Jugoslawien hat einen neuen Präsidenten

Mit dem Umsturz wurde Jugoslawien nicht nur ein neuer Präsident beschert, sondern die Weichen für Frieden und Freiheit am Balkan generell gestellt. 
Soeben haben wir in der Hotelhalle des mir schon gut bekannten Holiday Inn in Sarajevo die Vereidigung von Kostunica als neuer Präsident Jugoslawiens gefeiert. Diesem Ereignis waren turbulente Tage vorausgegangen.
Nach den Wahlen vom 24. September hat es zuerst geheißen, es müsse eine Stichwahl geben. Dann ist das Ergebnis vom obersten Gerichtshof als ungültig erklärt worden. Das wiederum hat zu massiven Demonstrationen in Belgrad geführt, die am Donnerstag die Besetzung des Parlaments in Belgrad und des staatlichen Fernsehens nach sich zogen.
Damit war das Schicksal von Milosevic schließlich entschieden. Und damit wurde Jugoslawien nicht nur ein neuer Präsident beschert, sondern die Weichen für ein neues Jugoslawien im Besonderen und für Frieden und Freiheit am Balkan generell gestellt.

Unerwarteter Umsturz

Die Demonstrationen in Belgrad erreichten ihren Höhepunkt, als wir uns gerade in Strassburg im Europäischen Parlament anschickten, mit dem EU-Beauftragten des europäischen Rates für Außen- und Sicherheitspolitik, Solana, die Entwicklungen in Jugoslawien zu diskutieren. Innerhalb von Minuten überstürzten sich die Ereignisse. Während wir uns auf eine eher nicht sehr spannende Routinediskussion vorbereiteten, kam es in Jugoslawien zu Umsturz. Und wir mussten unsere mehr oder weniger vorbereiteten Reden umbauen, um auf die aktuellen Ereignisse Rücksicht zu nehmen.
Für mich war das natürlich ein besonderes Ereignis. Ich beschäftige mich schon sei etlichen Jahren mit dem Balkan und habe seit den Zeiten der früheren Demonstrationen und der Studentenunruhen – ich glaube, es war im Jahr 1997, als ich selbst in Belgrad dabei war – mit vielen Oppositionsführern Kontakt. Dass der Umsturz schließlich doch so schnell kam, war für mich eigentlich überraschend. Hätte man vorausgesagt, dass Serbien in Kürze selbst einen neuen Weg gehen, dass wieder ein Jugoslawien in den gegenwärtigen Grenzen entstehen kann, mit Montenegro als Partner und in einiger Zeit auch mit dem Kosovo, als Partner in einer Föderation, hätte ich es nicht geglaubt.

Das schwarze Loch muss gefüllt werden

Jedenfalls könnte der Balkan jetzt einen neuen Aufschwung nehmen, damit das schwarze Loch, wie Jugoslawien in letzter Zeit immer wieder genannt wird, beseitigt bzw. gefüllt wird – hoffentlich mit Demokratie, Respekt vor den Menschenrechten, vor den Rechten der Minderheiten und den europäischen Werte, um diesen viel zitierten Begriff auch hier zu erwähnen. Gerade in den vergangen Tagen haben wir wieder heftige Diskussionen über die Grundrechtscharta gehabt. Letzten Montag ist sie vom Konvent verabschiedet worden, und aus meiner Sicht bietet diese Grundrechtscharta eine gewisse Orientierungshilfe in Richtung Demokratie und Toleranz.

Stabilitätspakt und Menschenrechte

Wir sind in Sarajevo, um hier im Rahmen eines Seminars der Europäischen Sozialdemokraten nicht nur den sozialdemokratischen Vorsitzenden von Bosnien-Herzegowina zu treffen, einen der wenigen fortschrittlich vorwärtsblickenden Parteivorsitzenden, der eine Partei leitet, die mehreren ethnischen Gruppen offen steht. Sondern auch, weil wir die Entwicklungen des Stabilitätspaktes gerade im Zusammenhang mit den Menschenrechten diskutieren wollen.
Natürlich haben wir auch die serbischen Vertreter, die von den hektischen und spannenden Zeiten in Belgrad zu uns gekommen sind, gebeten, uns von den Ereignissen in Belgrad zu berichten. Sie selber wussten nicht, wie es dazu kam. Und auch sie waren überrascht, dass es schließlich doch so schnell zum Einsturz kam. Als sie allerdings gesehen haben, dass es am Wahltag nicht sofort zur Ausrufung des Wahlsieges von Milosevic gekommen ist, sondern für den zweitgereihten Kandidaten die Stichwahl festgelegt wurde, dämmerte es einigen, dass sich etwas ändern kann und das Regime zu schwach ist, um mit einer totalen Lüge die Realität umzudrehen.
Ihnen allen ist bewusst, dass lediglich ein Anfang gemacht worden ist. Kostunica ist keineswegs der nur ethnisch denkende, wahre fortschrittliche Politiker. Er ist ein „Nationalist“. Aber jeder hofft, dass er die Buchstaben des Gesetzes nicht nur kennt, sondern auch einhält. Es wird jedenfalls nicht leicht sein, nach dieser kurzen unblutigen Revolution die Dinge in Serbien und Restjugoslawien auf einen neuen Kurs zu bringen. Genügend Politiker vom alten Regime und auch in der Opposition haben noch nicht erkannt, worum es geht. Denn wenn nicht der Nationalismus, die ethnische Orientierung immer stärker durch eine sachorientierte Politik und das Bekenntnis zum Staat und zu Europa ersetzt werden, ist eine wichtige Grundbedingung für wirkliche Reformen nicht erfüllt.

Annäherung zwischen Serbien und Montenegro

Im Rahmen des Seminars der Europäischen Sozialdemokraten trafen wir auch Ministerpräsident Dodik der Republik Sripska, der aus seiner Sicht zur Zukunft der Sozialdemokratie auf dem Balkan referierte. Er vertrat alle Grundwerte der Sozialdemokratie, der Toleranz zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen, allerdings meinte er, und das kenne ich nun schon von sehr vielen Gesprächen mit ihm, die Zeit sei noch nicht reif, um das alles durchzusetzen. Vor allem die Extremisten machen es aus seiner Sicht unmöglich, heute diesen Weg der gegenseitigen Toleranz und Förderung sowie der Multiethnizität zu gehen.
Nach ihm diskutierten wir noch mit den Vertretern Montenegros, die uns ihrerseits ihre Position darlegten, wobei der von mir sehr geschätzte stellvertretende Ministerpräsident Bursan, der Spitzenvertreter der Sozialdemokratie in Montenegro, eine sehr vernünftige Position einnahm. Die Sozialdemokratie ist ja die Partei, die am stärksten für die Unabhängigkeit Montenegros eingetreten ist. Aber auch er meinte, jetzt sei die Phase des Dialogs, des Gesprächs gekommen und nicht die der unmittelbaren einseitigen Schritte seitens Montenegro.
Wir bekamen Hoffnung, natürlich auch durch die Wahl Kostunicas zum neuen Präsident, dass diese Veränderungen die Basis für ein neues Verständnis zwischen Belgrad und Podgorica, zwischen Serbien und Montenegro sein können. Dass eine ähnliche Entwicklung mit dem Kosovo nicht so kurzfristig möglich sein wird, ist allen bewusst. Aber allein eine friedliche Lösung des Konflikts zwischen Montenegro und Serbien würde schon einen wesentlichen Schritt nach vorne bedeuten.

Aufbau eines multiethnischen Bosnien

Zu Mittag trafen wir Wolfgang Petritsch mit seiner Frau und dem von ihnen adoptierten montenegrinischen Nikola, einem eineinhalbjährigen blonden Kind aus einem Heim in Montenegro, dem das ungeheure Glück zugefallen ist, von einer im Verhältnis zu seiner Herkunft wohlhabenden, modernen, aufgeschlossenen und mit Liebe versehenen Familie aufgenommen zu werden.
Das Gespräch mit Wolfgang Petritsch zeigte wieder einmal seine klare politische Linie: seine Aufgeschlossenheit gegenüber der Region, aber seine strenge und unnachgiebige Haltung, was die Frage des Aufbaus eines multiethnischen gemeinsamen Bosniens betrifft. Natürlich wird er von verschiedenen ethnischen Gruppen, insbesondere von den Bosniaken und den Kroaten, aber auch von den Serben, letztendlich von allen ethnischen Gruppen für seine eindeutige Haltung kritisiert.
Noch immer ist es so, dass sich in vielen Fällen niemand traut, wirklich jene Maßnahmen durchzusetzen, die für ein gemeinsames Bosnien notwendig sind. So musste Petritsch per Dekret den gemeinsamen bosnischen Pass, insbesondere in der Republik Srpska, durchsetzen, obwohl sogar eine Mehrheit der Bevölkerung für einen gemeinsamen Pass war, da vielen klar ist, dass ein Pass der Republik Srpska sie nicht sehr viel weiter bringt und ihnen vor allem nicht sehr viel Sympathie und Wohlverhalten einbringt.

Der Besuch in Sarajevo hat jedenfalls gezeigt, dass ein Stück des Weges nach vorne gegangen wurde. Die vielen jungen Menschen auf den Straßen, die inzwischen schon zahlreichen reparierten oder renovierten Häuser sind ein deutliches Zeichen dafür. Aber der Aufenthalt hat auch einem sehr guten Gespräch mit Freunden und Bekannten aus der gesamten Region gedient.  
Sarajevo, 7.10.2000