Indien auf dem Vormarsch

Indien ist ein Land voll Widersprüchen und Gegensätzen. Und dennoch wird es in Zukunft auf dem internationalen Parkett sowohl politisch, aber noch mehr wirtschaftlich eine größere Rolle spielen.
Die Osterwoche führte mich privat nach Indien. Wir besuchten die Hauptstadt Delhi, Jaipur und Agra, sowie die Palastanlage von Fatehpur Sikri in der Nähe von Agra und schließlich Varanasi am Fluss Ganges.

Ein Land der Widersprüche

Indien ist ein faszinierendes, in seiner Armut oft erschreckendes Land. Und es ist ein Land, mit dem wir in der Zukunft rechnen müssen. Es hat eine Milliarde EinwohnerInnen und verzeichnet ein ungeheures Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum. Nach wie vor herrscht einerseits unglaubliche Armut in seiner Bevölkerung, aber andererseits steigt die Anzahl der Millionäre rapide. Indien ist also ein Land voll Widersprüchen und Gegensätzen. Und dennoch ist es ein Land, das in Zukunft auf dem internationalen Parkett sowohl politisch, aber noch mehr wirtschaftlich eine größere Rolle spielen wird.
Was mich bei meinen Reisen nach Indien immer wieder beeindruckt, ist die Geschichte dieses Landes, die vor allem in den letzten Jahrhunderten durch ein Zusammentreffen – manchmal ein Aufeinanderprallen, manchmal eine Symbiose – verschiedener Kulturen und Religionen gekennzeichnet ist. Im Vordergrund stehen zweifellos die hinduistische und die islamische Religion, aber auch die Sikhs, die Buddhisten und das Christentum haben ihre Spuren hinterlassen – nicht nur an den verschiedenen Gebäuden, sondern auch bei den heutigen Diskussionen und Auseinandersetzungen in Indien.

Fatehpur Sikri

Was die baulichen Strukturen betrifft, möchte ich insbesondere die Palastanlage von Fatehpur Sikri erwähnen, eine Anlage, die vom Mogul Akbar errichtet worden ist. Er war von seiner Herkunft her Muslime und war mit Frauen aus der muslimischen, christlichen und hinduistischen Religion verheiratet. Er selbst führte einen intensiven Dialog mit den verschiedenen Religionen und versuchte, eine eigene Religion aus den verschiedenen Religionen zu destillieren und zu vertreten – allerdings ohne großen Erfolg.
Akbar und die in roten Sandstein gebaute Anlage von Fatehpur Sikri symbolisieren für mich die Möglichkeit, verschiedene Religionen zusammenzubringen, die Möglichkeit, dass Herrscher, die einer bestimmten Religion angehören, trotzdem auch große Toleranz gegenüber anderen Religionen und Kulturen zeigen können.

Das Taj Mahal

Ähnlich ist es mit der Anlage des Taj Mahals des indischen Großmoguls Shah Jahan, die in ihrem Baustil, mit ihren Ornamenten, etc. ebenfalls verschiedene Religionen zum Ausdruck bringt. Das Taj Mahal ist eigentlich ein Grabmal für die Frau von Shah Jahan und als solches weist es auch viele persische Einflüsse auf. Wer schon einmal in Isfahan in Persien gewesen ist, wird viele Parallelen erkennen. Es gibt aber auch hinduistische Einflüsse an diesem Bauwerk.
Beide Herrscher, Akbar und Jahan, haben zweifellos in ihrer Amtszeit auch Gewalt ausgeübt und Eroberungen unternommen. Trotzdem scheint bei beiden immer eine grundlegende Moral und Kultur vorhanden gewesen zu sein und nicht jene Brutalität, die den Sohn von Jahan „ausgezeichnet“ hat. Er hat seinen Vater für lange Zeit ins Gefängnis gesperrt und seine Brüder getötet.

Am heiligen Ganges

Kommt man nach Varanasi an den Fluss Ganges, denkt man vor allem an die hinduistische Religion und an die Verbrennungen der Leichen am Fluss bzw. an die heiligen Waschungen im ebenso heiligen Fluss. Ganz in der Nähe von Varanasi ist auch die buddhistische Religion gegründet worden. Schon allein daraus ergibt sich die Vielfältigkeit, die Multireligiösität und damit auch die Multikulturalität dieser Stadt. Es gibt hier auch Moscheen, die angeblich und wahrscheinlich tatsächlich zum Teil anstelle von früheren Tempeln gebaut wurden. In der Zwischenzeit wurden aber auch diese wieder errichtet, und so stehen heute hinduistische Tempel Rücken an Rücken mit den Moscheen.
Die Tempel von Varanasi werden extrem streng bewacht. Man befürchtet, dass extremistische hinduistische Anhänger über eine Tempelanlage kommend die Moschee zerstören könnten. Das zeigt deutlich die andere Seite der Multikulturalität des Landes. Natürlich haben dominierende Religionen sehr oft auch die ursprünglichen Religionen verdrängt, und so haben auch der Islam und die islamischen Herrscher vielfach hinduistische religiöse Anlagen verdrängt und zerstört. Das zeigt sich auch bei einem der interessantesten Bauwerke in Delhi, dem sogenannten Qutub Minar. Auch hier haben islamische Herrscher Teile zerstörte Tempelanlagen verwendet, um eine großartige Anlage zu errichten.

Missbrauch der Religionsfreiheit

Heute gibt es in Indien Religionsfreiheit, allerdings wird diese von einem Teil der BürgerInnen immer wieder dazu missbraucht, andere Religionen zu unterdrücken, Kultstätten anderer Religionen zu zerstören und sogar Anhänger anderer Religionen zu töten, wie das vor einigen Jahren in sehr hohem Ausmaß in Gujarat passiert ist.
Wir wurden in Delhi von einem hervorragend deutschsprechenden Führer begleitet, der allerdings aus seiner Ablehnung, ja zum Teil Hass gegenüber der islamischen Religion keinen Hehl gemacht hat. Am Grabe Gandhis in Delhi haben wir ihn gefragt, wie seine Einstellung zu Gandhi sei und wie er ihn heute sieht. Der 20- jährige junge Mann antwortete uns ganz offen, er habe eine negative Einstellung gegenüber Gandhi, denn dieser habe sich für einen gemeinsamen Staat der Muslime und der Hindu ausgesprochen und auch nach der Teilung Indiens in Pakistan und Indien habe er befürwortet, dass die verbliebenen Muslime in Indien in Frieden und Freiheit leben könnten.

Ethnische Säuberung

Unser junger Führer meinte, wenn es schon diese zwei Staaten gäbe, sollten doch alle Moslems nach Pakistan auswandern. Er sprach sich also für eine klare, nicht nur geografische, sondern auch religiöse Trennung und damit letztendlich für die Vertreibung der Islame, also für eine ethnische Säuberung Indiens von den Moslems, aus.
Natürlich geben muslimische Fanatiker ebenso Anlass zu Sorge, Angst und Ablehnung, aber das gleiche gilt für die hinduistischen Fanatiker. Angesichts der großen Zahl der Muslime in Indien – immerhin ist Indien nach Indonesien das zweitgrößte islamische Land – müsste es aus meiner Sicht möglich sein, eine entsprechende Gemeinsamkeit herzustellen. Im Übrigen gab es auch Auseinandersetzungen mit den Sikhs, insbesondere nachdem einige von ihnen Indira Gandhi getötet haben – mit der Begründung, sie hätte das größte Heiligtum der Sikhs zerstört.

Religionsmissbrauch

Die religiösen Spannungen spielen in Indien also heute leider wieder eine große Rolle. Daher kann ich nur all jenen Recht geben, die meinen, dass Religion heute nach einer langen Phase der Säkularisierung und Nationenbildung – und zwar nicht nur in Indien, sondern weltweit – eine wachsende, auch politische Bedeutung zukommt. Und zwar nicht sosehr, weil einzelne BürgerInnen sie in den Vordergrund rücken, sondern vielmehr, weil politische Agitatoren die Religion missbrauchen. Sie versprechen, dass eine von den anderen Religionen und Kulturen gesäuberte Gesellschaft das Heil bringen wird, dass an den Problemen immer nur die anderen schuld sind und dass das Heil in einem sauberen, von fremden Einflüssen gereinigten Land zu suchen ist.
All diese Orientierungen, Sprüche und Agitationen sind ja auch uns in Europa, und insbesondere uns in Österreich, nicht unbekannt. Sie haben im Nationalsozialismus und im Faschismus ihre extremste und katastrophalste Auswirkung gehabt und sind leider auch heute in ihrer Tendenzen immer wieder bemerkbar. Angesichts der bestehenden globalen Entwicklungen und Migrationsströme liegt daher die einzige Chance darin, sich um entsprechende Toleranz und Respekt in multikulturellen, multireligiösen Gesellschaften zu bemühen. Multikulturell bedeutet ja nicht, dass man jegliche Form und jegliche Rechtssprechung akzeptiert und auf gemeinsame Grundsätze die die verschiedenen Kulturen und Religionen zu akzeptieren haben, verzichtet.

Integration als Chance

Die kürzlich geäußerte Meinung des anglikanischen Erzbischof von Canterbury, man sollte doch zumindest im privaten Bereich, etwa bei Scheidungen, auch in Großbritannien die Scharia gelten lassen, teile ich nicht. Diese Aussage war nicht von böser Absicht getragen, aber ich glaube dennoch, dass ein solches Vorgehen die Gesellschaft mehr spalten als einigen würde. Wir brauchen gemeinsame Grundsätze, gerade in Hinblick auf das Familien-, das Eherecht, etc. Denn nur eine solche Entwicklung fördert auch all jene Kräfte beispielsweise im Islam, die sich in unsere Rechte, Sitten und Moralvorstellungen integrieren möchten und die diese Integration auch als Chance für eine Reform des Islam sehen.
Damit bin ich bei einem Thema, das mich immer wieder beschäftigt. Es ist völlig sinnlos und kontraproduktiv, den Islam als solches zu geißeln. Es kann aus meiner Sicht vielmehr ausschließlich darum gehen, jene Kräfte im Islam zu fördern, die genau jene Auseinandersetzung führen, die wir als Nichtislame nicht führen können, weil wir nicht jenen Respekt und jene gemeinsame Grundlagen haben, um diese Auseinandersetzungen zu führen. Die Reformation, die Aufklärung ist ja auch ein innerer Prozess gewesen und konnte sich nur so entwickeln.

Nur der Dialog bringt uns weiter

In diesem Sinn sind die Attacken eines Gerd Wilders aus den Niederlanden und anderer, die glauben, sie müssen sich besonders groß hervortun, indem sie den Islam bekämpfen und ihn mit Gewalttätigkeit gleichsetzen, angesichts der Anzahl der Muslime dieser Welt völlig sinnlos und kontraproduktiv. Wir müssen einen Dialog mit dem Islam führen. Und wir müssen diesen Dialog so führen, dass wir die an einem Dialog interessierten Islame respektieren, sie zum Gespräch einladen und versuchen, die gemeinsamen Werte herauszuarbeiten.
Das gilt für Indien, für Europa, für die Vereinigten Staaten von Amerika und für China, das mit dem Problem Tibet genauso vorgehen muss. China muss Tibet gegenüber Respekt und Toleranz äußern und gleichzeitig auf gemeinsame Werte, auf gemeinsame Grenzen und auf Gemeinsamkeit im Staat pochen. Dazu hat China ein Recht. Es hat aber nicht das Recht, die kulturelle Entwicklung Tibets und der TibetanerInnen zu beschränken, zu begrenzen oder gar zu verhindern.

Delhi, 23.3.2008