Integration des Mittelmeeraumes

Wir müssen eine nachhaltige Mittelmeerassoziation anbieten, die eine tragfähige, möglichst gleichberechtigte Zusammenarbeit der Länder in dieser Region in Gang setzen kann.
Es ist ein herrlicher, warmer, sonniger Tag in Istanbul. Vor wenigen Tagen noch hat es hier geschneit. Jetzt zeigt sich Istanbul aber in seiner schönsten Form.
Anlass meiner Reise ist diesmal nicht die Türkei als solches, sondern eine Konferenz über die „Integration des Mittelmeerraums und die globale Wirtschaft“, so der genaue Titel. Ich habe versucht, in meinem Referat auf dieser Konferenz die Position der Europäischen Union darzustellen und mich auf zwei Punkte zu konzentrieren: auf die Vision einer gemeinsamen Zukunft sowie auf die Frage, was man von den Entwicklungen in Europa lernen bzw. wie man die Erfahrungen gemeinsam teilen kann.

Gemeinsame Zukunft

Bei den Überlegungen über eine gemeinsame Zukunft muss man davon ausgehen, dass die Europäische Union in den letzten Jahren eine Reihe von Instrumenten entwickelt hat, um die Nachfolge bzw. die Verwirklichung des so genannten Barcelona-Prozesses, also die Bedingungen zwischen dem Nord- und Südmittelmeerraum, zu stärken. Nicht zuletzt die Assoziierungsabkommen, die schon mit einer Reihe von Ländern geschlossen worden sind bzw. vor dem Abschluss stehen, versuchen einerseits den Handel mit der EU und in den betreffenden Ländern zu liberalisieren. Und andererseits sollen sie die Möglichkeit schaffen, den betroffenen Ländern bei der Reform der Umstrukturierung ihrer Wirtschaft zu helfen. Zudem gibt es das so genannte MEDA-Programm – ein Mittelmeerunterstützungsprogramm, das in Zukunft auch insofern effizienter agieren soll, als durch die einzelnen Vertreter in der Europäischen Kommission in den verschiedenen Ländern die Möglichkeit geschaffen werden soll, diese Programme dezentral und damit rascher und effizienter umzusetzen. In der Folge ist geplant, eine Reihe von fördernden Austauschprogrammen, vor allem für die Jugend und StudentInnen etc. ebenfalls auf die Länder auch außerhalb der Europäischen Union aufzuteilen.

Kommt die Mittelmeerbank?

Schliesslich gibt es ausserdem den Vorschlag, eine Mittelmeerbank zu schaffen. Und gerade darüber wird heftig diskutiert, bei diesem Kongress in Istanbul genauso wie im Außenpolitischen Ausschuss des Europäischen Parlaments, wo wir derzeit zwei Berichte zu Mittelmeerfragen diskutieren.
Ich bin, wie so viele andere, der Meinung, dass diese Bank in enger Verbindung mit der Europäischen Investitionsbank stehen soll, einer Institution, die sich bewährt hat. Und letztendlich sollte in dieser Verbindung auch zum Ausdruck kommen, dass die Europäische Investitionsbank Mehrheitseigentümer der Mittelmeerbank ist. Die Europäische Investitionsbank hat das Know-how und kann auch das Risiko bei einer Kapitalverteilung aufteilen und minimieren. Eine solche Bank könnte, wenn sie in klarer Führungsposition der Europäischen Investitionsbank ist, ausserdem sehr rasch aufgebaut werden.
Wie immer bei derartigen Fragen spielen aber nicht nur sachliche Kriterien eine Rolle, sondern auch emotionale. Und so besteht der Wunsch, insbesondere diese Bank als eigenständig anzusehen. Gar nicht so sehr seitens der Staaten Nordafrikas, sondern auch seitens der Europäischen Länder wie Spanien, die dementsprechenden Einfluss haben sollen und wollen.

Europäische Assoziation

Ich bin fest davon überzeugt, dass es eine Vision geben muss, wie dieser gemeinsame Raum zu betrachten ist, denn das Mittelmeer ist nichts anderes als ein See, ein großer Teich, um den herum sich mehrere Länder befinden – wenn auch in einer unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Lage. Unterm Strich muss das gemeinsame Interesse im Vordergrund stehen. Wir brauchen also zweifellos mehr als gute individuelle Beziehungen zwischen der EU und den Nicht-EU-Ländern. Und wir brauchen mehr als Freihandelsabkommen und einen Binnenmarkt. Wir brauchen eine politische und wirtschaftliche Union im Sinne einer europäischen Assoziation, die zwar weniger sein wird als die Europäische Union, aber sicherlich auch mehr sein als der Europarat.

Bevölkerungsausgleich zwischen Nord und Süd

Themen zur gemeinsamen, gleichberechtigten Behandlung und Entscheidung gibt es genügend: die Schaffung eines internen Marktes zählt ebenso dazu wie die Innere- und Äußere Sicherheit, die Migrationspolitik, die einen ganz wichtigen Faktor darstellt, der Aufbau der Infrastruktur oder der Schutz und die Pflege der Umwelt. Was die Migrationspolitik betrifft, war interessant, dass zum Beginn der Tagung der türkische Wirtschaftsminister Kemal Dervis gemeint hat, Europa leide unter der Situation, dass es zu wenig junge Menschen gibt. Das führe zu einem Mangel an Dynamik und zu Wachstumsschwächen. Im Süden aber gebe es genug junge Menschen, die bereit wären sich, zu engagieren. Deshalb müsste durch eine moderate Migrationspolitik Ausgleich geschaffen werden, sodass dem Norden Arbeitskräfte gegeben würden, und dem Süden Kapital, das von Europa kommt. Das ist eine etwas mechanistische Darstellung der Dinge, die in unseren Breitengraden schwer zu verkaufen ist. Dennoch ist diese Vision eines möglichen, demokratischen Bevölkerungsausgleiches zwischen Nord und Süd nicht unberechtigt.

Aus Erfahrungen lernen

Der zweite Punkt, der für mich bei diesem Thema eine zentrale Rolle spielt, ist das kritische Lernen von europäischen Erfahrungen. So weit ich das beurteilen kann, bedürfen die Länder des Mittelmeerraumes einer gut organisierten Reform des gesamten Wirtschafts- und Sozialsystems. Dann muss es aber auch einen Ausgleich zwischen wirtschaftlichen und sozialen Notwendigkeiten geben. Dabei sollte man nicht an die Globalisierungsgegner glauben, die meinen, man könne nach wie vor in einer geschlossenen Ökonomie leben.
Man sollte jedoch auch nicht an Marktfetischisten glauben, die sich nicht um die sozialen Konsequenzen der Liberalisierung und Globalisierung kümmern, insbesondere angesichts der demografischen Entwicklung und den hohen Arbeitslosenzahlen vor allem unter jungen Menschen. Letztendlich müssen alle Länder gemeinsam gegen eine Überbürokratisierung und gegen die Korruption kämpfen. Und es bedarf stabiler Verhältnisse in der Region, um private Investoren anzulocken.

Grundbedingung: Kooperationsbereitschaft

Schliesslich geht es in dieser Region auch um den Kampf gegen den Terrorismus, eine Auseinandersetzung, die in vielen Ländern auf der Tagesordnung steht. Dieser Kampf wird allerdings oft so geführt werden, dass er fundamentale Grundrechte missachtet, dass er ohne Rücksicht auf die schon erwähnte soziale Frage geführt wird, soweit nicht versucht wird, auch einen Grundkonsens in der Gesellschaft herzustellen. Ohne einen solchen Grundkonsens und ohne Sorge um die sozialen Nöte ist aber diese Auseinandersetzung nicht zu gewinnen.
Auf jeden Fall bedarf es der Bereitschaft zur Kooperation, um gemeinsame Projekte auch durchzuführen. Eine gemeinsame Freihandelszone, der Aufbau von Infrastruktur, anti-terroristische Kooperationen – all das setzt voraus, dass die Länder auch untereinander zur Zusammenarbeit bereit sind.
Eines der großen Themen der gesamten Region ist zum Beispiel die Wasserversorgung. Sie ist derzeit sehr unterschiedlich, und um einigermaßen mehr Gerechtigkeit und Gleichheit herzustellen, ist die Zusammenarbeit der Länder absolut notwendig. Das betrifft auch die Umwelt. Auch sie hat unmittelbaren Einfluss darauf, ob die Wirtschaft Investitionen anlocken kann und fähig ist, den Tourismus zu entwickeln. Aber auch für die Landwirtschaft ist die Umwelt eine entscheidende Frage.

Nachhaltigkeit ist gefragt

So meine ich insgesamt, dass die Integration in all diesen Ländern und die Weltwirtschaft, individuelle Anstrengungen seitens der Länder fordert. Sie erfordert regionale Anstrengungen der Länder untereinander, miteinander, aber auch die europäische Dimension, die mehr ist, als das, was wir bisher angeboten haben. Wir müssen eine nachhaltige Mittelmeerassoziation anbieten, die eine tragfähige, möglichst gleichberechtigte Zusammenarbeit dieser Länder in dieser Region in Gang setzen kann. Und zwar mit noch fixeren Strukturen, als das derzeit der Fall ist. 
Istanbul, 1.3.2002