Israelische Willkür

Das Apartheidsystem, das Israel aufbaut, ist Schritt auf Tritt sichtbar und spürbar.
Einsteigen, aussteigen, einsteigen und wieder aussteigen aus unserem Autobus – diese Tätigkeit beschäftigte uns mehr als sechs Stunden. Freiwillig und doch erzwungen gaben wir uns dieser abendfüllenden Beschäftigung hin.

Strassensperre

Wir befanden uns in Gaza, genauer in Khan Younnis. Die Israelis (hier sind im Folgenden immer die Regierung und das Militär gemeint, die allerdings mit augenscheinlich breiter Unterstützung der israelisch-jüdischen Bevölkerung agieren), hatten sich wieder einen Teil des südlichen Gaza geholt, zur Unterstützung einiger Siedler. Die Küstenstrasse wurde abgesperrt. Eine eigene Hochstrasse verbindet die israelischen Siedlungsgebiete, und die Palästinenser bzw. alle anderen müssen eine enge Umfahrungsstrasse der „geheiligten israelischen“ Erde benützen. Wenn es den israelischen Militärs – die sich zumeist in gesichtslosen Bunkern verschanzen – gerade gefällt, wird die Strasse an den Checkpoints gesperrt und die Durchfahrt verhindert: für eine Stunde, für zwei, oder wie in unserem Fall – der bei weitem keine Ausnahme darstellt – für über sechs Stunden. In der Gegenrichtung gab es einige Bewegung, die meisten konnten den Kontrollpunkt allerdings nur zu Fuß passieren.

Irgendein Sicherheitsargument findet sich immer. So schwerwiegend kann es aber nicht gewesen sein: nach den verstrichenen sechs Stunden wurden alle noch Wartenden, die nicht aus Verzweiflung aufgegeben hatten, ohne weitere Kontrollen durchgelassen…

Kärgliches Mahl

Gestoppt wurde der Verkehr ziemlich genau bei Sonnenuntergang. Es war noch Ramadan, und damit jener Zeitpunkt, zu dem die Muslime etwas essen und trinken dürfen, aus religiösen Gründen geradezu essen müssen, nachdem sie seit Sonnenaufgang nichts zu sich nehmen durften. Als sie bemerkten, dass nichts mehr weiterging und sie jedenfalls nicht mehr rechtzeitig zu ihren Familien kommen würden, um die gemeinsame Mahlzeit einzunehmen, versorgten sie sich gegenseitig mit Keksen und Wasser. Wir steuerten schließlich noch Datteln und getrocknete Feigen zu diesem abendlichen „Mahl“ bei. Ich persönlich war von der Ruhe und Gelassenheit der Palästinenser extrem überrascht und berührt. Viele von ihnen warteten an dieser Stelle sicher nicht zum ersten Mal.

Solidarität

Wenn sich die aus ihren Autos aussteigenden Palästinenser, gemeinsam mit einigen von uns, zu sehr der Grenze näherten, wurden sie durch Lautsprecherstimmen schroff aufgefordert, wieder zurückzugehen.
Nur die Vorsitzende unserer Delegation konnte sich mühsam – und nach telefonischer Vorankündigung über fünf Ecken – zu einem israelischen Offizier durcharbeiten. Wir, die Parlamentarier und die anderen Ausländer, hätten vielleicht sogar passieren können. Aber erstens war unser Autobus von den anderen wartenden Autos total eingekeilt. Zweitens hätten unseren palästinensischen Begleiter, insbesondere ein Mitglied des palästinensischen Parlaments, nicht mit uns kommen können. Und drittens wollten wir uns mit den Einheimischen, die darauf warten mussten, von einem Ort ihres Heimatlandes an einen anderen zu gelangen, von ihrem Arbeitsplatz in Gaza zu ihrem Wohnort in Gaza zu kommen, solidarisch zeigen.

Kein Naturereignis hat sie aufgehalten und keine Massenkarambolage. Hunderttausende, zumeist arme und arbeitslose Menschen werden drangsaliert, in ihrem Leben grob beeinträchtigt, als Menschen zweiter Klasse behandelt – nur um einigen wenigen Tausenden, die sich einbilden, das Land gehöre ihnen, ein angenehmes Leben zu garantieren. Ich würde mich jedenfalls nicht wohl dabei fühlen, meinen Wohlstand hinter Stacheldraht, vom Militär beschützt, zu geniessen. In der Gewissheit, dass mich die anderen hassen müssen – jene Mehrheit, der ich das Land geraubt habe, deren Häuser zerstört und deren Bäume ausgerissen wurden, damit sich dahinter nur ja keine Terroristen verstecken können.

Aus all diesen Gründen wollten wir den geknechteten und gedemütigten Menschen unsere stille Solidarität signalisieren. Wir stiegen in den Autobus ein, wenn uns kalt wurde oder wir Anzeichen sahen, dass es weitergehen würde. Wir stiegen wieder aus, wenn sich diese Anzeichen als trügerisch erwiesen, wir uns im Bus gewärmt hatten oder Tee trinken wollten, der in Windeseile von einigen Händlern an die Wartenden verkauft wurden, als sich die Blockade herumgesprochen hatte.

Bewundernswerte Zivilcourage

Uns blieb zugleich Zeit, den heutigen Tag Revue passieren zu lassen. Die Einreise von Israel nach Gaza ist relativ unkompliziert verlaufen. Wir mussten zwar den Bus wechseln, aber ein Offizier, der in New York studiert hatte, erledigte die notwendigen Formalitäten schnell für uns. In Gaza City trafen wir den stellvertretenden Präsidenten des Legislativrates, also des Parlamentes, sowie einiger seiner Kollegen. Einer von ihnen begleitete uns nach Khan Younnis in den Süden. Er war mehrmals von den Israelis verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, gefoltert und deportiert worden. Seiner Frau erging es ähnlich, sie verbrachte sogar mehrere Monate mit ihrem Baby im Gefängnis.

Dennoch hat sich dieser Mann mit großer Vehemenz – auch in der palästinensischen Öffentlichkeit – gegen den blinden Terrorismus, vor allem gegen die Selbstmordattentate ausgesprochen. Wenn man sieht, mit welcher Gewalt, mit welchem Terror die israelische Regierung gegen die palästinensische Bevölkerung vorgeht, auch gegen viele Unschuldige, dann bedarf es schon besonderen Mutes und außerordentlicher Überzeugung, um einen solchen Standpunkt in dieser Umgebung zu vertreten.

Israelisches Apartheidsystem

In Khan Younnis haben wir gesehen, wie viele palästinensische Häuser zerstört wurden, wie die einheimische Bevölkerung von ihren Feldern abgeschnitten wurde, wie eine hohe Mauer zur Sicherung einiger weniger israelischer Siedler gebaut wurde. Leider ist dies kein Einzelfall. Das Apartheidsystem, das Israel aufbaut, ist Schritt auf Tritt sichtbar und spürbar. Wie soll unter diesen Umständen Frieden entstehen???

Sicher nicht durch Selbstmordattentate. Aber auch nicht durch eine immer krasser werdende Besetzung der palästinensischen Gebiete durch Israel. Dieser zum Teil immer enger werdende Würgegriff mag kurze Zeit Befriedigung in Israel schaffen. Langfristig jedoch schadet er dem israelischen Volk, schon allein aufgrund der hohen Geburtenrate der Palästinenser.

Wut und Unverständnis

Ein letztes Mal stiegen wir in unseren Bus. Plötzlich, 15 Minuten, nachdem etliche Schüsse zu hören waren, konnten alle, die von Wartenden noch übrig geblieben waren, losfahren. So wie uns kein Grund für das Anhalten genannt worden war, so wurde auch jetzt kein Argument für das plötzliche Losfahren geliefert.

Wir waren froh und deprimiert zugleich, als wir um drei Uhr früh in unser Hotel „American Colony“ in Ostjerusalem ankamen. Nicht das lange Warten, nicht das oftmalige Ein- und Aussteigen haben mich enerviert, sondern das Bewusstsein, dass solche Tage für viele Menschen hier zum täglichen Los gehören. 
Gaza/Jerusalem, 1.12.2002