Inbesitznahme von oben

Ich kann nichts anderes tun, als das zu beschreiben, was ich gesehen habe und versuchen, meine dabei entstandenen Gefühle zum Ausdruck zu bringen. 
Auch der dritte Tag war nicht gerade aufbauend. Es war ein herrlicher Tag mit blauem Himmel und einem leichten warmen Wind. Ein politisch-historischer Gang durch Jerusalem war angesagt.

Die ewige Hauptstadt

Inzwischen ist auch in Jerusalem die Bewegungsfreiheit selbst für ausländische Besucher eingeschränkt, weder kommt man der Moschee nahe noch der Klagemauer. Das verstehe ich auch, die Angst vor Terroranschlägen ist einfach zu groß. Aber inzwischen – seit meinem letzten Besuch – ist die schleichende jüdische Besitzergreifung im palästinensischen Bereich Jerusalems, also in Ostjerusalem, hinzugekommen. Man baut auf den Flachdächern der arabischen Häuser und besetzt dadurch die Stadt einfach von oben. Auf diesem Weg werden Wohnungen, Gärten, Spielplätze etc. für die jüdische Bevölkerung errichtet.
Symbolischer kann eine Inbesitznahme kaum erfolgen. So möchte Israel den Beweis führen, dass Jerusalem die immerwährende Hauptstadt Israels ist, und zwar nur Israels!
Ich bin mir bewusst, dass selbst gutwillige, geschweige denn böswillige Leser dieser Zeilen einen antiisraelischen Ton herausspüren können. Ich kann allerdings an dieser Stelle nichts anderes tun, als das zu beschreiben, was ich gesehen habe und versuchen, meine dabei entstandenen Gefühle, zum Ausdruck zu bringen.

Ungleicher Kampf

Das Problem liegt nicht in meiner Sichtweise begründet, sondern im Fanatismus, vor allem im religiösen Fanatismus. Wenn er noch dazu mit dem Besitz bzw. der Inbesitznahme von Grund und Boden verbunden ist, dann ergibt sich eine Konfliktsituation. Und wenn dabei eine Seite hochgerüstet ist und die andere Seite keine regulären Waffen besitzt, dann ist es ein Kampf zwischen Panzern und F 16 Bombern auf der einen und Selbstmordattentätern auf der anderen Seite.

Alle diese „Waffen“ führen zum Tod vieler Unschuldiger, allerdings: nicht alle werden gezählt, und nicht über alle wird berichtet – zumindest nicht in der gleichen Ausführlichkeit und mit der gleichen moralischen Entrüstung. Für mich ist jeder unschuldige Tote einer zuviel. Sei es ein Opfer eines Selbstmordattentats, sei es ein „Vergessener“ in einem Haus, das von Israels Militär geschliffen wird. Keine Religion und keine Ideologie rechtfertigt diese wahllosen Tötungen.

Gewaltspirale muss gestoppt werden

Vielen Israelis, vielen Juden außerhalb Israels ist diese Militarisierung und Brutalisierung Israels gegenüber den Palästinensern ein großes Ärgernis. Sie sind leider zu wenige, um die Regierungspolitik nachhaltig zu beeinflussen. Ich wünschte, es wären mehr, die sich die Verhältnisse vor Ort anschauen würden. Dann wäre die Stimme der Nicht-Juden glaubwürdiger und effektiver.

Mir und vielen anderen Kritikern der heutigen Verhältnisse liegt das Schicksal dieses leidgeprüften Volkes genauso am Herzen wie jenes der Palästinenser. Aber das ungeheure und unvergleichliche Leid des jüdischen Volkes rechtfertigt nicht die heutige israelische Politik. Dies Volk hat weder die israelische Aggression noch die entsetzlichen Selbstmordattentate verdient. Nur eine politische Lösung mit der Bereitschaft, zwei Staaten in Frieden nebeneinander und langfristig miteinander leben zu lassen, kann dem Terror ein Ende bereiten. Terror und Gewalt führen zu neuem Terror und zu noch unmenschlicherer Gewalt, aber nicht zu Frieden. 
Jerusalem, 03.12.02