überlegungen angestellt werden. Es ändert aber nichts daran, dass die Schritte einer Anpassung an die EU in Bulgarien weiterhin konsequent gesetzt werden müssen.

Ein solcher Schritt wäre etwa die Schließung des Kraftwerkskomplexes in Kosloduj, die die Europäische Union gefordert hat. Es handelt sich um Kraftwerke sowjetischen Typs, die nicht umrüstbar sind. Die EU hat einen Zweistufenplan für die betroffenen Kraftwerksblöcke vorgesehen. Da diese für die Wirtschaft sowie den Export wichtig sind, gibt es die Tendenz, zumindest eine Verschiebung des Schließungstermines zu verlangen.
Das ist ein heikles Problem, das im Detail analysiert werden muss. Auf der einen Seite steht die Schließung der Kraftwerksblöcke mit ihren negativen wirtschaftlichen Konsequenzen, auf der anderen Seite sind wir allerdings mit dem Risiko konfrontiert, dass es bei einem Weiterbestehen der Kraftwerksblöcke zu entsprechenden Unfällen kommt. Ob es einen Kompromiss in Form einer späteren Schließung der Kraftwerke geben wird, ist aus heutiger Sicht nicht zu sagen. Diese Frage wird uns in den kommenden Monaten intensiv beschäftigen.  
Sofia, 9.3.2002